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nach anderswo
„Die nehmen wieder einen mit.“
Anja hat mich gar nicht gehört, sie ist im Bad, den Medizinschrank ausräumen. Ich kann sie mit den Fläschchen und Döschen klappern hören, in denen sie unsere Jugend aufbewahrt; statt Geburtstagen feiern wir die Mittel, die sie überflüssig machen.
Draußen regnet es in Strömen, auf beiden Seiten der Straße haben sich kleine Rinnsale gebildet, Miniaturkanäle, in denen das Regenwasser vermutlich irgendwohin geleitet wird, wohin weiß ich auch nicht, vielleicht in die Wüste, hier kann es jedenfalls nicht bleiben.
„Hast du gehört?“, rufe ich. „Die nehmen wieder einen mit.“
Aus dem Badezimmer kommt Anjas genervte Stimme: „Wie willst du das denn von hier oben sehen?“
Einen Moment lang ist es still, ich lege das Ohr an die Fensterscheibe und prüfe, ob man den Regen hören kann. Aber da ist nichts, kein Regengeräusch, nichts. Dann höre ich Schritte und Anja erscheint in der Badezimmertür, den Karton mit dem Inhalt des Medizinschränkchens unterm Arm.
„Die haben kein Blaulicht an. Außerdem scheinen sie es nicht gerade eilig zu haben.“
Anja zuckt die Schultern, und bevor einer von uns den Mund aufmachen kann, ist bereits alles gesagt. Der dritte Todesfall in diesem Monat. Auf einmal sterben sie alle, der Reihe nach. Als wäre das was Ansteckendes, das Sterben. Vielleicht liegt es ja am Wetter. Oder am Fernsehprogramm: Sie sterben, weil sie nichts besseres zu tun haben und es auch im Fernsehen nichts zu verpassen gibt. Sie sterben aus Langeweile. An Langeweile.
Anja hat es von Anfang an gestunken, so nah an einem Altersheim zu wohnen. Die dicken Gardinen waren ihre Idee, und von ihr kam auch der Vorschlag, den Balkon nur noch als Abstellkammer zu benutzen. Die schalldämpfenden Fensterscheiben hingegen waren schon eingebaut, bevor wir eingezogen sind. Anfangs hatten wir die Fenster in der Nacht geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Meistens war es still, aber manchmal hörten wir Geräusche. Schreie oder ein Weinen oder die lauten Stimmen der Pfleger, die auf irgendwen einredeten.
Irgendwann schliefen wir dann bei geschlossenen Fenstern, auch wenn wir wie die Hunde schwitzten.
Anja stellt den Karton zu den anderen. „Weißt du noch, in welche Kiste wir die Teller getan haben?“
Gleich wird sich die große Schiebetüre öffnen, man wird zwei Männer mit orangenen Westen sehen, sie werden eine Bahre tragen und auf der Bahre wird jemand liegen, dem es inzwischen egal sein wird, dass seine Füße als einzige trocken geblieben sind.
Weiter oben tauchen Gesichter an den Fenstern auf. Der Blick da hinüber ist wie der in einen höhnischen Spiegel, der dir dein Spiegelbild in fünfzig Jahren zeigt. Es ist deprimierend, wirklich deprimierend. Man kann das Gesicht verziehen wie man will, kann ihnen die Zunge herausstrecken oder den Mittelfinger hinhalten – ihr Gesichtsausdruck bleibt immer gleich, sie zeigen keine Reaktion, als wären sie jetzt schon tot und ausgestopft und nur zur Abschreckung dort an den Fenstern. Um die Vögel zu verscheuchen, oder sonstwen.
„Glaubst du, die sehen uns überhaupt? Können die überhaupt noch so weit sehen?“
Anja hat mich wieder nicht gehört, sie ist damit beschäftigt, die Deckel der Kisten zu beschriften. Geschirr, schreibt sie mit ihrem dicken Filzstift, Weingläser, Sektgläser, etc.
Ohne weiter auf sie oder das, was sie tut, zu achten, fahre ich fort: „Ich glaube das nämlich nicht. Ich schätze, ihre Sehkraft reicht gerade noch zum Fernsehen. Das nennt man dann Anpassungsfähigkeit im Alter.“
„Wir müssen den Schrank wohl dalassen, du hast ja selbst gesehen, die neue Wohnung ist nicht so groß wie die hier.“ Ich strecke die Arme aus, wie um zu zeigen, dass die Wohnung nicht einmal dafür groß genug ist. Anja macht ein Gesicht, als wäre ich an all dem Schuld. Dabei war sie es, die auf der kleineren Wohnung bestand. Das Geld, hieß es immer, denk doch an das Geld, wieviel wir da sparen.
Aber ich denke doch schon jetzt an gar nichts anderes mehr. Denkt man zulange an Geld, brennt sich der Gedanke ein wie ein zu lang gezeigtes Bild in einen Monitor. „Und die alten Säcke da drüben grinsen sich eins ab, in ihren Dreißigquadratmeter-Apartments.“
Wieder recke ich den Mittelfinger in Richtung Altenheim, aber dann kommt Anja und legt mir die Hand auf die Schulter und ich beruhige mich. „Lass das doch, bringt eh nichts.“
„Den Sessel lassen wir besser auch da.“ Ich sehe Anja zu, wie sie die Kartons füllt, mit Fotoalben und Cds und Bettvorlegern. Sie packt unser ganzes Leben in Kartons. Es passt mühelos da rein, in die paar Kisten, man muss nichtmal stopfen.
Genau wie die Umzugskisten auch, lässt sich unser Leben leicht zusammenfalten, eine tolle Sache, es ist so flach, dass es unter jeden Teppich passt.
Die Hecktüren des Krankenwagens stehen weit offen, aber ich kann keinen Pfleger in der Nähe sehen, vielleicht hat der Wind sie aufgeweht. Die schweren, mit Wasser vollgesogenen Blätter der Ahornbäume klatschen auf das Dach des Krankenwagens, als wollten sie ihn am Wegfahren hindern. Ich lege meine Hand an die Fensterscheibe, stelle mir vor, den Regen fühlen zu können, nachdem ich ihn doch schon nicht hören kann. Zu Anja, die hinter mir Untertassen in Papier einwickelt, sage ich: „Die da drüben ziehen nur noch einmal um, darauf kannst du dich verlassen. Und da müssen sie sich nichtmal selbst drum kümmern.“ Und dann etwas leiser: „Ich mag das Geräusch, das der Regen macht. Besonders, wenn man es nicht hört. Ich denke dann immer an -“
„Schnee“, flüstert Anja.
„Genau“, sage ich. Schnee. Regen, der so sehr friert, dass er vergisst, ein Geräusch zu machen.
Gemeinsam falten wir einen riesengroßen Karton zusammen. Erst war er ganz flach und jetzt wird er immer größer, es ist schon komisch, das hört gar nicht mehr auf. „Hoffentlich passt der durch die Tür.“
Anja hat mich wieder nicht gehört, sie starrt reglos auf die Faltanleitung in ihrem Schoß, ist irgendwie in Gedanken versunken. Nach einer Weile, als hätte ich einen Knopf an ihrem Rücken gedrückt, hebt sie den Kopf und sieht mich fragend an. „Werden wir das überhaupt vermissen? Ich meine, das alles hier.“ Ich zucke die Schultern, zum Zeichen, dass ich nicht verstehe, was sie nun schon wieder meint. „Warum fragst du sowas?“
„Gestern abend, auf dem Heimweg, da fiel mir plötzlich ein, dass ich das alles wahrscheinlich zum letzten Mal gesehen habe, die ganzen Häuser und so. Und da sah ich dann auf einmal Sachen, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen sind. Die Webcam am Rathaus zum Beispiel, ein ganz kleines Ding, aber die ganze Welt schaut uns dadurch zu, oder zumindest der Teil, der nichts besseres zu tun hat. Und da bin ich stehengeblieben und hab gewunken, einfach so. Ich weiß auch nicht. Als wollte ich allen Leuten da draußen zeigen, was für eine tolle Stadt das hier ist. Als wäre mir das wichtig, was die Leute von der Stadt halten.“
„Und weiter?“, sage ich. Aber da kommt nichts mehr, und das weiß ich.
Erst als wir alles sicher verstaut haben, meint sie mit einem Blick auf die Uhr: „Die Packer müssen jeden Moment da sein, ich habe sie für elf Uhr hierher bestellt.“
Der große Karton steht fertig gefaltet im Flur. Er geht gerade so durch die Tür, wir haben nachgemessen. Wenn ich davorstehe, reicht er mir bis zum Kinn, er ist wirklich groß. Die Wände des Kartons sind unbeschriftet, die Packer wissen schon Bescheid.
Anja runzelt die Stirn. "Glaubst du, die schaffen das?"
Ich muss lächeln: "Wir sind doch schlank. Zwei Idealgewichte."
Anja steigt zuerst hinein. Ich helfe ihr über den Rand, indem ich sie auf meine Schultern klettern lasse. Sie ist nicht schwer, das ist kein Problem für mich. Vom Rand lässt sie sich einfach auf den Boden gleiten. Dann folge ich ihr nach, ich greife nach der oberen Kante und suche mit den Füßen nach Halt an der Außenwand des Kartons. Anja packt von innen meinen Arm und zieht mich über die Kante. Anja ist stark, aber auch sie keucht und ist erschöpft, als wir endlich beide auf dem Kartonboden hocken. Ich richte mich noch einmal auf und schließe den Deckel über unseren Köpfen. Ich komme mir dabei vor wie jemand, der den Himmel zuklappt.
Im Karton ist es ziemlich dunkel, nur durch die Halteschlitze fällt noch etwas Tageslicht ins Innere. Wir hören uns gegenseitig atmen, das sind die einzigen Geräusche. Spasshalber halte ich die Luft an. Fünf Sekunden, zehn Sekunden. „Wo bist du?“, fragt Anja. „Bist du tot?“
Ich pruste los, und dann lachen wir beide, im Dunkeln, wie es sonst nur sehr schüchterne oder ängstliche oder blinde Menschen tun.
Und dann hören wir auf zu lachen und schweigen und tasten nach der Hand des anderen und warten darauf, dass wir die Schritte der Packer auf den Treppenstufen hören, die uns forttragen werden, irgendwohin, an einen anderen Ort, wo es uns hoffentlich besser gefällt als hier.
Derweil freuen wir uns über unsere Umgebung. Menschen in Kisten. Jener ideale Zustand.