Nach unten
Nach Unten
Der Abgrund. Direkt davor stehe ich. Was sich unten befindet, sehe ich nicht, erkenne überhaupt nichts. Ein harter Stoß in den Rücken. Zwischen den Schulterblättern, nein – tiefer. Mittig, zielgenau auf dieselbe, jetzt wieder heftiger schmerzende Stelle.Die Teufel. Sie sind hier. Drei von denen!
Mein Körper. Stolpere nach vorn, falle nach unten, stürze ab, ungebremst. Wie ein Vogel ohne Flügel. Wie ein abgeschossener Flieger. Ich zittere. Vor Angst. Und weil ich friere, sehr kalt, frostig, bin barfuß. Meine schwarze lange Hose flattert. Wie im Windkanal. Ebenso die Sommerjacke mit dem Kennschild. Auch sie ist schwarz Das Schild selber ist weiß, mit schwarzer Schrift und meinem eingefügten Passfoto. Fest angepresst an der Hosennaht sind meine Hände. Vorschriftgemäß. Die Mütze auf meinem Kopf fehlt. Nicht vorschrifts-gemäß! Das gibt Ärger.
Meine Haut. Milchig-weiß-graue Flocken erkenne ich verschwommen. Sie kratzen und schaben auf meiner Haut. Mein Gesicht ist heiß. Die Haut brennt – wie zerschreddert mit grober Schmirgelwatte, die aus milchig-weißgrauen Flocken besteht. Wund und blutig. Überall. An Gliedmaßen, Brust und Unterleib. Po und Rücken. Ein dauerndes Drücken, Schaben und Schlagen. Überall. Immerzu. Nicht so brutal wie sonst. Die Häufigkeit macht es. Gefühlt tausendmal und tausend Stunden. Bin vielleicht schon daran gewöhnt. Gestern, vorgestern. Und davor.
Meine Augen. Die sind zu, noch geschlossen, jetzt vorsichtig öffnend. Die kratzenden milchig-weiß-grauen Flocken drücken auf die Augäpfel, versperren den Blick. Es schmerzt. Erkennen kann ich nichts. Augenlider und Wimpern spüre ich nicht. Kann sie nicht bewegen.
Meine Hände. Die darf und will ich nicht bewegen. Jedem Bewegen folgt ein Stoß zwischen die Schulterblätter. Ein heftiger, immer auf dieselbe Stelle. Unbedingt genau auf die Stelle, die sowieso schon höllisch schmerzt. Etwas unterhalb der Schulterblätter. Mittig. Jedes Mal gut gezielt.
Die Luft. Ich schnappe danach, bekomme zu wenig davon. Ersticke ich?
Meine Tränen. Kitzeln meine Wange. Nur anfangs. Dann saugt die milchig-weiß-grau-flockige Schmirgelwatte sie auf.
Die Leere. Die Flocken um mich herum fallen nach oben. Oder stürze ich? In ein tiefschwarzes Nichts? Leere um mich herum. Und in mir. Ich spüre nichts. Schließe meine Augen wieder. Unendliche Ruhe. Unendlich? Sanft und ewig? Nicht ewig. Das Schmirgeln wird schwächer. Ich öffne die Augen. Kaum noch Flocken, die immer noch hochfliegen. Oder ich nach unten. In die Tiefe, die nicht mehr ganz so tiefschwarze Tiefe.
Die Teufel. Sie sind weg. Alle drei!
Das Bewegen. Jetzt darf, kann und tue ich es. Und falle noch immer, tiefer und tiefer. Wohin? Ich strecke meine Arme lang nach vorne, dann über meinen Kopf. Und bewege die Handflächen, die linke nach hinten, die rechte nach vorn. Mein Körper dreht sich um die Längsachse. Rechtsherum wie ein Korkenzieher in eine Weinflasche. Fehlt bloß noch die Flasche Wein. Unbedingt mit Echtkorken.
Das Fliegen. Ich öffne meine Jacke, breite sie auseinander wie Flügel. Fühle mich wie ein Engel. Mache mehrere Saltos. Fliege nach links und nach links, quer durch die Flocken.
Meine Angst. Irgendwann, irgendwie, irgendwo muss ich ankommen. Unten. Ob ich den Aufprall spüre? Gruselige Furcht. Grausame Vorahnung. Spannende Erwartung. Irgendwie interessant.
Das Ende? Was erwartet mich? Das ewige Nichts? Das kann nicht sein, darf nicht sein!
Das Licht. Die Wärme. Von tief unten kommt ein heller Schein. Wird heller und heller, leuchtet immer klarer. Weiß-warme Strahlen. Die milchig-weiß-grauen Flocken sind nicht grau. Jetzt erkenne ich – sie sind milchig klar, dann strahlend weiß. Schneeweiß. Ich freue mich. Auf das Schöne. Kalt ist mir nicht mehr. Sondern angenehm hochsommerlich warm. Schön wäre jetzt eine Abkühlung.
Das Wasser. Kalte Nässe. Ich tauche unter. Bekomme keine Luft. Ertrinke. Gut, muss wohl so sein. Werde hochgezogen. Gerettet?
Die Stimmen. Sind sehr laut. Ich verstehe nichts, habe die Ohren voll Wasser, öffne die Augen. Drei Augenpaare strahlen mich an. Sie halten Erziehungsstöcke in den Händen und freuen sich.
Weil ich lebe. Noch lebe! Noch lange?
Die Teufel. Die drei sind da. Noch lange!
- Quellenangaben
- keine