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Nachbarschaftshilfe

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04.08.2001
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Nachbarschaftshilfe

Als meine Mutter starb, zog ich in eine kleinere Wohnung. Mein Bruder war schon vor Langem in Richtung Amerika ausgewandert, sodass niemand mehr da war, auf den ich hätte Rücksicht nehmen müssen.
Das Haus war ein großes, graues Gebäude, mindestens hundert Jahre alt, in einer ruhigen Umgebung gelegen. Unfreundlich, aber ruhig. Es kümmerte niemanden, ob ich hier wohnte oder nicht; zu der Ruhe kam die Anonymität der Gegend.
Im Haus war mir niemand bekannt, ich gab mir auch keine Mühe, jemandem näher zu kommen. Wenn ich das hohe, dunkle Treppenhaus hinab ging, herrschte abweisende Leere, und bis auf die Putzfrau sah ich selten jemanden hinauf- oder hinuntersteigen. Die Aufwartefrau allerdings sah ich jedes Mal. Ich konnte gewiss sein, dass sie immer irgendwo auf Knien und in sich gekehrt wie ein mürrischer Käfer den Boden schrubbte und mit keiner Regung auf mich reagierte.
Ich hatte meine Arbeit in einer Schneiderei, auch wenn sie eintönig war. Schulden drückten mich nicht, denn Mutter hatte mir einiges vererbt, sodass ich nicht unbedingt auf jeden Pfennig schauen musste, obwohl die Vergütung in der Schneiderei ein Hungerlohn war.
Ich kannte keine Freunde, aber dafür einen geregelten Tagesablauf. Wenn ihn etwas durcheinander zu bringen drohte, war ich stets in der Lage, diesen Felsen zu umschiffen und mein Boot in ein ruhigeres Wasser zu bringen.
Eine Person aus dem Haus lernte ich doch etwas näher kennen, obwohl ich eigentlich keinen Wert darauf legte. Es war ein alter Mann, und zu Anfang wusste ich nicht einmal, in welcher Etage er wohnte. Wir trafen uns vor dem Haus, die Straße unter den Kastanienbäumen war wie ausgestorben. Er war klein und ging gebeugt, und das erste, was einem an ihm auffiel, waren mehrere dicke Beulen, die sich an seinem Hals ausgebreitet hatten. Es waren eher noch Beutel, kleine Fleischsäckchen, die unterhalb seines Kinnes herabhingen und bei jeder Bewegung des Kopfes wippten, als enthielten sie Leben.
Ich sprach ihn nicht darauf an, spürte aber sehr wohl, wie ich bei jeder unserer Begegnungen auf diese Gebilde starren musste und mich instinktiv fragte, was sie waren. Was sie enthielten. Denn dass sie einfach überflüssige Eiterbeulen waren, schien ausgeschlossen angesichts ihrer schieren Größe.
Doch der alte Mann schien von der Existenz dieser Beulen gar nichts zu wissen. Zumindest verhielt er sich völlig unbefangen und tat so, als bemerke er meine morbide Neugierde nicht.
Wir trafen uns öfter im Treppenflur.
Der Mann war eigenartig. Einerseits schien er ein großes Interesse an meiner Person zu haben. Es verging keine Begegnung zwischen uns beiden, in der er mich nicht in ein – meist belangloses – Gespräch verwickelte und kaum Anstalten machte, mich daraus entlassen zu wollen. Auf der anderen Seite spürte ich bei diesen Gesprächen mehr als einmal, wie er mich mit scheelem Blick musterte, abwartend mit seinen trüben Augen, von unten, lauernd gar. Es waren dies immer Bruchteile von Sekunden und fast stets kam das Gespräch ins Stocken, wenn ich darauf aufmerksam wurde. Mit schiefem Grinsen überspielte der alte Mann dann diese kleinen Dissonanzen, machte einen merkwürdigen Witz oder schnitt ein völlig neues Thema an.
Er schien in seiner kleinen Wohnung unter der meinen allein zu leben. Wegen seiner Geselligkeit mir gegenüber hätte ich angenommen, dass er ein Haustier halten würde. Einen Vogel vielleicht oder einen kleinen Hund, der ihm die Einsamkeit mit bloßer Anwesenheit vertriebe. Doch obwohl ich niemals in meinem Leben seine Wohnung betrat und wir in unseren Gesprächen dieses Thema auch nicht anschnitten, wusste ich doch allein aus seiner Art heraus, dass er kein anderes Wesen neben sich dulden würde. Und dass es auch keine Kreatur gäbe, die es länger als für eine kurze Unterhaltung mit ihm aushielte.
Deshalb kam es mir merkwürdig vor, dass er sich gerade mit mir abgab, war ich doch im Grunde dieselbe Art Mensch wie er, introvertiert und nicht erpicht auf die Gesellschaft anderer.
Täglich ging ich meiner Arbeit nach. Ich stieg die stillen Treppen hinab, vorbei an der Putzfrau, die meinen zögerlichen Gruß nicht einmal mit einem Kopfnicken erwiderte, trabte die einsame Straße hinunter und hinaus in die Stadt. Und am Abend dieselbe Route zurück. Im Schatten der kräftigen Kastanien auf das Haus zu und am Eingang schien er auf mich zu warten, um sein kleines Schwätzchen mit mir zu halten.
„Na, die Arbeit vollbracht?“
Mit solchen Allgemeinplätzen begann er meist und die seltsamen Fleischsäcke waberten im Takt der Worte. Und ich musste wieder darauf starren und ganz sicher bemerkte er es. Aber er sprach nach kurzem Zögern weiter, und ich meinte, wieder dieses Lächeln auf seinem Mund zu sehen.
Obwohl es mich natürlich interessierte, wagte ich nicht, ihn auf seine Krankheit anzusprechen; die seltsamen Beulen faszinierten mich sehr.
Drei waren es an der Zahl, zwei kleinere auf der rechten Seite des Halses unter dem Kinn und eine, die sich links befand und die Größe einer Faust hatte und dazu eine leicht bläuliche Färbung aufwies. Wenn er den Kopf bewegte oder wenn er schnell sprach, was selten vorkam, vibrierte die Haut über den Beulen, sie schwangen leicht hin und her.
Wie gesagt, das Gespräch kam niemals auf sein Leiden, weil ich es nicht wagte und weil er von seiner Seite auch keinen Anstoß gab. Bis auf ein einziges Mal an einem Abend, an dem ich mit einem Korb voller Sachen aus dem Waschsalon kam und die Haustüre kaum zu öffnen vermochte. Da trat er von innen heraus und ich erschrak über seinen Blick und über sein wirres Haar.
Er fuhr mich an: „Sie wollen wissen, was das hier ist?“ Und deutete auf seinen Hals. „Was da drinnen ist?“
Ich muss zugeben, dass es mich zu jedem anderen Zeitpunkt interessiert hätte, aber gerade zu diesem überhaupt nicht.
Er schleuderte mir ins Gesicht: „Ein Dämon! Ein Dämon haust da drinnen!“ Dann nahm er meinen Kopf und zerrte ihn zu sich hinunter. Er zischte in mein Ohr: „Und er quält mich!“
Dann ließ er los und besann sich. Ihm wurde wohl bewusst, welchen Unsinn er da von sich gegeben hatte, denn er fügte hinzu: „Im übertragenen Sinne.“
Ich erwiderte, nur um etwas zu sagen: „Sie müssen dagegen etwas tun! Haben Sie keinen Arzt gefunden?“
Er lachte bitter. „Niemand kann mir helfen.“ Wieder der verschlagene Blick von unten. „Aber ich suche weiter und ich werde jemanden finden, der mir hilft.“
Damit drängte er sich an mir vorbei ins Freie und humpelte davon. Ich bemerkte, dass ich den Korb mit der Wäsche gegen den Leib gepresst hielt wie einen Schild.

Irgendwann fiel mir auf, dass die Putzfrau fehlte und ich machte mir Sorgen. Der alte Mann sprach mich an: „Sie haben es auch gemerkt, nicht wahr?“ Dabei ließ er die Augen rollen und blickte sich im Treppenhaus um. Tatsächlich hatte sich eine feine Staubschicht auf alles hier gelegt, die Spuren einer mehrtägigen Verwahrlosung waren nicht zu übersehen.
„Sie ist krank“, flüsterte er. „Schon seit einigen Tagen. Habe sie zum Arzt geschickt. Hat gehustet wie ein Bergarbeiter.“
Er sagte das so, als sei sie einem elitären Club beigetreten und müsse sich der Ehre würdig erweisen. Allerdings beschränkte sich unser Gespräch zu diesem Thema auf diese wenigen Worte.
„Sie sehen übrigens auch nicht gesund aus“, sagte er plötzlich und starrte mir in die Augen. „Ihre Augen, wissen Sie …“
In der Tat hatte ich am Morgen vor dem Badezimmerspiegel festgestellt, dass beide Augen leicht gerötet waren. Ich hatte nichts darauf gegeben und es schon wieder vergessen. Er schüttelte kurz seinen Kopf und damit war – vorerst – das Thema abgelegt.
Ich vergaß die Rötung, bis der alte Mann mich einige Tage danach nochmals darauf ansprach.
Ich bin beileibe nicht der Typ, der sich übermäßig Sorgen um sich selbst zu machen pflegt, doch irgendetwas im Blick des Alten, als er zu mir sagte, dass man damit nicht spaßen sollte, ließ mich schließlich deswegen einen Arzt aufsuchen.
Nach einem gründlichen Check konnte mich der Mediziner beruhigen. Er versicherte mir, dass die Rötung vollkommen harmlose Ursachen habe und ich im Übrigen gesund wie ein Fisch sei.
Weshalb ich trotzdem nicht beruhigt war, kann ich nicht sagen.
Es dauerte auch nicht lange, dass der Alte wieder kopfschüttelnd vor mir stand und mich musterte.
„Es will nicht weggehen, was?“, fragte er mich, ohne eine Antwort zu erwarten. Er berührte einen wunden Punkt damit, denn zu der leichten Rotfärbung der Augen hatte sich ein stechender Schmerz in meiner Brust gesellt. Die Trübung der Augäpfel hatte mich irritiert, der Schmerz jetzt allerdings, der nicht nachlassen wollte, ließ, je länger er währte, Panik in mir aufkommen.
Ich ging zur Arbeit mit dem bohrenden Gedanken, dass eine unbekannte Krankheit in mir wohnte.
Und schon am Abend stand der Alte in der Haustür und präsentierte mir die Lösung.
„Hören Sie“, flüsterte er, wobei die Beulen an seinem Hals zitterten. „Ich habe nach jemandem gesucht, der mir helfen kann. Ich wette, er kann auch Ihnen helfen.“
Ohne nachzudenken und mit auf dem Fuße folgender Scham, sagte ich: „Aber er hat Ihnen doch gar nicht geholfen.“ Denn eindeutig waren die Eitersäcke noch dort, wo sie immer waren und sie schienen genauso groß.
Er stutzte. Dann erwiderte er: „Er ist dabei, mir zu helfen.“
Wir sahen einander kurze Zeit an, und beide versuchten wir zu erraten, was der andere dachte. Schließlich löste sich der alte Mann aus der Erstarrung und sagte: „Ich schicke Ihnen den Mann mal vorbei, kann ja nicht schaden.“
Damit schob er sich an mir vorüber und humpelte wieder einmal die Straße hinunter.
Dass ich ihm hinterher rief, ich wünschte es nicht, dass Fremde in meine Wohnung kämen, konnte er nicht mehr gehört haben, denn er wandte sich weder um, noch machte er sonst welche Anstalten, mir verstehen zu geben, er würde von seinem Vorhaben Abstand nehmen.
Die Arbeit wurde immer monotoner. Ich hatte nicht viel mehr zu tun, als Kleiderbündel von einer Stelle zur anderen zu tragen. Hier wurden sie dann geringfügig bearbeitet, worauf ich sie auf eine mürrische Anweisung hin zum nächsten Ort zu bringen hatte.
Abends hatte ich dann mit den Widrigkeiten des Alltags zu ringen.
Ich traf meinen Nachbarn aus der unteren Etage hin und wieder, seine Schwatzlust ließ nicht nach, und die Eiterbeutel wurden nicht kleiner. Was ich von den anderen Bewohnern des Hauses zu Gesicht bekam, waren nicht mehr als Schemen. Sie präsentierten sich mir nicht als Wesen aus Fleisch und Knochen, sondern als fliehende Schatten hinter klappenden Türen.
Es war an demselben Abend, an dem ich bemerkte, dass die Putzfrau genesen sein musste. Die Staubschicht war verschwunden und ein frischer Geruch hatte sich über den allseits gewärtigen Fäulnisgestank gelegt.
Ich war eben dabei, mir eine Tasse Tee zuzubereiten, als ich erstarrte, weil es an der Wohnungstür klingelte.
Wie gesagt, ich empfing so gut wie niemals Besuch in meiner Wohnung und schon gar keinen unangemeldeten.
Es klingelte wieder, ich stellte die Kanne beiseite und richtete mich auf. Ich war es nicht gewohnt, Personen hier drinnen zu haben, die unerwartet hereinschneiten und die ich höchstwahrscheinlich gar nicht kannte.
Mir waren höchstens eine Handvoll Menschen bekannt – und darunter war mein Nachbar, den ich neben den Anderen beinahe schon einen Freund nennen konnte.
Einzig die Vermutung, dass er es war, der da draußen klingelte, ließ mich zur Tür gehen und öffnen.
Ein riesiger Mann mit einem schwarzen Ledermantel und einem offensichtlich falschen Lächeln stand davor und sah auf mich herab. Nicht der Nachbar, dachte ich. Ein Fremder!
Er sah weiter auf mich herunter und sein Lächeln schwamm langsam davon. Seine Haare standen wie ein Busch aufwärts auf seinem Kopf.
Ich glaubte, das Recht auf meiner Seite zu haben, ihn anschweigen und eine Erklärung erwarten zu dürfen. Doch er wiederum schien der Meinung zu sein, ich müsste den Anfang machen und um eine Rechtfertigung bitten.
Schließlich sagte ich leise: “Ja?“ und das Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht – strahlender, aber nicht weniger falsch.
Mit einem plötzlichen Ruck streckte er seine riesige Hand aus, sodass man nicht anders konnte, als sie zu ergreifen. Er schüttelte sie und sagte mit knarrender Stimme und irgendeinem ausländischen Akzent: „Ich bin auf Empfäählung hier. Sie brrrauchen sich nicht zu bedankän.“
Damit schob er sich an mir vorbei in meine Wohnung.
Ich folgte ihm in mein eigenes Heim. Er benahm sich rüpelhaft, lief mit den schweren Schuhen bis ins Wohnzimmer. Dort zog er den Mantel aus, warf ihn auf das Sofa und stellte seine Aktentasche daneben, die reichlich schäbig und verbeult aussah.
„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, sagte ich zaghaft.
Er antwortete freundlich und ich kam zu dem Schluss, dass sein Akzent ein osteuropäischer sein musste. „Lassen wirrr Namen außen vorrr, mein Liebärrr. Wir werrrden uns nach diesem Gesprrräch nie wiederrr sehen.“
„Aber, was wollen Sie von mir?“
Er kam auf mich zu, packte meine Schultern und presste mich mit sanftem Druck in den Sessel. Dabei bemerkte ich seltsame Schatten in seinen Augen. Ich hatte den Eindruck, als zögen kleine Wölkchen an seinen Pupillen vorüber – kleine, flirrige Schäfchenwolken. Im nächsten Moment erkannte ich, dass das nicht stimmte. Seine Pupillen an sich waren vollkommen unstet; sie zitterten hin und her, in einem fort, und konnten sich auf keinen Punkt konzentrieren.
Er sagte: „Lassen Sie mich errstmal schauen“, als ich im Sessel zu ihm aufblickte.
Er hob mein Kinn und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Es war mir schleierhaft, wie er mit diesem Blick irgendetwas erkennen konnte. Er legte die Hände auf meinen Hals und tastete ihn ab, dann öffnete er meinen Mund und starrte hinein.
Als er meinen Kopf zur Seite drehte und meine Ohren untersuchte, fragte ich ihn: „Sind Sie Arzt?“
Er lachte, drehte mein Gesicht wieder dem seinen zu und schnarrte: „Arzt? Meinän Sie einen Heilkundigän? Dann ja. Ich will schauen, was ich fürr Sie tun kann.“ Er packte meine Nase und bog sie hin und her. „Wenn man etwas fürr Sie tun kann.“
Er sprang auf und lief hinüber zum Sofa. Dort nahm er die Jacke und warf sie achtlos auf die Erde. „Legen Sie sich hin!“
Ich muss zugeben, dass ich gegenüber Autoritäten schon seit jeher ein wenig verschüchtert reagiere. Und die unterschwellige Angst vor meiner unbekannten Krankheit, auch die Aussicht auf Heilung ließen mich dem Befehl Folge leisten.
Ich sollte mich freimachen. Also tat ich auch dies und er begann, meinen Bauch abzutasten. Dabei bemerkte ich, dass seine großen Finger direkt auf den Gelenken Haarbüschelchen trugen, die steil in die Höhe ragten. Kleine, regelmäßig verteilte Häufchen, die sich im Takt der Finger bewegten, surreal wirkten und mir Angst machten. Sie tanzten über meinen Bauch.
Er drückte in meine Seite und ich schrie auf. Dann kniff er die Finger zusammen und ich musste stöhnen, so weh tat er mir.
„Es scheint, als wärrren Sie nicht ganz gesund!“ Diese widerliche Aussprache! Mir schien, als hätte ich einen alten Russen vor mir.
Ich musste mich umdrehen und er klopfte meinen Rücken ab. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich wusste, dass die Haarbüschel über meinen Rücken schwebten. Hier tat mir nichts weh.
„Wie steht es mit dem Wasserlassen?“, fragte der russische Riese leise, als ich mich wieder aufgesetzt hatte.
„Worauf untersuchen Sie mich?“, erwiderte ich.
„Auf alles“, war seine Antwort und ich musste lachen.
„Aber Sie müssen doch irgendetwas suchen. Woran, wurde Ihnen gesagt, leide ich?“
Er kniete sich zu mir herab und ich sah wieder in die schrecklichen Augen, die ständig hin und her sprangen.
„Ist es nicht so, mein Liebärrr“, schnarrte er mir direkt ins Gesicht. „Wir allää sind nur eine Ansammlung von totem Fleisch. Kalte, graue Muskeln, Fett und Knochen. Und irgendwo da drrrinnen schlummert der Funke des Läbens.“ Er tippte seinen Zeigefinger mit den drei Puscheln drauf auf meine Brust, meinen Kopf, meine Knie. „Wo errr ist, bleibt uns verrrborgen. Uns bleibt nur, das tote, kalte Fleisch warm zu halten.“
Jetzt sah ich, dass sein Kopfhaar nicht aus einem einzigen Schopf bestand, wie man es kennt, sondern aus vielen kleinen Haaransätzen, aus Millionen kleiner Puschel, die aufwärts strebten.
„Wer sind Sie?“, fragte ich. „Und was wollen Sie?“
„Ich werde Ihnen helfen“, sagte er, richtete sich auf und ging zu seiner Tasche. Er wühlte darin herum, ich hörte es klappern, wie wenn man metallischen Unrat bewegt.
Ich erhob mich und wollte ihm die Tür weisen. Was hatte diese Person in meiner Wohnung zu suchen? Wie kam sie dazu, mir hier Befehle erteilen zu wollen?
„Hören Sie“, sagte ich zu dem gebeugten Rücken in etwa vier Metern Entfernung.
Schon stand er vor mir, grinste mich an und drückte mich zurück aufs Sofa. Ich konnte mir keine Gedanken machen, wie er zu mir herangekommen war, denn er hielt mich unten gepresst mit der einen Hand. Die andere verbarg er hinter seinem Rücken.
„Lassen Sie mich in Frieden“, krächzte ich und versuchte mich zu wehren. Ich wollte mich zur Seite werfen, doch sein Griff war hart und schmerzhaft. Ganz kurz war ihm die Anstrengung im Gesicht anzusehen.
„Bleibän Sie so“, befahl er. „Es ist gleich vorbei.“
Noch einmal tat ich den Versuch, mich aus der Umklammerung zu befreien. Doch schon der Ansatz wurde von dieser furchtbar starken Hand zunichtegemacht. Ich schrie, sein Grinsen wurde breiter.
Er kam mit der Hand hinter seinem Rücken hervor und zeigte, was er darin hielt. Eine Spritze; mir kam sie groß vor. Ich konnte nicht erkennen, was sie enthielt.
„Was ist das?“, krächzte ich.
Plötzlich ließ er mich los, ich fühlte, wie die Fessel seines Griffes von mir abfiel. Er sah mich an und nun kam mir sein Lächeln ehrlich vor, liebenswürdig.
„Nun stellen Sie sich nicht so an“, sagte er leise. „Ich gebe Ihnän nurrr diese Sprrritzä hierrr und dann ist es schon geschafft.“
„Was ist da drin?“
„Ein Medikament. Danach werden Ihrrrä furrrchtbaren Schmerrrzen abklingen.“
Ich wollte ihm sagen, dass ich gar keine Schmerzen hätte, stattdessen fragte ich nur: „Wohin?“
Ein kurzer Schauer huschte über sein Gesicht. Behutsam tippte er mit dem Zeigefinger an meinen Hals. „Da hinein. Es wird nur ganz kurrrz pieksän. Und dann ist Ihnän geholfen.“
Seine Pupillen zuckten hin und her. Das Flackern wurde immer heftiger, schließlich rasten sie geradezu von der einen zur anderen Seite. Ich wollte mich noch einmal nach dem Inhalt der Spritze erkundigen, doch diese Augen faszinierten mich, ich konnte den Blick einfach nicht abwenden.
Und plötzlich kam wieder Panik in mir auf.
Der Mann – die Person – warf mich plötzlich nach hinten, sodass ich hilflos auf dem Rücken lag. Er setzte ein Knie auf meine Brust und presste mich mit einer Hand auf die Matratze. Angsterfüllt schaute ich, wie er die Spritze ansetzte und zustieß. Als die Nadel in meinen Hals drang, sah ich, wie er erzitterte. Mir blieb nur, ihm reglos mit den Augen zu folgen und den Schmerz zu ertragen.
Ich spürte, wie die Flüssigkeit einspritzte und augenblicklich fühlte ich mich schwindelig.
Ohne ein weiteres Wort stand der Mann auf und ließ mich damit frei. Er ging zurück zu seiner Tasche, verstaute die Spritze darin und ohne mich auch nur des kleinsten Blickes zu würdigen, verließ er meine Wohnung wie ein Buchhalter zum Feierabend.
Ich lag auf dem Sofa, matt und zerschlagen und fühlte mich wie ein Federkiel, den man weggeworfen hat, weil er geknickt ist.

Ich schlief lange und tief; wenn ich zwischendurch erwachte, war ich nass von Schweiß. Ich aß und trank nicht, ich meldete mich nicht einmal auf der Arbeit ab. Es war mir egal.
Später dann träumte ich von dem unheimlichen Mann mit den seltsamen Augen, wie er sich über mich beugte und mich anstarrte. Ich schrak auf und er war fort.
Dann endlich war ich fähig, aufzustehen. Ich wankte ins Bad und trank gierig von dem kalten Wasser, spritzte mir etwas ins Gesicht und die Haare. Mir war schwindelig.
Dann stand ich eine Zeit lang reglos vor dem Spiegel und starrte in mein Antlitz.
Ich sah furchtbar aus, die Ringe um meine Augen konnten dunkler nicht sein, die Haut hatte graue Farbe angenommen und meine Haare waren stumpf und zersaust.
Was nur hatte diese Person mit mir angestellt?
Ich befühlte den Einstich am Hals, fuhr mit den Fingern leicht über die Male und erlebte einen panischen Schrecken. Das konnte nicht sein! Das war sicher unmöglich.
Doch weil es vollkommen unglaublich war, fiel mir ein, dass ich die ganze Zeit, als dieser Quacksalber in meiner Wohnung wütete, mich im Unterbewusstsein damit beschäftigt hatte.
Der alte Mann hatte mir den Russen geschickt, aber mit welchem Ziel?
Ich hatte drei kleine Beulen an meinem Hals.
Drei!

Selbstverständlich war es hoffnungslos. Eben war ich unten und habe an seiner Tür geklingelt. Dass es wenig Sinn haben würde, war mir klar, als ich das leere Klingelschild sah.
Ich hämmerte an die Tür, trat und warf mich dagegen. Dann lauschte ich der Stille dahinter.
Und ich erkannte, dass es sinnlos war. Der alte Mann war fort.

Jetzt sitze ich hier und denke darüber nach, inwieweit man seinen Nachbarn vertrauen kann.
Und ob es wohl wirklich so etwas wie Dämonen gibt. Und wenn ja, in welchen Erscheinungsformen sie wohl auftreten mögen.
Dabei spiele ich gedankenverloren mit den kleinen Hautsäcken an meinem Hals. Und plötzlich habe ich das Gefühl, dass sich darin etwas bewegt.
Und wie, wenn es sie wirklich gibt, wird man sie wieder los?

 

Also meine Hoffnung oder besser Überlegung war, dass die Säcke ein Teil des Heilungsprozesses waren und keine Krankheit selbst. Demnach hätte der Alte eine Krankheit gehabt und der Russe hätte ihm die Säcke zur Heilung verabreicht, ebenso, wie dem Prot. Die Krankheit wäre dann wohl etwas Psyschiches gewesen. So war mein Gedankengang, welchen Ideen spukten denn noch in deinem Kopf?

 

Oh, es war die Maßgabe, eine Story zum Thema "Phantastische Medizin" zu schreiben; ich hatte daraufhin die Idee, über Jemanden zu berichten, der ein Leiden hat und einen Mediziner kommen lässt, der allerdings in Wahrheit die richtige Krankheit überträgt.

Na ja, ziemlich abstrakt, jedenfalls habe ich daraus das Vorliegende gebastelt. Und irgendwie geht es darin wohl um die Weiterreichung moderner Ängste.

 

Hallo Hanniball

Trister, ruhiger Alltag, in den du diese Geschichte eingebettet hast. Der Ich-Erzähler fügt sich passend ein, anspruchslos und genügsam, das prädestinierte Opfer. Dennoch hatte ich den Verlauf nicht vorausgeahnt, seine Begegnungen mit dem Beulen-Mann liessen mir wohl makabre Vorstellungen hochkommen. Doch dieses gemeine, bösartige Ende überstieg meine fiesen Vorstellungen nun doch bei weitem.

Die Beschaulichkeit mit der das Geschehen seinen Verlauf nimmt, ohne dass ich vom roten Faden abwich, liess mich zwischendurch beinah vergessen, in welchem Genre es steht. Doch die fiktive Wirklichkeit holte mich dann ein.

Ich werde künftig nun doppelt aufpassen, wenn sich jemand mit einer Spritze mir nähert. :D

War mir ein Vergnügen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon!

Ich wusste, wir würden uns wiedersehen.;)

Schön, dass dir die vorliegende Story gefällt, dass sie weitestgehend so funktioniert, wie ich es geplant hatte.

Das gemeine, bösartige Ende... Ja, ja. Ich freue mich, dass ich dich ein wenig erschrecken konnte. He-he. Kinder erschreckte man früher auch, um sie vor drohende Gefahren zu warnen.
Ja, ja. Aber ich sage nichts...

...ohne dass ich vom roten Faden abwich

Ich bin sehr froh, dass mir das gelang.

liess mich zwischendurch beinah vergessen, in welchem Genre es steht.

Ist es nicht das, was wir alle als Autoren erreichen wollen?


Ich werde künftig nun doppelt aufpassen, wenn sich jemand mit einer Spritze mir nähert

Recht so, mein Sohn.:D


Hat mich gefreut, von dir zu hören. Gerade und vor allem in dieser Form.


Vielen Dank und schöne Grüße von meiner Seite!

 

Hallo Hanniball!

Diese Geschichte gefällt mir sehr gut. Vor allem ist es die Eingängigkeit deiner Sätze, die mich begeistert. Du schreibst gerade und schnörkellos, aber mit einem guten Gefühl für die dunklen Zwischentöne. Hab kein einziges mal abgebrochen. Ich mag Geschichten, wo das Böse nicht mit der Tür ins Haus fällt, sondern unter der Oberfläche schwelt. Wenn man dann noch an den ersten Sätzen merkt, dass es sich lohnen wird, die Geschichte fertig zu lesen, weil der Autor sein Handwerk versteht, dann lehnt man sich zurück und genießt...

Ich habs jedenfalls genossen und finde, dass die Empfehlung gerechtfertigt ist.

Gruß

Herrlollek

 

Hallo Genosse Lollek! :D

Freut mich wirklich, dass dir das Stück gefällt, habe es an einem Stück geschrieben und - entgegen der üblichen Gegebenheiten - kaum überarbeitet. Das, was ich besser machen konnte, kam von Kollegen von KG.de.

Leider Gottes gelingt es mir selten, eine kurze Geschichte zu schreiben, die zu fesseln vermag. Bei mir wird es leider immer ein wenig länger. Aber ich gebe mir Mühe, da ja auch in den meisten Ausschreibungen bestimmte Grenzen gesetzt sind (die Ausschreibung, für die ich diese Story schrieb, hatte auch solche Vorgaben und tatsächlich - sie wurde abgelehnt, wegen Überschreitung der Zeichenzahl.

Aber, wie gesagt, freut mich, dass ich zu einer halben Stunde Vergnügen deinerseits beitragen konnte.

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

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