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"Nachfolge"
"Nachfolge" (Thema des Monats September)
Das bleiche Licht des Mondes spiegelte sich in dem schäumenden Wasser des Ozeans und verlieh den Wellen einen glitzernden Überzug aus reinstem Silber. Der Wind peitschte das Wasser gegen die schroffen Felsen der Inselküste und erschuf so eine Ursymphonie, dem Donner des Himmels ebenbürtig.
Hoch über dem aufgewühlten Meer stand eine einsame Gestalt, eingehüllt in einen Umhang aus grobem, aber warmem Leinen. Die dürren Arme, wie zum Gebet gen Himmel gereckt, den Kopf erhoben, die Augen geschlossen. Der Wind verfing sich in dem langen weißen Haupt und Barthaar - spielte damit, riss daran. Mit jeder Minute, die der Alte auf dem kahlen Felsvorsprung verbrachte, nahm die Stärke des Windes zu, aber er verharrte, regte sich nicht.
Das Heulen des Windes und das Toben des Wassers wetteiferten nun um Kraft und Lautstärke, verbanden sich zu einem Sturm - zu dem Sturm. Der Zeitpunkt war gekommen!
Langsam öffnete der alte Mann die Augen. Umtost von dem zerrenden Sturm schaffte er es, sich auf der Stelle zu halten. Keinen Zentimeter Boden gab er preis. Wie ein Baum, tief verwurzelt in der Erde, trotzte er der gewaltigen Macht des Sturms. Dann spitzte er die Lippen, eine Melodie erklang. Am Anfang noch unhörbar, schwollen die gepfiffenen Töne an. Ein Lied, klagend und traurig in seiner Komposition, doch unwahrscheinlich mächtig legte es sich über den Wind.
Und der Sturm flaute ab.
Der Wind verlor seine Kraft, das Meer beruhigte sich. Der Mond war nun als Ganzes in dem spiegelglatten Wasser zu sehn. Es war still, sehr still!
Auf dem Felsvorsprung brach der alte Mann zusammen. Seine Kräfte waren verausgabt, er fühlte sich schwach, aber auch stolz. Ein weiteres Mal war es ihm gelungen seine Heimat vor dem Schrecken des Sturms zu bewahren. Doch er wusste, es war auch das letzte Mal. Er war alt, ein weiteren Sturm würde er nicht überleben. Er brauchte einen Nachfolger!
"Das war ein ganzes schönes Lüftchen heute Nacht, was?", kauend, und immer wieder vom Frühstücksbrot abbeißend, wandte sich der fettleibige Bauer Halvert seinem Gegenüber, dem Schankwirt zu. "Hatte schon Angst ums Feld!"
"Bist auch spät dran, dieses Jahr. Wird's nicht mal Zeit, mit der Ernte anzufangen?", fragte Jusup, der Wirt.
"Ach, wir hatten doch noch nie einen ernsthaften Sturm! Soweit ich mich erinnern kann, war uns die Wetterfee immer holt. Warum soll ich mich dann abschinden? Die Götter lieben uns!" Er rülpste laut und nahm sich dann noch einmal von dem fetten Schinken. "Ja, sie lieben uns, Jusup, sie lieben diese Insel, mit jedem Feld und jedem Hügel darauf!"
"Apropos Hügel, der alte Grinds war heute Nacht wieder draußen, Kirt hat ihn gesehen!", wandte Jusup ein, während er weiter die Krüge des Vorabends wusch.
"Grinds, der Alte vom Berg? Der Spinner wird noch mal eines Tages von den Klippen fallen. Schleicht dort oben rum, noch dazu wenn's stürmt, ha. Spinner sag ich, Spinner!"
Jusup stellte den eben getrockneten Krug in das hölzerne Regal hinter dem Tresen. Er kam wieder auf das Thema Ernte zurück: "Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich schick dir dann den Fjard. Es wird Zeit dass der dumme Junge mal lernt, was richtige Arbeit ist! Hillgart, meine Schwester, möge sie bei den Göttern ruhen," er machte das Zeichen für Gottgefälligkeit, "hat ihn doch nur verwöhnt, diesen Nichtsnutz!" Es war dem Wirt anzusehen, wie unzufrieden er mit der Vormundschaft über seinen Neffen war. Vielleicht fällt er ja vom Heuboden. Das dachte Jusup nur, doch sein gemeines Grinsen ließ Bauer Halvert seine Gedanken erraten. Der lachte.
Fjard lag auf dem harten Bett, das in der engen, muffigen Kammer über der Küche stand, die ihm sein Oheim zugewiesen hatte, nachdem seine Mutter gestorben, und er hier untergekommen war. Ständig zogen die Gerüche der zubereiteten Speisen durch die unzähligen Ritzen herauf und vermischten sich zu einem penetranten Geruch, der sich in Haar, Kleidung, ja sogar in den Poren der Haut festsetzte. Deshalb mieden die Bewohner der Insel den elternlosen Jungen, und wichen ihm aus, wann immer es ging. Natürlich kannte er den Grund, aber was sollte er machen, wohin sollte er gehen? Es gab nur dieses Dorf auf der kleinen Insel. Und ein Boot, mit dem er zum Festland übersetzen konnte, gab es nicht. Eine Überfahrt auf dem Handelsschiff war zu teuer.
Oft träumte Fjard von einem anderen, besseren Leben. Er wünschte sich, er wäre noch mit seiner Mutter auf dem kleinen Hof im Westen der Insel. Früher hatte er geglaubt, er würde eines Tages der Herr dort sein - Schafe, Kühe und Hühner halten, ja sogar Pferde. All dies war mit dem frühen Tod seines Vaters und dem schrecklichen Unfall seiner Mutter vor wenigen Wochen in unerreichbare Ferne gewichen. Jusup der Schankwirt sein Oheim, hatte den Hof an den ältesten Sohn von Bauer Halvert, beim Kartenspiel verloren. Sein Erbe, sein Leben - nichts blieb.
Eine Träne des Zorns rannte dem mageren Jungen die bleiche Wange herab. Er ballte die Fäuste. Sein hagerer Körper bebte, als ihn eine Welle der Trauer zum Schluchzen brachte.
Wut, Traurigkeit, reinster Zorn. Die Augen des Rothaarigen blitzten auf. Immer wieder öffneten und ballten sich seine Hände.
Und draußen zog ein Sturm auf!
"Nein, nicht noch einen heute... ich schaffe das nicht!" Der alte Mann kniete auf dem kahlen Boden seiner kleine Hütte, die außer einem Schlafplatz und einer Truhe mit seinen Habseligkeiten nur noch eine rußige Feuerstelle enthielt. Das Gesicht des Mannes zeigte Spuren unendlicher Müdigkeit. "Nicht heute", murmelte Grinds. "Nicht heute!"
Dann holte er tief Luft und erhob sich. Erleichtert stellte Grinds fest, dass der Wind sich legte.
Fjard beruhigte sich wieder. Was nutzte es auch, wenn er hier lag und mit seinem Schicksal haderte. Langsam richtete er sich auf, ging zu der kleinen Luke, dem einzigem Fenster der Kammer, und sah in den strahlend blauen Himmel. Er freute sich an dem frischen Lüftchen, das vom Meer herüber wehte.
Fjard verließ die Kammer. Er schlich leise die enge Treppe herunter, schlüpfte durch die Hoftür und rannte los, kaum das er die Dorfstraße erreicht hatte. Ein paar Dörfler schüttelten beim Anblick des verwahrlosten, stinkenden Jungen den Kopf. Wie konnte der Bengel sich so gehen lassen, nachdem sich sein Oheim doch so rührend um ihn kümmerte. Dankbarkeit schien dem Jungen scheinbar völlig unbekannt zu sein. Hätten sie ihm doch nur ein einziges Mal zugehört!
Fjard wusste, welche Gemeinheiten sein Onkel über ihn erzählte, und es schmerzte ihn. Denn auch seine Eltern wurden beleidigt, wenn sein Onkel von "schlechter Erziehung" und "miserabler Abstammung" sprach. Das Jusup der Bruder seiner Mutter war, schien der Wirt offensichtlich zu vergessen.
Endlich erreichte der Junge die felsige Küste. Einer der steilen Felsen reichte weit in das offene Meer hinaus. Hier, genau hier, gefiel es Fjard. Die frische Brise, das ständige Säuseln des Windes entführte ihn, hob ihn ins Traumland. Manchmal sah er sich dann selbst, wie er über das Wasser schwebte, das grüngraue Meer unter, den weiten Himmel über sich - getragen vom Wind!
Der dürre Junge saß da im Schneidersitz und blickte hinaus aufs Meer. Für ein paar Augenblicke fühlte er sich frei und ohne Sorgen.
Grinds hatte sich leidlich erholt. Noch immer zitterten seine Knie bei jedem Schritt, doch er schaffte es, die Schwäche aus seinen Gliedern für den Moment zu vertreiben. Auf einen knorrigen Stab gestützt wanderte er zu der felsigen Küste. Heute würde es keinen Sturm geben, das spürte er. Dennoch trieb ihn ein intensives Gefühl zu dem Platz seines nächtlichen Sieges.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er die Felsnase erreichte. Er sah dort den Jungen, und sah auch dessen Kraft.
"Was fühlst du, wenn du hier bist?", ertönte eine raue, leise Stimme.
"Freiheit, zuerst ist da immer Freiheit!", antwortete Fjard und sah erst dann auf. Neben ihm stand der alte Grinds. Grinds galt als sonderbar, als Einsiedler. Niemand im Dorf kannte ihn wirklich. Manche fürchteten ihn, andere hielten ihn für einen armen Spinner. Fjard wußte nicht, was er von dem weißhaarigen Mann halten sollte, aber Angst verspürte er keine.
"Ja, die Freiheit!", begann Grinds. "Und was ist da noch?"
"Ich kann es nicht richtig beschreiben", sagte Fjard. "Es ist als wenn ich alles erreichen könnte... alles ist so nah, so leicht!"
"Möchtest du alles erreichen? Willst du soviel Macht?"
"Ja!", sagte Fjard. Es war sein innigster Wunsch, seit er dieses Gefühl zum ersten Mal gehabt hatte. Seit ihn der Wind an dieser Küste das erste Mal begrüßt hatte, und ihn weggetragen hatte von Demütigungen seines Oheims.
"Du hast es in dir. Du kannst diese Macht erreichen!"
"Wie?"
"Ich werde es dir zeigen, mein Junge. Doch sei gewarnt. Mit der Macht kommt auch die Verantwortung. Du wirst gezwungen sein, die Insel vor dem Sturm zu bewahren, denn dies ist der Preis!"
"Der Preis? Wofür genau?"
"Für die Freiheit zu gehen wohin dein Herz dich führt. Ins Land über dem Wind!", raunte Grinds Fjard zu.
"Dann zeig es mir!" Fjards Kopf war erfüllt von der Sehnsucht nach Freiheit. An den Preis dafür dachte er nicht.
"Schließ die Augen und lausche der Melodie!", sagte Grinds. Nachdem Fjard der Aufforderung des Alten nachgekommen war, begann dieser leise zu pfeifen. Die Töne des Liedes schienen Fjard so fremd und doch vertraut. Wie die Blüte einer Rose öffnete sich die Melodie in seinem Kopf und offenbarte ihre Dynamik, ihren Rhythmus. Noch ehe der Einsiedler den Jungen darum bat, stimmte dieser mit gespitzten Lippen ein. Ein harmonischer Gleichklang ertönte und die Welt um Fjard veränderte sich.
"Wo sind wir?", fragte der Junge. Er hatte die Augen geöffnet, nachdem ihn ein unbeschreibliches Gefühl von Leichtigkeit überkommen hatte.
"Wir sind in dem Land über dem Wind!" antwortete Grinds mit feierlich erhobener Stimme.
Er breitete die Arme aus. "Willkommen! Willkommen im Land der Freiheit!"
Für Fjard war diese erste Reise ins Land über dem Wind unbeschreiblich. Er sah Farben, die er noch nie zuvor gesehen hatte, roch Düfte, für deren Beschreibung ihm die schönsten Wörter einfielen, diese aber nicht ausreichten. Und dann war da der Wind!
Er spürte die gewaltige Kraft unter seinen Füßen. Ein Sog, der ihn wegreißen wollte, es aber nicht schaffte.
"Mit unserer Melodie können wir ihn bändigen", begann der weißhaarige Grinds. "Wir stehen über dem Wind! Er dient uns... dir!"
Noch bevor Fjard wirklich begriff, was geschah, hob Grinds erneut seine Arme und rief mit kräftiger Stimme: "So übergebe ich den Fluch weiter, der mich an diese Insel band. Du bist mein Nachfolger. Zum Schutz der Insel bestimmt, wie es die Götter wollen! Leb wohl!" Grinds war von einem Augenblick zum anderen verschwunden.
Fjard war allein. Allein im Land über dem Wind!
Grinds hatte einen Nachfolger gefunden, einen Nachfolger für eine Aufgabe, über der er alt geworden war. Es war der Wille der Götter, dass dieses Los an den jungen Fjard überging. Er hatte nur in ihrem Auftrag gehandelt. Jetzt war er frei! Und Grinds genoss jeden Augenblick davon. Er verließ das Land über dem Wind, pfiff eine neue, eine noch mächtigere Melodie, und betrat das Land des Todes.
Fjard wusste jetzt, das der alte Mann ihn gewissermaßen betrogen hatte. Die neue Kraft in ihm verlieh Fjard eine unglaubliche Macht, aber sie band ihn für immer an diese Insel. Er war zu ihrem Beschützer geworden, ob er wollte oder nicht. Nacht für Nacht erhob sich draußen auf dem Meer ein Sturm, der die Insel zu vernichten drohte. Einzig Fjards Gabe konnte die Katastrophe verhindern. Er bezwang den Sturm, wie es einst der alte Grinds getan hatte.
Doch Fjard war anders als Grinds. Der Einsiedler war mit sich und der Welt, in der er lebte, zufrieden gewesen, nicht so der rothaarige Junge. Sein Zorn war stark, sehr stark!
Die Insel musste er vor dem Untergang bewahren, doch das galt nicht für die Menschen, die auf ihr lebten.
Fjard begann zu pfeifen und eine neue Melodie erklang. Geboren aus Wut und Traurigkeit zwang sie den Sturm, sich zu erheben - sich zu drehen und zu wandern. Bauer Halverts Felder lagen bereits verwüstet dar, als der Sturm seinen Hof völlig zerstörte. Dann wanderte die von der groben Melodie angepeitschte Windhose Richtung Dorf. Als sie dieses passiert hatte, und die Menschen ängstlich auf die Straße liefen, war es wie ein Wunder, denn nur Jusups Gasthaus war völlig zerstört. Der Wirt war ruiniert.
Fjard aber lachte und begab sich auf eine neue Reise ins Land über dem Wind.
Ende
Edit:Änderungen vorgenommen