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Nachtfahrt
NACHTFAHRT
Wedge trat fluchend auf die Bremse. "Blödes Pack!", schrie er und schüttelte die Faust. Die Jugendlichen, die aus dem Nichts erschienen waren, lachten laut und zeigten uns obszöne Gesten. Provozierend langsam gingen sie über die Straße. "Am Anfang gab es den Urknall, und alles funktionierte prächtig", erklärte Wedge. "Dann schiss die Evolution den Nigger aus..." Er bleckte die Zähne. "Und siehe da... Der Nigger geht grinsend über die Straße... Ich sollte... Ach, Scheiße!"
Es erstaunte mich immer wieder erneut, dass mein Partner noch so dachte. In Zeiten wie diesen war es unerheblich, was für eine Hautfarbe man hatte. Wichtig war, dass man überhaupt noch eine Haut hatte. Mir war klar, dass Wedge sie am liebsten überfahren hätte. Doch er hielt sich erstaunlich gut, angesichts seines manchmal überbordenden Temperaments. Vielleicht hatte er auch nur an die Möglichkeit gedacht, eines schönen Tages über den Haufen geschossen zu werden, eben von diesen Niggern.
"Vierzig Sekunden, Joker! Vierzig Sekunden werden uns diese Schwuchteln kosten!"
"Wird schon klappen", sagte ich. "Wir haben vier Blocks Vorsprung."
Die Jugendlichen hatten endlich die Straße überquert und waren hinter den Müllbergen verschwunden. Wedge zog Rotz durch die Nase nach oben und gab Gas. Mit quitschenden Reifen fuhren wir weiter. Obwohl es sinnlos war, versuchte er wohl, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Zum Glück waren wir weit und breit die einzigen gewesen. Dieses Geschäft würde uns nicht durch die Lappen gehen. "Scheiß doch auf die vierzig Sekunden, Wedge!" Ich sah noch einmal auf das Display vor mir. "Wir sind gleich da..."
Wedge nickte, sagte aber nichts. Schließlich bogen wir in eine Seitenstraße ein.
Einer der Bullen winkte uns zu sich. "Joker! Wedge!", schrie er.
"Da ist Meyers..."
Wir stiegen über Dreck und Unrat, über Knochen und Kadaver, dann hatten wir unser Ziel erreicht. Ich nickte Meyers zu. "Also, wie sieht es aus?"
Der Bulle deutete hinter sich. "Ein Gleiter, wohl abgestürzt. Schwer zu sagen, vermutlich abgeschossen, das weiß ich noch..."
"Die Insassen?", unterbrach ihn Wedge barsch.
Meyers begann zu grinsen. "Zahltag, Jungs!" Ungefähr fünf Bullen, allesamt schwer bewaffnet, standen um den abgestürzten Gleiter. Ich kannte jeden einzelnen von ihnen. Ich kannte so gut wie jeden Bullen in diesem von Gott verlassenen Moloch.
Wedge schob Meyers zur Seite und ging zu den Leichnamen, die nebeneinander aufgereiht etwas abseits vom Gleiter lagen.
"Ist so ein richtig teures Modell, was?", fragte ich.
Meyers zuckte mit den Schultern. "Die sind selbst schuld, wenn sie sich hierher wagen. Ich meine..." Er holte tief Luft. "Die haben dreihundert Meter unter uns ein wirklich gutes Leben, brauchen sich um nichts zu kümmern. Wenn die Lust haben, durch die Gegend zu fliegen, dann sollen sie verflucht nochmal sich die Ruinen von New York ansehen!"
Ich wußte, was er meinte. Hätte ich eine Milliarde Dollar, würde ich auch in einer Welt leben, die Schmutz, Seuchen und brutale Gewalt fern von sich hielt. "Ich weiß, was du meinst, Meyers."
"Reden wir über die Bezahlung, okay?"
Ich nickte und sah zu Wedge. "Wedge?"
"Zwei Erwachsene, ein Kind... Vielleicht zehn Jahre alt, diese süße Kleine..." rief er zu mir herüber.
"Na, das lohnt sich richtig, was?" Ich holte ein dickes Geldbündel aus meiner Tasche und zählte ein paar Scheine ab, die ich Meyers in die Hand drückte. "Mach mit den anderen einen drauf! Ich habe gehört, in der Neunzigsten gibt es einen Club, der sogar Bullen bedient. Ich geb dir außerdem zwei mehr, und zwar dafür, dass ihr mich und meinen Partner auch weiterhin bevorzugt behandelt, wenn in eurem Gebiet was passiert, einverstanden?"
Meyers schnalzte mit der Zunge. "Du bist ein guter Mensch, Joker, auch wenn du mit Leichen dein Geld verdienst."
Die drei Leichen wurden in den Laderaum unseres Wagens geworfen. "Ich habe es mir nicht aussuchen können." Dann berührte ich in sanft an seinem linken Arm. "Und nenn mich nie wieder einen guten Menschen. Es gibt keine guten Menschen mehr. Zumindest hier oben nicht." Mit meinen achtundvierzig Jahren konnte ich es mir erlauben, diese Welt endgültig abgeschrieben zu haben.
Meyers lächelte verunsichert. "Wenn du das sagst..."
"Ich sage das, ja." Meyers löste sich in Luft auf, existierte nicht mehr. Schlicht und ergreifend beachtete ich ihn nicht weiter. "Wedge!" Ich sah auf die Uhr. Seit mehr als zwanzig Jahren trug ich sie nun schon, ihr Gehäuse war zerkratzt, das Glas gesprungen, die Zeiger verbogen. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. "Wedge! Die Uhr tickt!" Ich lief zurück zu unserem Wagen.
"Wieviel Zeit bleibt uns noch?" Wedge schlug die Tür zu und startete den Motor.
Ich sah auf die Uhr. "Achtundzwanzig Minuten..."
"Könnte knapp werden", murmelte Wedge und fuhr los.
Zurück auf der spärlich beleuchteten Hauptstraße begegneten wir den Wagen von Chester, Piper und Sandini. Und mindestens einem Dutzend anderer Leichenfledderer.
"So viele?", fragte Wedge ungläubig.
"Weiß auch nicht. Das ist ein bißchen zuviel Konkurrenz auf einem Haufen." Der Moloch war groß genug, um sich nicht in die Quere zu kommen. Ab und an war dies unvermeidlich. Aber dass sich fast alle auf engstem Raum eingefunden hatten, beunruhigte mich ein wenig. "Zum Institut", murmelte ich leise. "Anschließend gehen wir einen Kaffee trinken, einverstanden?"
"Ich hasse Kaffee!", entgegnete Wedge.
"Das ist nicht mein Problem." Ich kurbelte das Fenster etwas herunter. Faulige Luft drang in das Wageninnere. Ich schloss kurz die Augen und dachte an meine zugegebenermaßen kuriose Entwicklung: Vom Krankenpfleger zum Leichenfledderer... "Ich liebe Kaffee!" Wedge gab keine Antwort. Ich fand es gut, dass er nicht ständig auf alles etwas antwortete. Für einen kurzen Moment hegte ich die Hoffnung, dass Wedge tatsächlich sein loses Mundwerk hielt, bis wir das Institut erreichen würden.
Die Hoffnung hielt keine zwei Minuten.
"Du, Joker?"
Seufzend öffnete ich die Augen. "So heiße ich, ja..."
Wedge winkte ab. "Arsch!" Er drückte das Pedal mächtig durch, so dass der Wagen fast einen Sprung nach vorne machte. Wenn er so weiter fuhr, würden wir sogar noch eine rauchen können, bevor wie die Leichen ablieferten. "Hast du von diesem schwarzen Wagen gehört?", fragte er und kniff die Augen zusammen. Fast ohne zu bremsen überholte er zwei alte Daimler. "Also? Hast du?"
Seit geraumer Zeit machte in unsere Branche ein Gerücht die Runde. Über einen schwarzen Lieferwagen, dessen Insassen Leichenfledderer jagten und bestialisch abschlachteten. "Ich habe von diesem Märchen gehört, Wedge", antwortete ich und fingerte die Packung Zigaretten aus dem Handschuhfach. "Es ist ein Gerücht."
"Sandini sagt da was anderes." Wedge hustete. "Sandini..."
"Sandini ist alt. Älter als ich!"
"Aber Sandini..."
Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Beim Ausatmen blies ich den Dunst zu Wedge. "Sandini ist ein kranker und perverser Sack, der sich regelmäßig an seiner Ware vergeht, bevor er sie beim Institut abliefert. Sandini redet viel, wenn der Tag lang ist. Überhaupt solltest du längst mitbekommen haben, dass Sandini ein blöder Schwätzer ist." Ich schüttelte den Kopf. "Es gibt keinen schwarzen Lieferwagen, der unsereins jagt, okay?" Verärgert sah ich auf die Uhr. "Du solltest noch schneller fahren, damit wir auch ja nicht zu spät kommen."
"Weißt du, Joker..." Wedge begann leise zu lachen. "Es gibt einen guten Grund, warum ich die Dreckskarre bis an ihre Grenzen bringe!"
Jetzt war ich interessiert. "Ach wirklich?"
"Wenn es keinen schwarzen Lieferwagen gibt..." Mein Partner deutete zum Seitenspiegel. "Was zur Hölle ist dann das da?"
Ich sah zum Seitenspiegel. Ein pechschwarzer Lieferwagen befand sich direkt hinter uns. Mir fiel die Zigarette aus dem Mundwinkel. "Oh Scheiße..."
***
Wir hatten uns gut gehalten. So an die zehn Minuten konnten wir sie hin und wieder abschütteln. Doch sie klebten an uns, ließen nicht los. Wedge war der beste Fahrer dieser dreckigen Stadt, vielleicht der beste Fahrer der ganzen kaputten Welt. Aber hinter dem Lenkrad in diesem pechschwarzen Lieferwagen saß der beste Fahrer des gottverdammten Universums. Es geschah Ecke Lincoln und Jefferson. Wir wurden gerammt. Wedge versuchte, den Wagen in der Spur zu halten, aussichtslos. Wir stellten uns quer und schließlich wurden wir ein weiteres Mal gerammt. Der Wagen überschlug sich, rutschte noch einige Meter über den schmutzigen Asphalt und kam irgendwann zum Stehen. Wedge hing seltsam über dem Lenkrad, winselte und jaulte vor Schmerzen. Ich hing mit dem Gesicht an seinem Arsch, die Beine unterm Sitz eingeklemmt.
"Joker!" Blanke Panik in Wedges schriller Stimme.
Ich konnte nicht antworten. Ein großer Teil meiner Zunge rutschte langsam die zersplitterte Frontscheibe hinab. Ich spuckte Unmengen von Blut, und ich hatte das Gefühl zu ertrinken.
"Joker!" Wedge begann sich zu bewegen.
Mein linker Arm begann zu knacken. Ich fing an zu brüllen und verstummte erst, als plötzlich mit mächtigen, automatischen Brecheisen das Kabinendach aufgerissen wurde, und uns grelles Licht blendete. Wir wurden von kräftigen Händen hinausgezerrt. Ich wußte nicht, wie es um Wedge bestellt war, ich wußte nur, dass in meinem Körper so etwas wie einhundert Anfänge des Scheißuniversums auf einmal sich entfalteten. Ich war die Verkörperung des Schmerzens. Ich war der Schmerz. Ich war, wenn man diesem Pisser von Sandini glauben mochte, so gut wie tot.
Die Straße war kalt und nass, vor allem schmutzig. Ich lag auf dem Bauch, konnte kaum atmen. Ich hörte Wedge schreien, sah ihn aber nicht. Ich sah nur ein Paar dunkle, geradezu pervers saubere Stiefel, direkt vor meinem Gesicht. Ich strengte mich etwas an, und ich konnte tatsächlich an den Stiefeln vorbei sehen, wie unsere Ware aus dem Wagen gezogen und fortgeschafft wurde. Nicht ganz deutlich, nur etwas verschwommen. Ich versuchte mich zu bewegen, und kaum, dass ich mich auch nur einen winzigen Millimeter gezuckt hatte, trat einer dieser perversen Stiefel in meinen Unterleib. Purer Schmerz. Millionen Explosionen in meinem Kopf.
"Liegenbleiben!", befahl eine seltsam verzerrte Stimme.
Ich blieb liegen und rührte mich nicht.
Ich blieb liegen und rührte mich nicht. Selbst dann, als Wedge aufhörte zu schreien, und mir Sekunden später der Lauf einer Pistole an den Kopf gehalten wurde. Ich blieb liegen und rührte mich nicht. Gut möglich, dass ich noch einige Nächte hier liegen und mich nicht rühren würde. Aber das war etwas völlig normales in diesem Moloch.
***
Sie saßen da, rauchten und schlürften Kaffee. Als Sandini den Raum betrat, richteten sich alle Augen auf ihn. Sandini, ein alter Mann, der alles gesehen und erlebt hatte, was es in einem verkorksten Leben zu sehen und zu erleben gab, humpelte an den Tresen und bestellte sich einen Kaffee. Die Bedienung, eine unglaublich fette und stinkende Jungfer im besten Alter, stellte ihm eine Tasse hin, schüttete heißes Wasser rein und schmiß etwas Kaffeepulver hinterher. Gedankenverloren rührte Sandini in seinem Kaffee herum. Niemand sagte etwas. Alles wartete darauf, dass er etwas sagte. Schließlich nahm er einen Schluck, stellte die Tasse ab und drehte sich um. Er wußte, was sie hören wollten, die anderen seiner Zunft. Letzte Nacht hatte es die Besten erwischt. Sandini wischte sich über die schwitzende Stirn. "Wer es noch nicht weiß...", sagte er, "Joker und Wedge hat es erwischt. Joker fand man neben einer Mülltonne. Von Wedge war immerhin noch der Kopf da, und einer seiner Arme..." Gemurmel machte sich breit. "Und ich glaube inzwischen zu wissen, warum." Das saß. Augenblicklich wurde es still. Sandini lächelte gequält. "Der Lieferwagen erscheint nur, wenn wir Tote von unten nehmen. Versteht ihr?" Er sah in fragende Gesichter. "Die da unten wollen ihre Toten zurück. Sie gehen das Risiko ein, hier oben zu sterben. Aber begraben werden wollen sie in ihrer Welt. In ihrer Scheißwelt. Versteht ihr?" Sandini zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder seinem Kaffee. Er hatte schon seit geraumer Zeit beschlossen, keine Jagd mehr auf Leichen zu machen, die nicht aus seiner Welt kamen. Und da er noch lebte, wußte er, dass er gut daran tat, dies auch weiterhin so zu handhaben.
ENDE