Nachtmahr
Wieder mal Freitagnacht. Tretbootfahrt durch den Neokortex. Eine klare Linie, die man aber vielleicht nur sehen kann, wenn man wie ich ein Mensch ist, der abends um elf in einer Kneipe hocken und sich fragen kann, ob die Bierdeckel sich einsam fühlen oder ob der Flaschenöffner es gemütlich findet in seinem Schmuddelhandtuchnest neben der Spüle ... so unentdeckte Schizophrene eben, die sich ihrer Beute angepasst haben.
Dann kommt sie zur Tür herein. Eine Wolke schwarzgewandeter, ätherischer Fragilität. Ganz viel Spitze und Kajal. Man sieht ihr deutlich an, dass sie Stunden vor dem Spiegel zugebracht hat, nur um so auszusehen, als würde sie beim ersten Sonnenstrahl zu einem Häufchen Staub zerfallen.
Ein bisschen sieht sie sogar Nadja ähnlich, die längst zu einer Ikone verblasst ist, vergraben in der Alte-Fernsehzeitschriften-Ecke des Gedächtniskellers.
Nadja. Die erste. Ur-Biest. Lilith meiner persönlichen Schöpfungsgeschichte. Spitze Zähne, Worte wie Eiszapfen, Blicke mit langen Krallen, die Blut wollen. Und am Schluss die verschwommene Erinnerung an schmutzige schwarze Erde auf schneeweißer Haut ...
Der Abend ist Drehbuch. Zum Glück habe ich diese schönen dunklen Augen. Diese brütende Aura des liebebedürftigen Finsterlings. Das zieht sie an wie eine Straßenlaterne die Motten. Sie können einfach nicht widerstehen, wenn jemand "Ich leide, quäl mich noch mehr!" auf die Stirn geschrieben hat. Tiere. Berechenbar. Beute-Opfer-Schemata. Hohe Predationsintensität in dieser Gegend. Bei meiner Mission muss ich dafür sorgen, dass sie mich erwischen, bevor es jemand anderen trifft, der sich nicht wehren kann.
"Ich bin Laura ..."
"Hallo, Schönheit ..."
Lächeln, Drinks, Konversation. Gespräch über all die scheißtiefsinnigen Themen, Liebe, Mondschein, Tod, mit denen sie ihre Beute faszinieren, hypnotisieren, ins Grab langweilen. Schleichendes Spinnengift, um den Fluchtreflex zu lähmen. Gegen das man sich nur mit Tim-Burton-Filmen und jeder Menge Lacrimosa im Autoradio immunisieren kann.
Mein Blick schweift ab. Vergewissern, dass mein schwarzer Lederrucksack noch da ist. Heutzutage wird doch überall geklaut. Mit dem, was drin ist, könnten diese hirnlosen Arschlöcher eh wenig anfangen, und mir würde es bitter fehlen. Also besser aufpassen als nachher dumm da stehen.
Laura sagt irgendwas. Als ob ich zuhören würde. Legt einen schlanken Finger mit perfekt schwarz lackiertem Nagel auf ihre schwarz geschminkten Lippen. Die blauen Augen leuchten im Schwarzlicht über der Bar. Wie sehr sie Nadja ähnlich sieht.
Nadja in meinen Armen. Schwer und reglos. Kein Staub, nur Fleisch. Alles Mythos. Am Ende ist alles Staub, aber der Weg dahin ... graben und verstecken. Schwarze Erde auf schneeweißer Haut ...
Das einfachste auf der Welt: Sie zu einem nächtlichen Spaziergang zu bewegen. Am besten im Mondschein. Na klar! Einfacher, als eine Hyäne in ein Schlachthaus zu locken, herrjeh. Fast rührend, wie sicher und unangreifbar sie sich in ihrer Raubtier-Rolle gefallen. Mit welcher Perfektion sie das naive Mädchen spielen, das dem Reiz der Dunkelheit verfallen ist und so. Dieser Augenaufschlag. Diese mitleiderregende Verzückung bei der Erwähnung von Mondschein oder gar Friedhöfen. And the Oscar goes to ...
Der Park ist menschenleer wie eine Bibliothek nach Erfindung des Fernsehens. Nur Laura und ich und der Mond. Engumschlungenes Spazieren, wie es sich gehört. Ihre Finger kühl in meiner Hand. Neckend. Ein Kuss hier und da. Vorspiel unter Mückengesumm und Oktober-Kühle.
Nach der nächsten Biegung müsste der Spielplatz kommen. Und natürlich kann sie nicht daran vorbeigehen. Offenbar ist es im genetischen Code sämtlicher Weibchen auf diesem Planeten fest eingraviert, sich bei einem Rendezvous auf eine Schaukel zu setzen, sobald eine in Radarreichweite kommt, und wieder acht Jahre alt zu werden. Das ganze Leben ein Scheiß-Fred-Astaire-Film oder sowas. Selbst im Hunger gehorchen sie dem Klischee.
Ich nutze den Moment für einen ersten Griff in den Rucksack. Die Gelegenheit ist günstig. Hier, am Arsch der Welt und mitten in tiefster Nacht, überrascht uns so schnell keiner.
Dann knie ich vor ihr im Sandkasten, während sie auf mich herabsieht, dabei millimeterweise vor und zurück schaukelt. Ihre hochhackigen Stiefeletten liegen ein paar Schritte weiter am Rand. Natürlich. Sie gehen immer barfuß in den Sandkasten.
Ich knie also dort, labere irgendwas davon, wie schön sie ist. Meine Hände streifen wie beiläufig über ihre nackten Füße, den Spann entlang, über die Fesseln, die Wade empor. Sie lässt es geschehen, lächelt verträumt. Ihr Atem geht schneller, sie schließt die Augen, reckt unmerklich ihre Hüfe nach vorne, als meine Finger unter dem Rock die Innenseite ihres Oberschenkels erreichen. Ihre Hände fest um die Ketten der Schaukel gekrallt, die ganze Zeit, während sie wortlos genießt, meine Hände an ihren Schenkeln, der Rock hochgewühlt, meine Zunge in ihrem glatt rasierten Schoß.
Die letzten Meter lege ich mit den Fingern zurück, mein Blick gleitet nach oben. Ich will ihr Gesicht sehen, wenn es soweit ist. Sie keucht und stöhnt: "Oh Gott ... ja! Nicht aufhören ..."
Und da ist er. Der Moment. Ihr Körper erschaudert, Schenkel beben, eine Hand krallt sich in meine Schulter. Ihr Kopf ruckt nach unten, sie sieht mich an. Das Gesicht dreieckig, darin Reißzähne, fingerlang und blendend weiß, ihr Atem ein animalisches Hecheln, die Augen, gelb mit senkrechten Pupillen, leuchten dämonisch im Dunkeln. Antlitz der Bestie. Gotcha!
Hallo Nadja! Und Lebwohl ...
Eine fließende Bewegung. Das Messer aus dem Hosenbund. Dann bis zum Heft in ihrer Brust. Ich treffe immer das Herz. Direkt und unfehlbar. Ein Einstich. Kein Todeskampf. Nur kurze, grenzenlose Verwunderung in sterbenden Augen. Wenig Blut. Kein Gemetzel. Ich bin ein Mann mit einer Mission, kein verdammtes Ein-Mann-Schlachthaus, herrjeh.
Hinterher wirken sie immer friedlich. Wenn sie verenden, bleibt stets die Maske zurück. Was immer sie dahinter verbargen, geht einfach fort. Mir wurscht wohin. Hauptsache weg.
Man könnte fragen, warum ich mir als Jäger die Mühe mit dem Sex mache. Aber es muss sein. Ich muss sicher gehen. Sie sind Meisterinnen der Tarnung. Doch in diesem einen schwebenden Moment der Ekstase fällt ihre Maske. Dann können auch sie nicht anders und sind ganz sie selbst. Dann sieht man sie, die Fratze, das Antlitz der Finsternis hinter ihren hübschen Gesichtern. Und sie sagen niemals nein. Nehmen sich stets diesen geschenkten Orgasmus, bevor sie gedenken zu fressen. Hochmut kommt vor dem Fall, meine Damen!
Und jetzt: Den Klappspaten aus dem Rucksack, eine dunkle Ecke suchen, hübsch unter Bäumen. Man gewöhnt sich daran. Es muss sein. Zu dumm, dass die Sache mit dem Staub und so nur ein dummer Gruselfilm-Mythos ist. Es würde eine Menge Plackerei ersparen.
Ich gehe heim, verschwitzt aber zufrieden. Habe Lauras wilden, süßen Geschmack noch auf der Zunge. Sie war ein Monster, aber sie schmeckte entzückend, wie Tau und salziger Honig.
Über mir der Mond. Ein käsiges Loch in der Finsternis. Ich nicke ihm zu, von Kollege zu Kollege. Wir beide machen unseren Job. Ich suche die Finsteren. Er versilbert ihr Ende. Gießt kühles Licht auf die Hülle der Monster in Menschengestalt. Designed um zu gefallen, suchen, finden, fressen.
Bis sie auf mich treffen. So rettet man die Welt im Kleinen. Ich weiß, sie sind da draußen. Noch viel zu viele. Albträume mit gierigen Zähnen und schwarzen Seelen. Und ich wandle durch ihre Schatten, einsam und furchtlos, der lächelnde Schnitter in finsteren Feldern. All das eben. Eigentlich kein Grund, allzu pathetisch zu werden. Ich bin nur eine Klinge. Eine Aufgabe. Kein Grund für poetische Arroganz.
Ich atme kalte Luft, wandere durch den nächtlichen Park. Ein gutes Gefühl, zu wissen, dass hier, in der Dunkelheit, ich das einzige bin, vor dem ich mich fürchten müsste.