- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Nachtmahr
Als sie aufwachte, fand sie sich in einem Raum wieder, dessen einzige Einrichtung aus einem holzwurmzerfressenen Tisch und zwei schwarzen Plastikklappstühlen bestand. Beim Anblick der vergilbten Blümchentapete im Siebziger Jahre Stil entfuhr Mara ein angewidertes Stöhnen. Sie hatte nicht die geringste Spur einer Ahnung, wie sie in diesen äußerst geschmacklosen Kabuff geraten war. Solch eine Situation bot Platz für allerhand Fragen. Tatsächlich war Maras erste: „Warum muss ich ausgerechnet den pastellblauen Schlafanzug mit Teddybären-Aufdruck tragen?“
„Du bist endlich wach!“ Mara zuckte erschrocken zusammen und drehte sich in Richtung der Schallquelle. Sie blickte in zwei münzgroße Rubinsteine von Augen.
„Ich liebe dich“, wisperte die seltsame Gestalt und fuhr sich mit seiner chamäleonartigen Zunge über den Mund.
„Kennen wir uns?“ fragte Mara stirnrunzelnd. Besorgt begann sie zu Grübeln. Was war gestern nach der Flasche Rotwein passiert? Sie meinte, sich erinnern zu können nach ihrem Kampf mit dem Schlafanzug ins Bett getorkelt zu sein. Aber ganz sicher war sie sich nicht mehr. Es war ein wirklich hirnzerfressender Billigfusel gewesen; wäre nicht das erste Mal, dass diese Sparsamkeit damit endete, dass sie einen echt schrägen Typen aufgabelte. Allerdings war dieser Raum hier derartig abstoßend, sie musste wohl träumen. Oder halluzinieren.
„Persönlich kennen wir uns leider noch nicht. Aber ich gedachte, dies hier und jetzt nachzuholen.“ Das Wesen schritt zum Tisch in der Mitte des Raumes und wies mit einer Handbewegung Mara an, sich zu setzen. Sie musterte ihr Gegenüber. Hagerer Körperbau, alabasterfarbener Teint, geschmückt von ledrigen Fledermausohren und einem modischen Kurzhaarschnitt. Der schwarze Smoking stand ihm ohne Zweifel ausgezeichnet.
„Danke, ich kann das auch selbst“, gab Mara entschieden zu verstehen. Sie mochte einen Schlafanzug tragen, der der Kinderabteilung entsprungen zu sein schien, konnte sich ihren Stuhl jedoch problemlos selbst an den Tisch schieben. Mit einem sachten Räuspern nahm die geheimnisvolle Erscheinung ihr gegenüber Platz.
„Verzeih mir, dass ich dich Morpheus Armen entreißen musste, um dieses Treffen zu arrangieren. Aber anders wäre es mir nicht möglich gewesen. Mein Name ist Horg. Und ich bin ein Nachtalb.“
„Mara. Sehr erfreut. Darf ich fragen, wie ich zu der Ehre komme, einen Nachtalb zu treffen?“
„Du warst mir so sympathisch bei unserem Austausch.“
„Austausch?“
„Ach komm' schon, Mara. Du kannst es dir doch sicherlich denken...", grinste er verlegen. "Ich bin *gentleman*. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich darüber bin, dass ich mich getraut habe, dich anzuschreiben, Butterblume85.“
„Oh nein... Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist...“ Sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Augen zu Untertassen weiteten und ihre Kinnlade mit großem Knall auf den Tisch fiel. Hoffentlich würden die Holzwürmer nicht zu sehr durch das Erdbeben gestört.
„Nein, das ist kein Scherz." Er machte eine dramatische Pause. "Mara, es ist um mich geschehen. Ich liebe dich!“
„Das sagtest du bereits.“
„Und ich werde es dir noch viel öfter sagen, oh wunderschöne Mara.“ Er zog ihren Namen melodisch in die Länge und endete mit einem tiefen Seufzen.
„Erspar' mir das bitte.“
„So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe so tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, je mehr hab' ich.“
„Oh Gott....“, beschämt hielt sich Mara die Hand vor die Augen und atmete tief durch. „Hör zu... ähm... Horg. Wir kennen uns doch kaum. Und ich bin auch wirklich nicht die richtige Person für solche Dinge. Du weißt schon. Kitsch. Liebe tief wie Meer und sowas. Verstehst du?“ Horgs Augen glänzten wie eine frisch polierte Toilettenschüssel. Er setzte schon wieder von Neuem an „Könnte ich Deiner Augen Schönheit beschreiben und all Deine Grazie mit neuen Worten benennen..."
"Nein, Horg, ernsthaft. Schluss jetzt!" Diesmal war ihre Stimme energischer. Horg zuckte zusammen und starrte sie wie ein begossener Pudel mit Fledermausohren an.
Das hier musste definitiv ein Albtraum sein. Mit Wehmut erinnerte sich Mara an ihren bis dato schlimmsten Albtraum: auf einem Zahnarztstuhl gefesselt trennte ihr ehemaliger Mathelehrer ihr zunächst alle Gliedmaßen und danach den Kopf mit einer stumpfen Axt ab - ohne Betäubung versteht sich. Wieviel lieber wäre sie jetzt in jenem Albtraumszenario. Stattdessen war sie hier.
"Horg, wirklich. Als ich in diesem Chatroom war, lag ich mit Laptop und 38 Grad Fieber in meinem Bett. Mein Schädel brummte, ich hatte eine Angina, ich war heiser und vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt. Mir war furchtbar langweilig. Ich war praktisch nicht zurechnungsfähig."
"Aber dieser Chat ist doch ein Ort für Menschen, die auf der Suche nach der großen Liebe sind. Nach ihrem Seelenverwandten, dem geliebten Ehepartner fürs Leben." Er sagte das mit solch einer naiven Ernsthaftigkeit, dass Mara mächtig Mühe hatte, nicht laut loszuprusten. Es blieb bei einem leichten Zucken der Mundwinkel.
"Mein lieber Horg, ich treibe mich normalerweise nicht in solchen virtuellen Etablissements herum. Und ich bin schon gar nicht auf der Suche nach jemanden, der mich in die E-V-A steckt.“ Ihre Stimme klang genervt. Horgs Blick war ein Cocktail aus Unverständnis und Verzweiflung. „Ehevollzugsanstalt“, fügte Mara hinzu. „Tut mir wirklich leid.“ Sie setzte ihr schönstes, gezwungenes Lächeln auf und klimperte ein bisschen mit den Wimpern.
„Aber... Aber... Du hast solch wunderbare Dinge geschrieben. Ich dachte, du und ich, das wäre die Zukunft. Das wonach ich mich sehne. Du hast doch die selben Wünsche und Träume. Heiraten, zwei Kinder, ein kleines Häuschen mit weiß gestrichenem Gartenzaun. Für immer glücklich, bis an unser Lebensende.“
„Ich schrieb 1,6 Kinder.“
„Ich habe aufgerundet.“ Die Unterlippe des fledermausohrigen Romantikers bebte.
„Als ich schrieb, dass ich mir keine höhere Erfüllung in meinem Leben vorstellen könne, als Hausfrau und Mutter zu sein, habe ich einen aus vollem Hals lachenden Smiley dahinter gesetzt. Erinnerst du dich?“ Keinerlei Reaktion von Horgs Seite. „Dieser Smiley“, sie sprach ganz langsam und deutlich. „Das war Ironie. Verstehst du? Ironie.“ Die letzte Silbe betonte sie mit einem leichten Grinsen.
„Ich dachte, er sei ein Symbol für deine überschwängliche Freude bei dem Gedanken an deine Zukunft als meine Ehefrau und Mutter unserer Kinder.“
„Nein. Wirklich nicht.“ Leicht kopfschüttelnd neigte sie ihr Gesicht ein wenig zur Seite und zog ihre rechte Augenbraue 4,5 Millimeter hoch, um ein möglichst viel Mitleid bekundendes Gesicht zu machen. Horg schien fast den Tränen nahe. Seine Stimme zitterte „Liegt es an mir? Du findest mich unansehnlich, entstellt, eine Missgeburt. Hab ich Recht?“
„Nein. Nein, ganz und gar nicht.“ antwortete sie sanft. Diesmal war Maras Lächeln aufrichtig. „Ich möchte ehrlich mit dir sein, Horg. Als ich dich gesehen habe, war ich zunächst geschockt. Vor allem davon, dass du einen schnieken Seidenanzug trägst und ich einen Bärchenschlafanzug. Aber dann dachte ich: 'Wow, ein Typ mit Fledermausohren!' Ich habe mich gefreut, jemanden kennenlernen zu können, der ein bisschen anders ist, als die anderen. Was so ein Nachtalb wohl denkt? Was treibt er wohl so die liebe, lange Nacht? Ich wartete gespannt darauf, dass du mir aufregende Geschichten aus deinem außergewöhnlichen Leben erzählen würdest. Tja, und stattdessen..... Na ja, du kennst ja den Rest.“ Sie sah ihm tief in die Augen. „Horg, du bist einfach stinklangweilig. Du bist durchschnittlicher, als der durchschnittlichste Durchschnitt. Ich muss mich ernsthaft fragen, ob du deinen Wecker immer auf 08.15 Uhr stellst. Deine übertriebene Spießigkeit macht dich schon fast außergewöhnlich. Aber nur fast. Ich muss gestehen, es macht dich richtig unheimlich!" Und plötzlich sprang Mara auf und stimmte ein Lied an.
und der Kopf ist so beschränkt.
Eheweib, Hausfrau und Mutter
und dann ist alles in Butter
Butterblume mag ich heißen
doch ich lass mich nicht hinreißen
zu zerschmelzen in der Ehe
eher fress' ich Sägespäne
Wenn mir aber was nicht lieb,
weg damit! ist mein Prinzip
Soll'n sie doch in Ruh' und Frieden
alle ihre Pläne schmieden
nicht selbst anfangen zu denken
sondern sich auf Norm'n beschränken
Ei ja! - da bin ich wirklich froh!
Denn, Gott sei Dank! ich bin nicht so!“
Mit schwerem Atem und brodelndem Blut erwachte Horg schweißgebadet. Niemals zuvor hatte er einen annähernd entsetzlichen Albtraum gehabt. Was für ein unheimliches Frauenzimmer! Und dann trug sie auch noch seinen liebsten Schlafanzug. Gesang war im Übrigen auch nicht gerade ihre Stärke. Keinerlei Taktgefühl. Gleich nächste Woche würde er sich bei einer seriösen Partnervermittlungsagentur anmelden. Keine Chatrooms mehr. Nicht auszudenken, welche seltsamen Gestalten sich hinter all den viel versprechenden Nicknames und blumigen Worten verstecken könnten. Gut gehängt ist besser als schlecht verheiratet.