Nachts
06:43 Uhr.
Mit einem dumpfen Krachen fiel die Tür ins Schloss. Vorsichtig bahnte sich meine Hand den Weg in Richtung Lichtschalter, d.h. grob in die Richtung, wo er sich befinden müsste. Nach einigen Versuchen gelang es mir schließlich, das Licht einzuschalten. Sofort formten sich meine Augen zu schmalen, fast schon verschlossenen Schlitzen, sie brauchten eine Weile, um sich zu gewöhnen. Im Gegensatz zu dem schmutzigen Lichtschein der verregneten, kalten Mondnacht sowie den zuckenden Blitzen in dem billigen House-Schuppen war dieses Licht knallig grell und aggressiv.
Nur einen kurzen Moment später war die Gewöhnungsphase vorbei, ich streifte mir die Jacke ab, griff mir meine Bekanntschaft und drückte ihr einen sowohl müden als auch langen und innigen Kuss auf ihren Mund. Ich spürte das Salz auf ihren Lippen. Kein Wunder, so impulsiv ihr Tanzstil auch war, umso glänzender ihre Haut vom Schweiß. Noch nie hatte ich einen sowohl lasziven als auch temperamentvollen Hüftschwung auf der Tanzfläche gesehen, von den langen, durchtrainierten Beinen sowie den wallenden, kastanienbraunen Locken und den formvollendeten, festen Brüsten ganz zu schweigen. Als sie mich dann mit ihrer rauchigen Stimme ansprach, war es um mich geschehen. Mir war klar, dass sie die Frau meines Lebens sei, zumindest wünschte ich mir, dass diese Nacht mein Leben wird. Kurzum, sie war das bezauberndste Wesen, welches mir in den in dieser Hinsicht eher sparsamen letzten Monaten über den Weg gelaufen war.
Dieser Kuss war sowohl für sie als auch für mich sehr aussagekräftig. Spätestens als sie ihre mit einem goldenen Messingstab versehene Zunge in meinen Mund steckte und meine Hand sich über ihren, an einen sanft geschwungenen Voralpenhügel erinnernden Hintern bahnte, stand der Plan für eine heiße, unwiderstehliche Nacht. Nur sie und ich, wild umschlungen in meinem Bett - wie lange hatte ich das nicht mehr. Meine letzte Freundin hatte mich im März verlassen, nachdem sie einen anderen kennen gelernt hatte. Seitdem glich mein Sexleben eher der Nutzungsrate eines Skilifts im Hochsommer, und aus lauter Verzweiflung habe ich schon mehrfach überlegt, mich dem Zölibat zu verschreiben und in ein nepalesisches Kloster zu gehen, doch diese Bekanntschaft machte solche Pläne mit ihrer hinreißenden Art sofort zunichte.
Der Abend schlauchte, sieben Heineken, ein vermutlich überlagerter Royal TS sowie ein ausgefallener Nachtbus und als Folge ein dreiviertel Stunde währender Fußmarsch, auf welchem ich die Sehenswürdigkeiten von zwei verregneten Stadtteilen bewundern konnte, haben ihre Spuren hinterlassen. Zudem ist meine Tanzbereitschaftsschwelle ziemlich weit unten angesiedelt; bereits nach drei Bier ist es soweit, so dass ich schon ziemlich früh über das Parkett wirbelte. Jetzt musste ich noch einmal sämtliche Reserven mobilisieren, zum Einen, um mir den perfekten Abschluss des Abends zu genehmigen, zum Anderen, um dieses göttliche Wesen nicht als unbefriedigte Frau wieder in die Freiheit zu entlassen.
So stolperte ich mit ihr in Richtung Wohnzimmer, wobei ich geschickt den auf dem Boden parkenden Turnschuhen und einem ausrangierten Computerbildschirm auswich. Während dieser Exkursion in die unendlichen Weiten meiner Wohnung bemerkte ich ein gedämpftes Grummeln in meiner Bauchgegend. Toll, dachte ich, solche Gefühle hatte ich schon seit Urzeiten nicht mehr. Sah das Schicksal doch mehr vor als "nur" eine vergängliche Nacht? Sollte mein Herz das registriert haben, was mein Hirn noch nicht festgestellt hatte und erste Schmetterlinge auf die Reise geschickt haben? War da mehr? Im nächsten Moment begrub ich diese Gedanken vorerst; ich bemerkte, dass es ein ganz profanes Hungergefühl war, was mich beschlich. Kein Wunder, die letzte Mahlzeit nahm ich vor ca. neun Stunden zu mir. Ich beschloss, die Nahrungsaufnahme bis nach dem Liebesakt zu verschieben. Doch ich habe wohl nicht mit dem üblicherweise stark ausgeprägten Mitleidsgefühl von Frauen gerechnet, so dass mir kurzerhand die Frage entgegenschallte, ob ich denn nicht erst einmal etwas essen wolle. Ich druckste herum, konnte mich aber einem halbherzigen "Ja gut, ich schau mal was noch so da ist..." nicht entziehen. Meine Bekanntschaft im Schlepptau bahnte ich mir den Weg in Richtung Küche, diesmal musste ich einen leeren Krombacher-Kasten umkurven, der bereits seit dreieinhalb Wochen auf sein Laufbahnende wartete.
In der Küche angelangt, steuerte ich sofort den Kühlschrank an. Dort vermutete ich am ehesten eine essbare Kleinigkeit. Doch - wie sollte es anders sein - bis auf eine halbleere Heinz-Gewürzketchup-Flasche, ein Gläschen Anchovispaste, ein Stückchen Kerrygold-Butter und einen Becher Cremé fraiche, der auch noch abgelaufen war, nichts als gähnende Leere. Mit einem leisen Seufzer stieß ich die Tür ins Schloss. Mist, brummte ich vor mich hin, keiner hatte eingekauft. Im nächsten Moment wurde mir die himmelschreiende Unsinnigkeit dieser Aussage klar: ich bewohnte einen Ein-Personen-Haushalt. Ich schlürfte Richtung Brotschrank, doch auch dort fand sich nichts Essbares. Meine letzte Chance war das Fach, in welchem sich in guten Zeiten leckere Schokolade, aber auch Salzstangen und Chips tummelten. Aber diese dunkle Vorahnung, welche mich beschlich, wurde bestätigt: nix!
Mittlerweile war dieses gedämpfte Grummeln in meiner Bauchgegend, welches ich nun klar als Hunger identifizierte, so stark geworden, dass es fast den Drang nach Sex übertönte. Und das war gefährlich. So wurde nun, bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht, mein Jagdinstinkt geweckt. Wo konnten in diesen Räumen noch Lebensmittel versteckt sein? Meine Bekanntschaft fummelte sich im Haar herum, es war anzunehmen, dass sie entweder sehr nervös war oder zunehmendes Paarungsverlangen hatte. In der absolut idiotischen Annahme, dass ihre eventuell positiven Gedankenströme auf mich übertragen werden könnten und mir somit bei der erfolgreichen und vor allem schnellen Suche nach Nahrung behilflich sein könnten, legte ich meine rechte Hand an ihre Hüfte, während ich mit der anderen Hand unentschlossen ihre Wange nestelte. Bruchteile von Sekunden, nachdem ich begriff, dass diese Technik keinerlei Erfolg versprechen konnte, kam mir ein Gedankenblitz. Gestern nachmittag war doch mein elfjähriger Cousin bei mir, wir spielten FIFA 2000 auf meiner Playstation und tranken eiskalte Zitronenlimonade. Er hatte eine Prinzenrolle dabei, die er aber wegen Bauchschmerzen, welche vermutlich auf den Unmengen von Limo gründeten, nicht zu Ende essen konnte. Diese Prinzenrolle musste sich hier irgendwo befinden. Eiligen Schrittes stürmte ich zurück ins Wohnzimmer; den Krombacher-Kasten vollkommen ignorierend, und inspizierte jene Ecke, in welcher sich der Fernseher und die Playstation befanden. Und da lag sie - eine immer noch knapp halbvolle, knackige Prinzenrolle. Einladend glänzte die Schokolade im Lichte der Morgensonne, die sich mittlerweile hinter den Hochhäusern am Horizont ankündigte.
Trotz schwerer Knochen und akuter Müdigkeit im Endstadium griff ich mir voller Vorfreude die Prinzenrolle, schnappte mir meine Bekanntschaft, die immer noch in ihren Haaren fummelnd in der Küche stand und machte mich auf den Weg in mein Schlafzimmer. Dort angelangt, räumte ich das Bett von sämtlichen Sportklamotten, welche ich gestern beim Fußball trug, einer leeren Cola-Flasche sowie unzähligen Plüschteddys, und setzte mich neben meine Bekanntschaft, die sich schon mal vorsorglich ihres Tops entledigt hatte und demnach nur noch in einem weißen Spitzen-BH neben mir posierte. Doch meine Entscheidung, zuerst die Kekse zu vernaschen und dann sie, stand. Also stopfte ich ohne zu zögern das erste Gebäck in mich hinein. Dem zweiten erging es nicht viel besser. Beim dritten Keks ließ ich mir schon mehr Zeit, ich schloß die Augen und genoß das verführerische Knacken; nach dem vierten brachte ich es sogar fertig, meiner erwartungsvoll dreinschauenden Bekanntschaft auch einen anzubieten. Auch bei ihr schien sich der Hunger bemerkbar zu machen, voller Wonne ließ sie den Keks zwischen ihren mittlerweile nicht mehr ganz so roten Lippen verschwinden. Wie Dritte-Welt-Kinder machten wir uns also über die Prinzenrolle her, und einen kurzen Moment musste ich an das Krümelmonster aus der Sesamstrasse denken, wie ich uns so sitzen sah. Ihr Grinsen verriet, dass sie ähnliche Gedanken hatte. Sollte uns die Prinzenrolle, diese unscheinbare 1,98€-Packung Butterkekse mit Schokoladenfüllung, die mittlerweile stark vorangeschrittene Nacht gerettet haben?
So allmählich wich der Hunger wieder der Lust; in einem hohen Bogen flog die fast leere Packung in hohem Bogen Richtung Tür. Das war dann wohl der Auftakt zum eigentlichen Hauptteil; frisch gestärkt fielen wir beide übereinander her, nach und nach folgten der leeren Kekspackung wahllos ausgewählte Kleidungsstücke. Ich spürte ihren heißen Atem an meinem Ohr, als ich ihr die Jeans auszog; ich sah das besessene Glitzern in ihren Augen, als ich ihr den BH vom Leib riss; ich spürte ein starkes Kribbeln an meinem Oberschenkel, als ich gerade dazu ansetzte, auch ihren Slip in Richtung Tür segeln zu lassen. Ich hielt nur kurz inne, kratzte mich, da ich ein Kribbeln an dieser Stelle und in diesem Moment eher für ungewöhnlich hielt, dachte mir aber nichts weiter dabei und stürzte mich sofort wieder auf meine kleine Sexgöttin. Wild schleuderte es uns umher, wie befreit von jeglicher Müdigkeit genossen wir den körperlichen Kontakt, die Erregung und den Trieb; wäre da nicht erneut dieses Kribbeln, diesmal vom Po bis hinauf zu meinem Rücken, es war mittlerweile auch kein angenehmes Kribbeln mehr, sondern schon ein penetrantes Kratzen. Auch meine Bettpartnerin bestätigte mich, was mir zeigte, dass nicht nur ich diese unwirklichen Halluzinationen hatte. Jeglicher Versuch, das Kratzen zu ignorieren, scheiterte; an störgeräuschfreien Sex war nicht mehr zu denken. Nach kurzem Überlegen und nicht ganz so kurzen Schimpftiraden entschloss ich mich, der Ursache für dieses nervenaufreibende Kratzen auf den Grund zu gehen. Nachdem ich mich über Plüschteddys und Sportklamotten hinweg zum Lichtschalter durchgekämpft hatte, wurde mir klar, dass es weder eine ansteckende Hautkrankheit noch Einbildung war, was uns plagte, und ich wünschte mir eine Peitsche zur Hand, um mich selber zu strafen. Es waren die Kekskrümel, welche sich zu Hunderten und Tausenden in meinem Bett verteilt hatten und nun zum Liebeskiller wurden. Eben jene Kekskrümel - selbstverständlich in einer anderen Konsistenz - sollten mir nach meinen ursprünglichen Plänen die Nacht retten, doch wahrscheinlich war der Gedanke an das Krümelmonster eine Eingebung und hätte mir Warnung sein müssen. Entnervt nahm ich das Bettlaken, ging auf den Balkon und beförderte die lästigen Krümel auf die unter mir an der Bushaltestelle stehenden Passanten, die sich bereits auf den Weg zur Arbeit machten. Dann betrachtete ich noch kurz die schon nicht mehr ganz so tief stehende, aber immer noch purpurrote Morgensonne, ignorierte die spitze Empörung der Passanten unter mir und ging zurück in meine Wohnung. Dort angelangt, machte ich einen kurzen Abstecher auf die Toilette, um mich auch des letzten Tropfens Heineken zu entledigen, bevor ich mich zurück ins Schlafzimmer begab, um mich nun ganz meiner Bekanntschaft zu widmen. Keine störenden Krümel, die wahrscheinlich einfach nur neidisch waren auf mein Glück mit dieser Frau - bei diesem Gedanken wurden meine Schritte schneller. Voller Elan warf ich mich zu ihr ins Bett, beugte mich über sie, um ihr ein zartes "Bin wieder da, Baby..." ins Ohr zu hauchen, musste allerdings feststellen dass sie gleichmäßig und tief atmete - normalerweise ein untrügliches Zeichen für einen festen Schlaf. Ich sprach sie an, doch es war nichts mehr zu machen: sie schlief...
Frustriert und müde ging ich ins Wohnzimmer, legte mich auf die Couch, nahm noch einen großen Schluck aus der Flasche Cognac, welche neben dem Sofa stand, zog mir eine gelbe Stoffdecke über den Kopf, schloss die Augen und flüsterte vor mich hin: "Loser..."
07:24 Uhr