Mitglied
- Beitritt
- 08.01.2024
- Beiträge
- 306
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Nachtschattengewächs
Fast fünfzig Jahre. Beinahe ein halbes Jahrhundert sind wir schon verheiratet. Schau sie dir an. Zauberhaft, wie sie lächelt.
Ich liebe dich, formte Werner die drei Worte mit dem Mund, während er Sylvia durch die Glasscheibe zum Wintergarten hinaus betrachtete. Eingezwängt in seinem Sessel atmete Werner schwer und rauchte Pfeife. Der Fernseher lief, Richterin Barbara Salesch, auf der Sessellehne balancierte er eine halbvolle Schüssel Kartoffelchips.
Sylvia bügelte Wäsche, hielt den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt, winkte ihm lächelnd zu.
Werner griff zur Fernbedienung, die auf seinem ausladenden Bauch wartete, und zappte dann durch die Programme. Abwechselnd schob er sich Chips und Pfeife in den Mund, sein massiger Rücken klebte schweißnass an dem Leder. Fußball, Werbung, ein Adler am Nest, Ukraine, Werbung, noch einmal der Adler und zurück zur Richterin.
„Schlimmer, ja“, sagte Sylvia. „Nein, er steht ja kaum mehr auf.“ Verstohlen blickte sie zu ihrem Mann hinüber, der nun mit leerem Blick vor der Glotze im Sessel hing.
„Ich weiß“, sagte sie mit sorgenvoller Miene, „was soll ich machen?“ Sylvia stellte das Bügeleisen beiseite, faltete ein letztes Hemd und verabschiedete sich von ihrer Freundin: „Du, ich muss los. Ja, werd ich. Machs gut, bis dann.“
„Kaffee?“, fragte Sylvia um Heiterkeit bemüht.
„Gerne“, antwortete Werner beiläufig.
Sylvia lief an ihrem Mann vorüber, berührte ihn flüchtig an der Schulter. In der Küche stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie setzte sich einen Moment an den Tisch, dann zwang sie sich aufzustehen und ging zur Kaffeemaschine.
„Beinahe hätten Sie ihren Mann damit umgebracht“, sagte Barbara Salesch, als Werner sich keuchend aus dem Sessel hievte. Zweimal hatte er sich vergangene Woche versehentlich eingenässt. Seitdem quälte er sich, wann immer er daran dachte, aus dem Sessel. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren.
Im Bad angelangt wurde ihm klar, dass er nicht musste. Werner verharrte einen Moment, starrte die Kloschüssel an. Dann drehte er sich um und ging zum Handwaschbecken. Während kaltes Wasser über seine taube linke Hand lief, betrachtete er sich im Spiegel. Mit der rechten hob er seine gefühllose Wange an, dann wandte er rasch den Blick ab.
Im Esszimmer blieb Werner schwer atmend stehen. Seine Knie schmerzten, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Durch die halb geöffnete Küchentür konnte er Sylvia mit Tassen hantieren sehen, von der anderen Seite her hörte Werner die Richterin schwadronieren. Sylvia gab vier Stücke Zucker in eine der Tassen, sie selbst trank ihren Kaffee schwarz. Dann griff sie in ihre Gesäßtasche und zog ein kleines, rundes Behältnis hervor. Sie öffnete es, entnahm zwei Pillen und ließ sie in die Tasse mit dem Zucker gleiten.
Werner verstand nicht, was vor sich ging und fühlte sich mit einem Mal bedroht. Urplötzlich übermannte ihn große Angst, die er nicht einzuordnen wusste. Als Sylvia sich anschickte, den Kaffee zu servieren, wandte er sich rasch um und beeilte sich zum Sessel zu kommen.
„Ich will keinen Kaffee!“, sagte er bestimmt, noch ehe Sylvia ganz im Zimmer war.
„Warum denn?“, fragte Sylvia verwundert, sah ihrem Mann dabei zu, wie er Kartoffelchips auf dem Teppich verteilte, als er sich in den Sessel fallen ließ.
„Ich will nicht!“, wiederholte Werner trotzig, starrte dabei auf den Fernseher, wo eben eine Frau in Handschellen abgeführt wurde.
Sylvias Kinn begann zu zittern. Eine kurze Weile betrachtete sie ihren Mann, der mit fahrigen Bewegungen versuchte, seine Pfeife erneut zu entfachen. Dann ging sie mit den Tassen in Händen hinaus.
Spät nachmittags fuhr Sylvia zum Einkaufen und Werner stand auf. Am Fenster stehend vergewisserte er sich, dass seine Frau weggefahren war.
Werner schleppte sich zur Terrassentür und in den Garten hinaus. Bei den Sträuchern auf der Westseite angelangt, spürte er zu spät, dass er zur Toilette musste. Einen Moment lang nestelte er am Reißverschluss seiner Hose, obgleich sich längst ein dunkler Fleck unterhalb seines Schritts ausbreitete. Unschlüssig verweilte er einen Augenblick, sah über die Schulter zum Haus hinüber, dann pflückte er die blauschwarzen Beeren und schob sie in die Hosentasche.
Zurück im Haus lief Werner direkt in die Küche, zog einen der Stühle unterm Tisch hervor und ließ sich schwer atmend darauf fallen.
Noch immer keuchend erhob er sich nach Minuten, kramte die Beeren aus seiner Tasche und eine Gabel aus einem der Schübe. Gegen den Tisch gelehnt zerdrückte er die Früchte und nahm dann den matschigen Brei mit bloßer Hand von der Holzplatte auf.
Als er das halbvolle Marmeladenglas zurück in den Kühlschrank stellte, fragte sich Werner, was er damit vorhatte. Es war abends, dessen war er sich sicher. Daher griff er zu Wurst und Käse und schob die Kühlschranktür zu. Am Tisch sitzend wunderte er sich über den Fleck, nahm Brot aus dem bereitstehenden Korb und wischte mit dem Ärmel über die verbliebenen Beerenreste.
Tags drauf erwachte er später als gewohnt. In der Küche wird Sylvia längst beim Frühstück sitzen, Werner freute sich auf die Zeit mit ihr. Auf dem Stuhl an seinem Bett lag frische Kleidung. Sylvia kümmerte sich fürsorglich um ihn, das rührte Werner. Minuten später bemühte er sich, rasch nach unten zu kommen.
„Sylvia!“, rief er beschwingt auf den letzten Metern zur Küche. „Stell dir vor, was ich geträumt hab“, sagte er, als er plötzlich wie vor den Kopf geschlagen stehen blieb. Auf den Fliesen lag Sylvia in einer Lache Kaffee. Neben ihr die Scherben einer zerbrochenen Tasse und ein kleines, weißes Behältnis, aus dem etliche Pillen hervorgekullert waren.
Mit Mühe hob Werner etwas später das Etikett vom Boden auf, das sich von der Plastikverpackung gelöst hatte. Smoksan las er in großen Lettern.