Was ist neu

Nachtschicht

Seniors
Beitritt
28.12.2009
Beiträge
2.375
Zuletzt bearbeitet:

Nachtschicht

Warmer Wind weht durch das Fenster. Die Straßen sind dunkel und verlassen. Die Lichter des Krankenhauses glühen hinter den Häuserreihen.
Nächstes Mal machs ich mit der Zunge, sagt er und hält meinen Knöchel fest.
Ich schließe die Augen.

Mittags rufe ich D. an.
Wir treffen uns an der alten Schule.
Seine Haare sind länger geworden und er trägt jetzt Stiefel.
Wir küssen uns auf den Mund, und er schmeckt so frisch und sauber wie ein kleiner Junge.
Wir setzen uns auf das Dach der Mensa.
Ich sehe die Baustelle; weiß glänzender Beton, Brachen, Metallgerüste.
Alles wird neu.
Ich habe die Schule gehasst, alles daran.
Alles wird neu.
Alles wird gut.
Er packt sein Dope aus.
Ich hab damit aufgehört, sage ich.
Ich hab seit einem Jahr nichts mehr geraucht, sage ich.
Oh, sagt er.
Ich lege ihm die Hand auf die Brust und sage: Leg dich hin.
Du musst das nicht tun, sagt er.
Ich will es aber tun, sage ich.
Oh, sagt er.

Mutter sagt, er habe Kultur. Dieser Mann hat Kultur! Er hat Kultur und auch Geld. Vielleicht viel Geld. Er liest Bücher und weiß, wie man seine Wäsche macht. Er ist selbstständig. Er kennt sich aus. Er ist viel gereist, er war in fremden Ländern, großen Städten. Geschäfte, Business.
Er sagt, ich soll nie etwas unterschreiben, hörst du? Keinen Vertrag, nichts.
Sie legt sich Puder auf und ich kämme ihr Haar. Es reicht ihr bis zu den Ellenbogen. Eines ihrer Augenlider zuckt.
Was ist los, frage ich, aber sie schüttelt den Kopf.
Nichts, sagt sie. Sie sagt: Es ist nichts. Ich hoffe nur, diesmal wird alles gut.
Alles wird gut.
Ich kämme ihr Haar, das so blond ist.
Sie atmet aus. Sie nimmt den Lippenstift. Rot, fragt sie. Oder?
Ich nicke.
Dann Rot, sagt sie. Sie sagt: Wir gehen aus. Endlich keine Nachtschicht mehr.

Nachts höre ich sie. Meine Mutter drückt ihr Gesicht in das Kissen. Er klingt wie immer.

Samstag. Ich mache Wäsche im Keller, sie arbeiten im Garten. Meine Mutter schneidet das Efeu kurz, er mäht den Rasen. Ich sehe sie durch das vergitterte Fenster. Ich höre, wie er sie etwas fragt, eine Handbewegung, Trinken, Gläser.
Die Haustür. Seine Schritte auf der alten Treppe.
Dreh dich um, sagt er. Wir müssen uns beeilen.
Ich beuge mich nach vorne und halte mich an einem Wäschekorb fest. Ich sehe mein Gesicht auf dem verchromten Deckel eines Mülleimers.
Mein Mund steht offen, als wolle ich etwas sagen.
Danach fragt er: Willst du auch etwas trinken? Bier? Orangensaft?

D. fragt: Vermisst du deinen Vater?
Ich sage, ich weiß es nicht.
Ich weiß es nicht.
Nein, ich vermisse ihn nicht.
D. sagt, ich glaube, ich würde meinen Vater vermissen.
Aber warum? Du hasst deinen Vater.
Er sagt: Ich hasse meinen Vater, trotzdem würde ich ihn vermissen.
Ich sage: Ich glaube, ich würde niemanden vermissen.

Mutter steht vor dem Fenster und trinkt Weißwein. Kleine Eiswürfel schwimmen im Glas. Sie hat sich verändert. Ihr Kinn, ihre Schultern. Sie hat auch etwas mit ihren Haaren gemacht. Ihre Haut sieht anders aus, dunkler. Sie trägt zwei große, glitzernde Ohrringe.
Sind die von ihm?, frage ich.
Wir werden ein paar Tage wegfahren, sagt sie. Sie sagt: Ich glaube, ich weiß, was er vorhat.
Wohin fahrt ihr?
Sie sagt: Frag nicht so viel. Es spielt keine Rolle, wohin wir fahren.
Ich glaube, ich vermisse Vater, sage ich.
Sie sagt: Ach ja? Was hat er denn Gutes für uns getan? Du hast keine Ahnung. Du bist noch ein Kind.

Ich trage den neuen Body, den er mir geschenkt hat, den ich nur für ihn tragen darf.
Ich stehe im Badezimmer, ich zittere, es ist kalt.
Er sagt: Wir sind ein paar Tage weg. Ich lasse dir Geld da.
Okay, sage ich.
Komm, sagt er und legt seine Hand auf meinen Hals. Er schiebt mir seinen Zeigefinger in den Mund und sagt: Sie schläft. Sie hatte zu viel Wein.

D. kommt. Die Wohnung ist leer. Wir trinken Bier und rauchen Zigaretten.
Er sagt: Du musst das nicht mit dir machen lassen.
Ich sage: Wir haben uns ein paar Jahre nicht gesehen.
Seine Hände sind immer noch die eines kleinen Jungen, zart und weiß. Er sitzt neben mir wie damals in der Klasse. Er ist sehr intelligent.
Ich sage: Ich würde gerne den Namen von jemandem stehlen und woanders leben.
Ja, sagt er. In einer anderen kleinen Stadt, wo niemand sich für dich interessiert.
Du hast Hände wie ein Mädchen, sage ich.
Oh, sagt er.
Wir bestellen Essen. D. mag Sushi. Es ist mir egal. Ich mache mir nichts aus Essen. Ich zahle mit seinem Geld, er hat es unter mein Kopfkissen gelegt.
D. isst das Sushi mit seinen Kinderhänden. Vielleicht ist er doch dumm, denke ich.
Nach dem Essen schauen wir einen Film, in dem es um Außerirdische geht.
Ich sage: Ich glaube, ich werde in meinem Leben mindestens dreimal heiraten.
Er lacht.
Ich werde jeden Ehemann betrügen. Betrügen ist so einfach.
Ja?, fragt er.
Sehr einfach, sage ich.

Er hat kaum Haare. Seine Brust ist so hell wie Milch und ganz glatt.
Hast du manchmal Angst, fragt er.
Nein, sage ich. Nie.
Ich habe ständig Angst.
Wovor?
Vor allem. Vor der Dunkelheit. Vor dir.

Es ist schon nachts, als ich aufwache. Ich gehe in die Küche und schaue aus dem großen Fenster. Die Krankenhauslichter glühen, als sei das Krankenhaus ein lebendes Wesen, als habe es einen Puls.
Du musst gehen, sage ich.
D. nickt und sucht seine Klamotten.
Ruf mich nicht mehr an. Ich muss zuerst jemand den Namen stehlen.

Meine Mutter kommt einen Tag früher nach Hause. Sie geht in ihr Schlafzimmer, öffnet ihren Schrank und schmeißt alle ihre Kleider auf das Bett.
Nein, sagt sie. Wir müssen das loswerden.
Was ist passiert, frage ich.
Darüber rede ich nicht mit dir.
Ach, sagt sie, als ich schon in der Tür stehe. Ich weiß natürlich, dass du kein Kind mehr bist.

Nachtschichten. Die nächsten Wochen sehe ich sie kaum. Ich sehe nur die glühenden Lichter des Krankenhauses. Ich finde die Ohrringe ganz unten in der Mülltonne. Ich lege sie unter mein Kopfkissen. Ich träume von Außerirdischen, die mich entführen und mich vollkommen umoperieren. Niemand erkennt mich wieder. Nicht meine Mutter. Nicht D. Ich träume, ich werde die nächste Frau meines Vaters. Ich betrüge ihn. Er betrügt mich.

Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst, sagt meine Mutter. Es ist sonntags, und sie hat frei. Wir sitzen im Garten und trinken Eistee. Sie trägt den Body, den er mir geschenkt hat, den ich nur für ihn tragen durfte.
Ja, sage ich. Natürlich.
Sie sagt: Manchmal vermisse ich deinen Vater auch.
Sie sagt: Es war nicht alles schlecht.

In der Nacht hole ich die Ohrringe unter dem Kopfkissen hervor und halte sie in den Händen, bis sie ganz warm werden.

 

Ich habe schon beim ersten Mal verstanden, dass der Vater mit der Tochter schläft. Noch einmal musste ich sie lesen, weil der Wendepunkt (der ja von Anfang an im Text ist, darum habe ich ihn noch mal gelesen) der ist, dass sie sich eine Beziehung mit ihm wünscht, seine nächste Frau werden will.

Hallo @Luzifermortus, und danke für deine Zeit und deinen Kommentar.

Ist eine interessante Lesart. Ich selber sehe es eher so, dass die Erzählerin nicht mit dem Vater, aber mit dem neuen Freund der Mutter schläft. Sie erinnert sich an ihren Vater, und es ist natürlich etwas verschwommen formuliert, die Geschichte wird da nicht deutlich, aber sie könnte natürlich auch ein erotisches Verhältnis zu ihrem Vater gehabt haben, man weiß es nicht.

Kann ich überhaupt lieben und was ist das? Ich habe es in Bezug auf ihren Charakter so gelesen, dass sie sich auch von sich selbst differenziert, vor allem beim zweiten Lesen dachte ich mir, dass es vielleicht eine Art Selbstschutz ist, dass sie weiß, dass die Beziehung zu ihrem Vater ihr nicht gut tut (ob nun zwischenmenschlich, d.h. konkret die Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater - weil man als Leser ja auch nicht weiß, wie lange das zwischen den beiden schon geht bzw. wie es angefangen hat, wie der Vater ist - oder aufgrund dessen, was ihr Umfeld, konkret die Gesellschaft, sagen würde. Alles bleibt offen und lässt Spielraum für eigene Gedanken, das finde ich sehr gut.).

Das liegt ja auch ein wenig in dem Charakter des Lesers begründet; jeder findet das, was er für sich braucht. Auch die eigene Erfahrungswelt spielt eine große Rolle: wenn man selbst aus einer dysfunktionalen Familie kommt, wird man so einen Text sicherlich anders rezipieren. Ich habe ganz grundsätzlich Schwierigkeiten mit generellen Rollenverteilungen, das eine Person nur so und so ist, die andere so und so. Das entsteht aus Dynamiken, da zerfließen Grenzen, vieles passiert unbewusst, oft auch, weil man keinen Indikator für ein angemessenes Verhalten hat, weil man emotional und sozial isoliert ist. Das ist etwas, was ich auch als Autor im Text einlösen möchte, deswegen ist hier auch nichts festgelegt, und das scheint ja einige zu überfordern. Man liest halt das heraus, was man herauslesen möchte, auch wenn andere es ganz anders lesen. Diese offene Prinzip ist ja hier Trumpf; das ist auch etwas, was ich an den Geschichten von Christine Schutt so sehr schätze, das es keine Antworten gibt, sondern alles wie in so einem fiesen Gemälde von Bosch, nichts wird erklärt, alles ist möglich, sie sind auch destruktiv und abgründig, und ich mag es ja, wenn einem Texte an die Nieren gehen, weil je unangenehmer sie sind, desto mehr sie einen beschäftigen, desto mehr haben sich auch mit einem selbst zu tun, finde ich.
Dieser eine Moment, in dem man jemanden bewundert und irgendwo auch auf ein kleines Potest stellt und dann macht etwas so Dummes oder Unerwartetes oder in diesem Fall Primitives, dass man sich einfach fragen muss: Wtf? Das hat mir auf jeden Fall ein Lächeln ins GEsicht gezaubert.
Ich denke, hier ist ja auch die Erzählerin alles andere als gefestigt, sie erscheint zwar cool und abgeklärt und irgendwie auch distanziert, aber das ist auch ein Mittel des Textes, diesen Schein zu erzeugen und somit auch den Abgrund zu verschleieren, der dahinter liegt, ein wenig der Tanz auf dem Drahtseil. Nichts darf ja in solchen Texten explizit werden, dann dann gibt es kein Geheimnis mehr, man darf das Objekt des Erzählens nicht verraten.
Den Namen und damit die ganze Identität, sie lässt quasi alles was sie jetzt ausmacht hinter sich (so wie das auch mit den Aliens kommt, die sie vollständig umoperieren)
Das ist ja eine unmögliche Flucht, und ich denke, sie weiß das auch, deswegen ist es auch eine Traumsequenz im Text. Der Vater ist für mich eine Sehnsuchtsfigur, aber eher in dem Sinne, dass der Vater für etwas Intaktes steht, für etwas Komplettes, etwas nicht Zerbrochenes, sie rekurriert da mehrmals drauf, und für mich ist das ein Zeichen der vergangenen Zeit, in der alles gut zu sein schien oder es auch gewesen ist. Das ist also ein Symbol eher, der Vater, und auch vielleicht auf mehrfache Art und Weise, weil diese Vaterfigur ja immer wieder durch neue Freunde der Mutter ersetzt wird, die Freunde sind aber ja austauschbar, da gibt es nie den Richtigen, und das ist jetzt schicksalhaft, man kann nichts mehr rückgängig machen, es ist, wie es ist, fataler Kreislauf.

Gruss, Jimmy

 

Nächstes Mal machs ich mit der Zunge, sagt er und hält meinen Knöchel fest.​


¿Stolper ich als einziger und letzter Mohikaner über ein lästiges „mach+s“, das dem folgenden „ich“ das verkürzt-verschwiegene „es“ vorenthält …?

Dazu bedarf es doch keine VHS-Kurses, lieber jimmy!

a) Schneide das „s“ aus und transportiere es

b) sorgsam hinter’s ich, um es dortselbst

c) lückenlos abzuladen.

Jetzt hab ich Durscht!,

In Bälde auf dem Felde,

Friedel

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom