Was ist neu

Nachtschicht

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28.12.2009
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Nachtschicht

Warmer Wind weht durch das Fenster. Die Straßen sind dunkel und verlassen. Die Lichter des Krankenhauses glühen hinter den Häuserreihen.
Nächstes Mal machs ich mit der Zunge, sagt er und hält meinen Knöchel fest.
Ich schließe die Augen.

Mittags rufe ich D. an.
Wir treffen uns an der alten Schule.
Seine Haare sind länger geworden und er trägt jetzt Stiefel.
Wir küssen uns auf den Mund, und er schmeckt so frisch und sauber wie ein kleiner Junge.
Wir setzen uns auf das Dach der Mensa.
Ich sehe die Baustelle; weiß glänzender Beton, Brachen, Metallgerüste.
Alles wird neu.
Ich habe die Schule gehasst, alles daran.
Alles wird neu.
Alles wird gut.
Er packt sein Dope aus.
Ich hab damit aufgehört, sage ich.
Ich hab seit einem Jahr nichts mehr geraucht, sage ich.
Oh, sagt er.
Ich lege ihm die Hand auf die Brust und sage: Leg dich hin.
Du musst das nicht tun, sagt er.
Ich will es aber tun, sage ich.
Oh, sagt er.

Mutter sagt, er habe Kultur. Dieser Mann hat Kultur! Er hat Kultur und auch Geld. Vielleicht viel Geld. Er liest Bücher und weiß, wie man seine Wäsche macht. Er ist selbstständig. Er kennt sich aus. Er ist viel gereist, er war in fremden Ländern, großen Städten. Geschäfte, Business.
Er sagt, ich soll nie etwas unterschreiben, hörst du? Keinen Vertrag, nichts.
Sie legt sich Puder auf und ich kämme ihr Haar. Es reicht ihr bis zu den Ellenbogen. Eines ihrer Augenlider zuckt.
Was ist los, frage ich, aber sie schüttelt den Kopf.
Nichts, sagt sie. Sie sagt: Es ist nichts. Ich hoffe nur, diesmal wird alles gut.
Alles wird gut.
Ich kämme ihr Haar, das so blond ist.
Sie atmet aus. Sie nimmt den Lippenstift. Rot, fragt sie. Oder?
Ich nicke.
Dann Rot, sagt sie. Sie sagt: Wir gehen aus. Endlich keine Nachtschicht mehr.

Nachts höre ich sie. Meine Mutter drückt ihr Gesicht in das Kissen. Er klingt wie immer.

Samstag. Ich mache Wäsche im Keller, sie arbeiten im Garten. Meine Mutter schneidet das Efeu kurz, er mäht den Rasen. Ich sehe sie durch das vergitterte Fenster. Ich höre, wie er sie etwas fragt, eine Handbewegung, Trinken, Gläser.
Die Haustür. Seine Schritte auf der alten Treppe.
Dreh dich um, sagt er. Wir müssen uns beeilen.
Ich beuge mich nach vorne und halte mich an einem Wäschekorb fest. Ich sehe mein Gesicht auf dem verchromten Deckel eines Mülleimers.
Mein Mund steht offen, als wolle ich etwas sagen.
Danach fragt er: Willst du auch etwas trinken? Bier? Orangensaft?

D. fragt: Vermisst du deinen Vater?
Ich sage, ich weiß es nicht.
Ich weiß es nicht.
Nein, ich vermisse ihn nicht.
D. sagt, ich glaube, ich würde meinen Vater vermissen.
Aber warum? Du hasst deinen Vater.
Er sagt: Ich hasse meinen Vater, trotzdem würde ich ihn vermissen.
Ich sage: Ich glaube, ich würde niemanden vermissen.

Mutter steht vor dem Fenster und trinkt Weißwein. Kleine Eiswürfel schwimmen im Glas. Sie hat sich verändert. Ihr Kinn, ihre Schultern. Sie hat auch etwas mit ihren Haaren gemacht. Ihre Haut sieht anders aus, dunkler. Sie trägt zwei große, glitzernde Ohrringe.
Sind die von ihm?, frage ich.
Wir werden ein paar Tage wegfahren, sagt sie. Sie sagt: Ich glaube, ich weiß, was er vorhat.
Wohin fahrt ihr?
Sie sagt: Frag nicht so viel. Es spielt keine Rolle, wohin wir fahren.
Ich glaube, ich vermisse Vater, sage ich.
Sie sagt: Ach ja? Was hat er denn Gutes für uns getan? Du hast keine Ahnung. Du bist noch ein Kind.

Ich trage den neuen Body, den er mir geschenkt hat, den ich nur für ihn tragen darf.
Ich stehe im Badezimmer, ich zittere, es ist kalt.
Er sagt: Wir sind ein paar Tage weg. Ich lasse dir Geld da.
Okay, sage ich.
Komm, sagt er und legt seine Hand auf meinen Hals. Er schiebt mir seinen Zeigefinger in den Mund und sagt: Sie schläft. Sie hatte zu viel Wein.

D. kommt. Die Wohnung ist leer. Wir trinken Bier und rauchen Zigaretten.
Er sagt: Du musst das nicht mit dir machen lassen.
Ich sage: Wir haben uns ein paar Jahre nicht gesehen.
Seine Hände sind immer noch die eines kleinen Jungen, zart und weiß. Er sitzt neben mir wie damals in der Klasse. Er ist sehr intelligent.
Ich sage: Ich würde gerne den Namen von jemandem stehlen und woanders leben.
Ja, sagt er. In einer anderen kleinen Stadt, wo niemand sich für dich interessiert.
Du hast Hände wie ein Mädchen, sage ich.
Oh, sagt er.
Wir bestellen Essen. D. mag Sushi. Es ist mir egal. Ich mache mir nichts aus Essen. Ich zahle mit seinem Geld, er hat es unter mein Kopfkissen gelegt.
D. isst das Sushi mit seinen Kinderhänden. Vielleicht ist er doch dumm, denke ich.
Nach dem Essen schauen wir einen Film, in dem es um Außerirdische geht.
Ich sage: Ich glaube, ich werde in meinem Leben mindestens dreimal heiraten.
Er lacht.
Ich werde jeden Ehemann betrügen. Betrügen ist so einfach.
Ja?, fragt er.
Sehr einfach, sage ich.

Er hat kaum Haare. Seine Brust ist so hell wie Milch und ganz glatt.
Hast du manchmal Angst, fragt er.
Nein, sage ich. Nie.
Ich habe ständig Angst.
Wovor?
Vor allem. Vor der Dunkelheit. Vor dir.

Es ist schon nachts, als ich aufwache. Ich gehe in die Küche und schaue aus dem großen Fenster. Die Krankenhauslichter glühen, als sei das Krankenhaus ein lebendes Wesen, als habe es einen Puls.
Du musst gehen, sage ich.
D. nickt und sucht seine Klamotten.
Ruf mich nicht mehr an. Ich muss zuerst jemand den Namen stehlen.

Meine Mutter kommt einen Tag früher nach Hause. Sie geht in ihr Schlafzimmer, öffnet ihren Schrank und schmeißt alle ihre Kleider auf das Bett.
Nein, sagt sie. Wir müssen das loswerden.
Was ist passiert, frage ich.
Darüber rede ich nicht mit dir.
Ach, sagt sie, als ich schon in der Tür stehe. Ich weiß natürlich, dass du kein Kind mehr bist.

Nachtschichten. Die nächsten Wochen sehe ich sie kaum. Ich sehe nur die glühenden Lichter des Krankenhauses. Ich finde die Ohrringe ganz unten in der Mülltonne. Ich lege sie unter mein Kopfkissen. Ich träume von Außerirdischen, die mich entführen und mich vollkommen umoperieren. Niemand erkennt mich wieder. Nicht meine Mutter. Nicht D. Ich träume, ich werde die nächste Frau meines Vaters. Ich betrüge ihn. Er betrügt mich.

Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst, sagt meine Mutter. Es ist sonntags, und sie hat frei. Wir sitzen im Garten und trinken Eistee. Sie trägt den Body, den er mir geschenkt hat, den ich nur für ihn tragen durfte.
Ja, sage ich. Natürlich.
Sie sagt: Manchmal vermisse ich deinen Vater auch.
Sie sagt: Es war nicht alles schlecht.

In der Nacht hole ich die Ohrringe unter dem Kopfkissen hervor und halte sie in den Händen, bis sie ganz warm werden.

 

Nächstes Mal machs ich mit der Zunge, sagt er und hält meinen Knöchel fest.​


¿Stolper ich als einziger und letzter Mohikaner über ein lästiges „mach+s“, das dem folgenden „ich“ das verkürzt-verschwiegene „es“ vorenthält …?

Dazu bedarf es doch keine VHS-Kurses, lieber jimmy!

a) Schneide das „s“ aus und transportiere es

b) sorgsam hinter’s ich, um es dortselbst

c) lückenlos abzuladen.

Jetzt hab ich Durscht!,

In Bälde auf dem Felde,

Friedel

 

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