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Nachtwache
Uhrzeit: irgendwann nach 01:00
Ich kann den Novembermond durch das Fenster meines Schlafzimmers sehen. Er klebt am Firmament wie eine käsige Pigmentstörung inmitten des nächtlichen Dunkels. Lustlos haben sich einige Sterne dazugesellt, fahl schimmernde Teelichter in den Händen verirrter Sandmännchen.
Durch das gekippte Fenster dringen die Fahrgeräusche von der Autobahn herein. In guten Nächten erinnert es eher an kaum vernehmbares Meeresrauschen, aber seit ungezählten Nächten ist es störender Lärm.
Bei geschlossenem Fenster kann ich nicht schlafen; ich hätte das irrationale Gefühl verstopfter Atemwege. Wie unsinnig angesichts der drei Schachteln Zigaretten, die ich täglich wie ein leistungsstarker Katalysator im finalen Produkttest inhaliere. Eines Tages wird vielleicht der Schwarze Mann an meine Tür pochen und mir eine Wundertüte überreichen, in der sich ein miniaturhafter Marlboro-Mann befindet, der wie ein Kastenteufel auf einer Spiralfeder auf und nieder wippt und hustend ein Schild schwenkt, auf dem "Krebsklinik" steht.
Come to where the cancer is...
Ich verdränge den Gedanken und wälze mich auf die andere Seite. Die Augen fest geschlossen, ein Bein über die Bettdecke geschlagen, erzähle ich mir in Gedanken eine Geschichte. Das hat früher stets geholfen. Aber der Zauber von einst entfaltet seine Wirkung nicht mehr – Magie ist etwas für Kinder und liebende Menschen.
Statt dessen tauchen die alten Geschichten wieder auf. Geschichten, deren Handlungen ich freiwillig nie erdacht hätte.
Da sind so viele Gesichter, ruckartig aufgezwungen in einer verwirrenden chronologischen Willkür, wie bei einem falsch zusammengeleimten, von arthritischen Fingern vorgeführten Daumenkino. Da sind so viele Namen. So viele Orte. So viele Begebenheiten. Da ist so viel...
In meiner Brust hämmert ein dröhnender Baß bis in meine Ohren hinauf. Der Kilometerzähler läuft eindeutig zu schnell, dabei bewege ich mich doch gar nicht von der Stelle.
Je mehr ich mich darauf konzentriere, mich nicht zu konzentrieren, desto angespannter werde ich. Resigniert öffne ich schließlich die Augen und setze mich auf. Kein klebriger Film über den Pupillen, kein verschwommener Blick. Ich bin hellwach. Erschöpft zwar, aber dennoch hellwach.
Der Weg ins Bad ist nicht weit. Das kalte Wasser ist unangenehm, aber es wäscht den Schweiß von meiner Stirn. Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel, der unter einer heftigen Akne aus getrockneten Zahnpastaspritzern leidet. In dem gedimmten Licht wirkt es wie ein von nachlässigen Händen modellierter Hefeteig, in den jemand wassergetränkte Rosinen gestopft hat. Das bin nicht ich, niemals.
Leise, ganz so, als könnte ich jemanden wecken, gehe ich ins Wohnzimmer. Mit meinem Gleichgewichtssinn scheint etwas nicht zu stimmen. Erinnerungen an durchzechte Nächte mit Freunden werden so wach wie ich selbst. Es riecht unangenehm nach kaltem Rauch.
Ich taste mich zu meinem Schreibtisch, setze mich und schalte die Tischlampe an.
Im Lichtkegel räkelt sich die angebrochene Packung Zigaretten. Ich fische mir eine heraus und atme den Cowboy ein. Er trägt seine Sporen noch; es kratzt in der Lunge.
Der restliche Schluck Kaffee in der Tasse ist kalt und schmeckt abstoßend; aber es ist trotz allem Kaffee, und ich schütte ihn hinunter.
Dann schalte ich den Rechner ein.
Uhrzeit: 04:00
Die Systemzeit muß sich verstellt haben. Es kann doch nicht schon wieder 4.00 Uhr sein...
Ein Blick auf mein Handy. Die Uhrzeit stimmt. Ich habe eine Kurzmitteilung empfangen. Ich? Mit zitternden Fingern rufe ich den Text ab. Natürlich nicht von ihr; welch vermessener Gedanke. Der Netzbetreiber bietet mir einen Zusatzdienst an. Ich lösche die Mitteilung. Für Zusatzdienste habe ich kein Geld.
Auf der Ablage neben mir häufen sich ungeöffnete Umschläge. Rechnungen, Mahnungen, Aufforderungen.
Irgendwo darunter Absagen.
...bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen...
...für einen anderen Bewerber entschieden...
...und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft...
Leckt mich am Arsch. Aber wischt euch wenigstens vorher die Zunge ab.
Uhrzeit: 04:30
Es fällt mir schwer, in ganzen Sätzen zu denken. Ich kann nichts tun, kann mich nicht konzentrieren. Nicht lesen, schon gar nicht schreiben. Der Fernseher erbricht um diese Zeit nur die übelriechenden Sendereste vom Vortag.
Die Müdigkeit reicht nicht aus. Ich würde sie wie meine Socken abstreifen, wenn ich jetzt ins Bett gehe.
Vielleicht hilft die Musik ja etwas. Leise, melancholische Klänge. Noten aus der Vergangenheit.
Ich könnte es mir leicht machen und mir für die nächste Nacht eine Flasche Wein kaufen. So, wie ich es über ein Jahr lang getan habe. Aber ich will das nicht mehr. Billiger Wein ist teuer erkaufter Schlaf. Und die Alpträume kommen dennoch.
In der Warmhaltekanne ist noch Kaffee. Ich gieße ihn in die Tasse, aber der Kaffee ist beinahe kalt. Die Kanne hält nicht warm. Sie verspricht es nur. Das kommt mir bekannt vor.
Uhrzeit: 05:00
Keine Erinnerung an die Gedanken der letzten halben Stunde. Umso einprägsamer das Muster der Rauhfasertapete vor meinen Augen. Jede Pore seit Monaten unverändert.
Schließe die Augen und lausche der Musik.
Somewhere over the Rainbow
Skies are blue
And the dreams that you dare to dream
Really do come true
Vielleicht besser, nicht mehr zu schlafen. Sollte für die kommende Nacht doch schlaffördernd sein. Funktioniert aber nicht. Zu oft schon versucht. Fehlanzeige. Liegt wohl an der Dunkelheit. Schlafe nur, wenn es hell ist.
Uhrzeit: 05:15
In der Küche türmt sich Geschirr. Muß mal wieder spülen. Später. Jetzt will ich Apfelsaft. Nach dem Öffnen nur noch vier Tage haltbar. Wie lange steht der schon im Kühlschrank? Weiß es nicht. Trinke einen Schluck.
Uhrzeit: 05:30
Wohlbekannter Schwindelanfall. Schließe die Augen, aber die blitzenden Lichtpunkte bleiben. Tanzen wie Glühwürmchen. Mir ist schlecht. Tief durchatmen, nur einige Male tief durchatmen. Dann ist es vorüber. Es ist immer noch vorübergegangen.
Uhrzeit: 05:45
Der Stuhl schwankt. Tapetenmuster zerläuft in Schlieren. Knie schmerzen. Rechner aus, Licht aus. Taste mich hinüber ins Schlafzimmer. Streife die Socken ab. Die Müdigkeit bleibt. Lege mich auf die Seite. Mond ist nicht mehr da.
Uhrzeit: 06:00
Irgendwo werden Rolläden hochgezogen. Menschen werden wach. Schlaf hat jetzt weniger zu tun. Schließe die Augen. Wird gleich hell. Nur ein paar Stunden. Nur ein paar...
Paar?
Träum schön...