Nackte Tatsachen
Hubert Bochlinsky radelte vergnügt, wie jeden Tag, hinab zum Meer. Die Sonne stach schon am frühen Morgen. Er wollte sich schnell noch etwas sonnen, ein kurzes, erfrischendes Bad in den Fluten nehmen und wieder nach Hause fahren, bevor die unerträgliche spanische Hitze kam.
In die kleine Bucht, die er vor kurzem ausfindig gemacht hatte, verirrten sich nur ganz selten andere Badegäste. Meistens war Hubert dort allein.
Wie jeden Morgen vergewisserte er sich, ob auch bestimmt niemand zu sehen war. Schnell streifte er T-Shirt und Turnhose ab und warf sich, wie Gott ihn geschaffen hatte, ins kühle Nass. Er schwamm weit hinaus und genoss seine nackte Freiheit.
Allerdings hatte er nicht bemerkt, dass ihm in gebührendem Abstand und völlig unauffällig zwei Buben auf ihren Mountainbikes gefolgt waren. Diese beiden Schlitzohren wussten nämlich von Bochlinskys heimlicher Leidenschaft. Die ältere Schwester des einen Jungen hatte der Familie erzählt, dass sie neulich einen wunderschönen kleinen Sandstrand gefunden hätte, sich dort aber so ein Lüstling herumtreibe. „Ein alter Knacker mit Hängebauch und na ja ...“ Über die restliche Beschreibung schwieg sie lieber. Sie konnte ja nicht wissen, dass sich Bochlinsky gerade wegen dieses Hängebauches und dem „Na ja“ nicht an den nahegelegenen FKK-Strand traute. Ihr flegelhafter Bruder und dessen Freund beschlossen jedenfalls, sich diesen Wüstling einmal näher anzusehen und ihm eine Abreibung zu verpassen.
Erfrischt und entspannt stieg Hubert aus dem Wasser und freute sich nun auf ein ausgiebiges Frühstück zu Hause. Verwundert schweifte sein Blick die Bucht entlang. Wo war sein Handtuch? Wo seine Hose, sein Hemd? Hatte ihn die Strömung so weit abgetrieben? Nein, es war seine Bucht. Verlassen lag da im Sand sein Fahrrad. Mehr nicht. Hinter den Dünen lugten noch kurz ein blonder und ein dunkler Haarschopf hervor. Hörte er Gespenster? War da nicht ein hämisches Gelächter hinter den Dünen?
Verzweifelt ließ sich der enthüllte Adam neben seinem Fahrrad in den Sand fallen. Alles Grübeln half ihm nicht aus seiner misslichen Lage. Wie um Gottes willen kam er nun nach Hause? Schließlich musste er durchs ganze Dorf radeln. Dort oben auf den Dünen standen ein paar Sträucher. Vielleicht könnte er sich wenigstens mit ein paar Blättern das Notwendigste abdecken. Mit aller Gewalt riss er ein paar Zweige von dem Busch. Doch der Versuch daraus eine Art Lendenschurz zu basteln schlug fehl. Die Dornen hatten bereits sichtbare Spuren an ihm hinterlassen.
Weit draußen im Meer hörte er fröhliches Lachen. Zwei Frauen tummelten sich in den Wellen und Hubert Bochlinsky sah darin seine Chance. Geduckt lief er auf einen Sandhügel. Von dort oben sah er unten am Strand Kleider liegen. Er robbte vorsichtig zu den Habseligkeiten der badenden Frauen, schnappte sich blindlings eine Bikinihose und rannte wie vom Teufel verfolgt zurück zu seinem Fahrrad. Große Gewissensbisse wegen des Diebstahls machte er sich nicht. In seinen Augen war das Notwehr. Außerdem glaubte er, dass weibliche Nackedeis lange nicht so viel Schadenfreude und Häme von männlichen Polizisten erfahren müssten, wie er.
In einem Affenzahn fuhr er ums ganze Dorf herum zu seinem Ferienhäuschen, immer in der Hoffnung, dass er keinem Bekannten begegnen möge. Er kam sich nämlich sehr komisch vor in diesem knappen, knallroten Bikinihöschen mit goldenem Lurex-Muster.
Seine Frau musste sich ausschütten vor Lachen, als sie ihn in diesem Aufzug sah und er ihr erzählte, was ihm widerfahren war.
Am Abend trafen sich die Bochlinskys mit einem befreundeten Ehepaar in ihrem Stammlokal. Huberts Frau hatte gerade einen Schluck aus ihrem Cocktailglas genommen und wäre beinahe daran erstickt, als sie hörte, wie am Nebentisch eine Dame immer noch sichtlich aufgeregt und empört erzählte: „Stellt euch vor, jetzt gibt es sogar hier schon diese Perverslinge, die Damenwäsche klauen. Wir haben ihn genau gesehen.“
Hubert saß den weiteren Abend wie versteinert mit dem Rücken zu dem Nachbartisch und wollte erst gehen, nachdem die bestohlenen Damen das Lokal verlassen hatten.