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Nakbe
Dies ist die Geschichte zweier Nationen. Zwei Völker, die sich gar nicht richtig kennen und doch hassen sie sich.
Beide haben Probleme, wie jedes andere Land.
Es gibt viele Arbeitslose, Armut und jeder meckert über sein Leben.
Und doch riss sie eines Tages eine Bombe in tausend kleine Fetzen.
Diese Bombe war wirklich eine Bombe. Es war ein Ereignis, das viele Menschen in den Tod schickte.
Dies ist die Geschichte zweier Menschen. Zwei Menschen, die sich gar nicht kennen und doch hassen sie sich.
Beide haben ein ganz normales Leben. Einen Job. Eine Familie. Freunde. Gemeinschaft mit anderen ihres Standes. Es geht beiden gut.
Und doch riss eines Tages eine Bombe ihr Leben in tausend kleine Fetzen.
Diese Bombe war keine Bombe. Es war die Geschichte ihres Landes.
Dies ist die Geschichte eines Krieges.
Es fing an, in einem Land im Osten schon vor mehr als 2000 Jahren. Dort, wo die Sonne aufgeht und ein neuer Tag anbricht. Der rote Schimmer des Sonnenaufgangs beschwor bereits die blutige Zukunft dieses Landes. Die Zeit verstrich und das Land trug viele Narben davon, die bis zum heutigen Tage nie richtig heilen konnten.
An einem solchen Morgen legte Hayat seinen Teppich zum Gebet zurecht. Ein Morgen, wie jeder andere und doch nicht wie der vorherige. Er dankte Allah für diesen Tag, für seine Eltern, Geschwister, Freunde und sein Studium. Und doch wusste er, dass Allah größeres mit ihm vorhatte.
Er ging zur Universität. Eine der besten Universitäten des Landes, mitten im Herzen der Stadt. Obwohl er sehr zufrieden war, mit dem, was er hatte, träumte Hayat vom Westen. Eines Tages, so beschloss er, würde er diesen Traum verwirklichen und nach Europa oder sogar nach Amerika reisen, um dort ein neues Leben anzufangen.
In einem anderen Stadtteil lebte Chaim. Er war ein junger Mann und gerade frisch verliebt. Im Glück seiner Gefühle dankte er Jahwe für diesen wunderbaren Tag und bat ihn um Schutz, Vernunft, Weisheit und um Kontrolle über seine Gedanken, die momentan nur von seiner Liebsten handelten. Er wickelte seinen Gebetsgürtel auf und machte sich fertig, um zur Lesung zu gehen. Der Weg dorthin war jedoch oftmals gefährlich. Die Hochschule war nicht weit von der Amerikanischen Botschaft entfernt und man musste durch einen islamischen Stadtteil.
Hayat war stolz auf diese Universität zu gehen. Er war einer der wenigen Moslem, die diese Schule besuchten. Nur die Besten wurden angenommen und die meisten seiner Freunde, hatten gar kein Interesse zu studieren, weil sie bereits Frau und Kinder versorgen mussten. Die Juden waren ihm egal. Er mochte sie zwar nicht, doch er wollte seinen Wissenshunger stillen.
Chaim hätte eigentlich kein Problem mit den Moslems, wenn diese kein Problem mit ihm gehabt hätten. Auf dem Weg zur Universität, warfen die Leute ihm verachtende Blicke zu. Er musste sehr vorsichtig sein. Doch an diesem Tag ließen ihn die Schmetterlinge in seinem Bauch ganz leicht werden und er tanzte auf den Wolken, dass ihn diese Blicke gar nicht erreichen konnten, so weit war er mit seinen Gedanken entfernt.
Zur gleichen Zeit betrat Hayat bereits das Foyer der Universität. Ein Plakat kündigte die Veranstaltung des Tages an. Hayat verzog das Gesicht bei dessen Anblick.
„Jüdisch-Christliche Begegnung. Theologieseminar mit Rabbiner Nadab Rosen, Pater Enriko Andula und Reverend Mathew Allen“
Er ging mit schnellen Schritten weiter, bevor ihm einer dieser Theologiestudenten über den Weg laufen würde. Hayat war der erste im Hörsaal. Das war er immer. Er wollte sich den besten Platz nicht von irgendeinem Juden wegschnappen lassen. Bis die Lesung anfing hatte er noch reichlich Zeit um seine Notizen nochmals durchzugehen und ein wenig zu lesen. Mit der Zeit kamen auch die anderen Studenten und die Reihen füllten sich.
Chaim verspätete sich jedoch, weil sein Linienbus mal wieder von der Polizei durchsucht wurde. Er hasste das. Bei so einer Aktion fühlte er sich immer so hilflos. Das nächste Mal würde er einfach einen Bus früher nehmen. Als er endlich in der Uni ankam, war der Saal schon gefüllt. Er war der letzte und schloss die Tür hinter sich.
Hayat ärgerte sich über den Spätling und erst recht, als der sich auch noch ausgerechnet neben ihn setzte. Es blieb Chaim nichts anderes übrig, denn der Sitz neben dem Moslem war der letzte Platz im Saal. Es besuchten nicht viele Moslems diese Lesung, es waren gerade mal vier. Einer von ihnen war Hayat. Die anderen Studenten waren alles Juden oder europäische und amerikanische Austauschstudenten. Die Lesung war auf Englisch und was Hayat besonders gefiel war, dass sein Professor Moslem war. Ein intelligenter Mann um die Fünfzig. Auch Chaim hatte großen Respekt vor dem Professor und schätzte ihn sehr, trotz seines Glaubens, denn er war ein unparteiischer Mann, der eine neutrale Meinung vertrat und nicht nur subjektiv über eine Sache urteilte. Chaim wünschte sich manchmal, dass alle Moslems so tolerant und menschlich wären wie Professor Saeed.
Der Schwerpunkt der Lesung lag an diesem Tag auf der Geschichte ihres Landes:
Die Zionistische Bewegung.
Hayat und Chaim mochten beide die Historie der Vergangenheit. Weniger jedoch die schwierige Geschichte ihres eigenen Landes. Das war schließlich ihr Leben über das beide bereits nur zu gut Bescheid wussten. Beide interessierten sich mehr für den Westen, die Französische Revolution, die Zeit der Aufklärung, die Institutionen der Europäischen Union, die verschiedenen politischen Systeme, die Entdeckung Amerikas und schließlich dessen Verfassung.
Die zionistische Bewegung war im Wesentlichen eine jüdische Reaktion auf das Auftauchen nationaler Bewegungen in Europa, von denen alle mehr oder weniger antisemitisch waren. Nachdem die Juden von den europäischen Nationen zurückgewiesen wurden, haben einige von ihnen sich entschieden, dem neuen europäischen Modell folgend, eine Nation für sich zu bilden und einen eigenen nationalen Staat, in dem sie Herr ihres eigenen Schicksals sein konnten, zu gründen. Das führte zur Entstehung eines eigenen jüdischen Staates in Palästina.
So fing Professor Saeed mit den Thesen des Uri Avnery an:
„Nun ich denke Sie sind alle schon sehr vertraut mit diesem Thema. Schließlich sind Sie bereits die fünfte Generation von Israelis und Palästinensern, die schon in diesen Konflikt hineingeboren wurden. Die gesamte psychische und physische Welt Ihrer Generation wurde von diesem Konflikt bestimmt, der alle Bereiche Ihres Lebens beherrscht. Habe ich nicht recht? Genau dies steht in der zweiten These Avnerys. Im Laufe dieses langen Konfliktes hat sich wie in jedem Krieg eine ungeheure Menge von Mythen, Geschichtsfälschungen, Propagandaslogans und Vorurteile auf beiden Seiten entwickelt. Das Verhalten von jeder der beiden Konfliktseiten wird durch ihr historisches Narrativ, die Art und Weise, wie sie die 120 jährige Geschichte des Konfliktes wahrnehmen, bestimmt. Die zionistische, historische Version und die palästinensische Version widersprechen einander jedoch völlig – sowohl allgemein, als auch in fast jeder Einzelheit. Seit Beginn des Konfliktes bis zum heutigen Tag hat die zionistische beziehungsweise israelische Führung in totaler Nichtbeachtung des palästinensischen Narrativ gehandelt. Selbst dann, wenn sie eine Lösung erreichen wollte, waren solche Bemühungen zum Misslingen verurteilt, weil die nationalen Aspirationen, Traumas, Ängste und Hoffnungen des palästinensischen Volkes ignoriert wurden. Etwas Ähnliches geschah auch auf der anderen Seite.“
Es stimmte, das wussten Hayat und Chaim. Sie waren beide auf einmal gar nicht mehr so stolz auf ihre Nationalität. Beide Seiten hatten Fehler gemacht, das sahen sie ein und beide Nationen haben immer nur egoistisch und in ihrem eigenen Interesse gehandelt.
„Nun, meine Aufgabe ist es nun Ihnen den genauen Ablauf der Geschehnisse darzulegen und Ihnen klar zu machen wo die Probleme unseres Landes herstammen. Die 6. These besagt, dass die Schlichtung eines solch langen historischen Konfliktes nur dann möglich ist, wenn jede Seite in der Lage ist, die psychisch-politische Welt der anderen Seite zu verstehen und bereit ist, mit der anderen Seite auf gleicher Augenhöhe – ebenbürtig - zu sprechen. Geringschätzige, machtorientierte, anmaßende, unsensible und ignorante Haltungen verhindern eine übereinstimmende Lösung.
Nun meine Herrschaften, der Kern dieses Konfliktes ist die Konfrontation zwischen der israelisch-jüdischen und der palästinensisch-arabischen Nation. Ich will Ihnen die Sinnlosigkeit dieses Konfliktes zeigen. Es ist ein trauriger, grausamer Krieg der unsere Welt teilt und ein nationaler Konflikt, auch wenn er religiöse, soziale und andere Aspekte hat. Trotzdem gibt es dafür weitaus friedvollere Lösungen als Attentate, Selbstjustiz und Rechthaberei."
Das war wahr. Saeed erzählte weiter und seine Studenten schrieben eifrig mit. Alle Daten und Zahlen waren zusammengesetzt ein Ganzes. Zusammen ergaben sie ein Bild. Es war die Geschichte ihres Landes. Kriege und Waffenstillstände, Diskussionen und Anschläge wurden genauestens besprochen. Die Zeit verging wie im Flug und Hayat und Chaim hörten mit größtem Interesse zu, obwohl sie das meiste schon wussten. Doch es war das erste Mal, dass sie den Inhalt und die Wichtigkeit dieser Worte erkannten. Und nun, da sie so nebeneinander saßen und dem Beitrag zuhörten, vergaßen sie ganz Jude und Moslem zu sein. Die Religion und die Herkunft spielten bei dieser Lesung gar keine Rolle mehr. Es ging um die Geschichte. Um ihre gemeinsame Geschichte.
„Der Kontrast zwischen den beiden nationalen Darstellungen erreichte seinen Höhepunkt im Krieg 1948, der von den Juden „Unabhängigkeitskrieg“ oder sogar „Befreiungskrieg“ genannt wurde und von den Arabern „Nakbe“, was so viel bedeutete wie…“
Weiter kam der Professor nicht. Es waren seine letzten Worte.
Während dieser Lesung, fand nebenan die Glaubensbegegnung statt. Eine Veranstaltung mit renommierten Geistlichen. Ein Treffen unter „Freunden“, das unter dem Einfluss der christlichen Nächstenliebe stand. Ein Treffen, das einige Leute mit Verachtung und Hass betrachteten.
Vier unauffällige, junge Männer, schlichen sich aufgrund dessen in die Universität. Mit Semtex und den Worten „Allahu ackbar“ nahmen sie Abschied von der Welt, sprengten die Universität in die Luft und rissen 367 Menschen mit in den Tod. Sie wollten ein Denkmal setzen, doch es war ein Grabstein für 367 Menschen. Juden, Amerikaner, Europäer und sogar einige ihrer eigenen Landsleute mussten sterben. Aus Patriotismus und religiöser Überzeugung begingen sie diese schreckliche Tat, die niemand vorhersehen konnte, denn es war eine ganz normale, harmlose Veranstaltung verschiedener Religionen, die keineswegs politische Auswirkungen hätte haben können. Was auch immer ihre Beweggründe waren, sie entstanden aus dem nationalen Konflikt und dessen religiösen und sozialen Aspekten, die das Leben dieser Leute prägte. Auch Chaim und Hayat waren tot. Der viel versprechende, intelligente Nachwuchs des Landes wurde somit ausgelöscht. Menschen, die in ihrem späteren Leben vielleicht Politiker hätten werden können, Botschafter, Vermittler oder Professoren. Der Hass der Juden auf die Palästinenser entfachte ein Feuer auf den Straßen der Stadt. Es waren nicht mehr die Menschen, die in dieser Stadt lebten, sondern es war der Hass und die Gewalt, die jeden Tag in einen blutigen Kampf verwandelten. Alle stritten sich wieder darum, wer nun Schuld an dem ganzen hatte. Alte Leute, Frauen und unschuldige Kinder wurden verletzt und noch weitere Menschen starben bei Straßenkämpfen. Diese Bombe war nur eine kleine unter vielen, die das Land in tausend kleine Fetzen riss. Und eines der letzten Worte des Professors spiegelte genau das Ausmaß dieser Attentate wider.
Nakbe - die Katastrophe.