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Narben
Kawi zügelte ihr Pferd auf der Düne und betrachtete das Dorf vor ihr im Tal. Die Wüste erstreckte sich bis zum bergigen Horizont und die Hitze ließ die Gebäude flimmern. Rechts schlängelte sich die große Schlucht in Richtung der Berge und teilte die Wüste gleich einer dunklen Wunde.
Sie seufzte und schloss die Augen, suchte das Bild der früheren Stadt, so wie sie in den Büchern beschrieben wurde. Ein Hafen am breiten Fluss, Felder in den Marschlanden und Menschen, die dort Reis anbauten. Kinder spielten im Wasser und soweit das Auge reichte, war die Welt grün. Wälder …
»Träumst du wieder von der Vergangenheit?«
Kawi öffnete die Augen und blickte die Gestalt neben ihr an. Wie sie saß Anui auf einem Pferd, er trug das gleiche weiße Hemd und die gleichen weißen weiten Hosen. Lediglich die rote Schärpe um seine Hüften unterschied ihn von ihr und ihren eintreffenden Gefährten.
Anui zog das weiße Tuch vor dem Gesicht herunter und blinzelte im grellen Licht. »Wir werden in diesem Dorf rasten. Unsere Wasservorräte sind nahezu erschöpft und wir müssen uns ausruhen.«
Keiner widersprach, doch Kawi biss die Zähne zusammen, bevor sie schroff nickte.
Ein Junge stand auf dem Dorfplatz und beobachtete, wie sie das Tor in der niedrigen, bröckelnden Steinmauer durchritten. Dann rannte er auf das größte Gebäude zu.
»Ein Zintos!«, war das Einzige, das Kawi verstehen konnte, bevor er hinter der Tür verschwand.
Sie saßen ab und führten ihre Pferde auf den Platz, während die Dorfbewohner an die Türen ihrer Häuser traten. Lediglich die Farben ihrer Ärmel unterschieden sich. Die Ärmel von Kawi und ihren Gefährten waren weiß, wie der Rest ihrer Gewänder. Bei den Dorfbewohnern herrschte das Gelb der Händlerkaste vor, auch wenn in dem großen Haus, in das der Junge gerannt war, das Ocker der Kriegerkaste dominierte.
Ein kleiner, drahtiger Mann mit einem Gesicht, das Kawi an Leder erinnerte, trat auf Anui zu. Kawi tippte auf den Dorfvorsteher.
»Mögen die Götter eure Ankunft segnen.« Er hob die rechte Hand, legte Daumen und Zeigefinger aneinander und reckte die rechte Hand in den Himmel.
Anui intonierte die Antwort: »Mein Glaube, mein Erwachen«, bevor die Gruppe zusammen ebenfalls das Götterzeichen formten und ihre Hände gen Himmel streckten.
»Wir haben Drängendes mit dir und Kawi zu besprechen. Folgt mir bitte.«
Bevor Kawi die Aufforderung kommentieren konnte, hob Anui die Hand in ihre Richtung und nickte dann dem Dorfvorsteher zu. »Ein Handwerker sollte sich um unsere Pferde kümmern, solange wir uns besprechen. Sie brauchen Wasser und Futter.«
Der Dorfvorsteher gestikulierte in Richtung einer Frau mit grauen Ärmeln und begab sich dann zurück zu seinem Haus, ohne abzuwarten, ob Anui und Kawi ihm folgen würden.
Kawi schloss sich Anui mit einem Seufzen an. »Das wird bestimmt genauso erquicklich, wie in den bisherigen Dörfern. Ihr eigenes Zintos scheint die Stadt verlassen zu haben, sonst hätte es uns empfangen. Schon wieder.«
»Vielleicht weiß der Vorsteher dieses Dorfes mehr als die bisherigen.«
Kawi lachte auf. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
Sie riss das Tuch vom Gesicht und verspürte eine verdrießliche Freude über die aufgerissenen Augen des Kriegers, der nun vor dem Gebäude Wache hielt. Wiederholte Brüche hatten ihre Nase nicht nur verformt, aktuell schimmerte sie nach Aussage ihrer Gefährten in einem dunklen Violett, das sich tief unter ihren Augen entlang zog. Die Verletzungen ihrer Gefährten waren zwar weit schlimmer als eine gebrochene Nase, sie prangten jedoch nicht mitten im Gesicht.
Der Gang endete in einem kleinen Saal, sie befanden sich offenbar im Gemeindehaus. Der Vorsteher und seine Krieger saßen auf dem Boden in einem Halbkreis und warteten bis sich Anui und Kawi setzten.
»Vor einiger Zeit kam bereits ein Zintos vorbei. Es ist zusammen mit unserem Zintos abgereist, unsere Anui ließ sich nicht umstimmen.«
Kawi biss sich auf die Unterlippe. In jedem Dorf hörten sie die gleiche Geschichte und nach jedem Aufenthalt vergrößerte sich der Abstand zwischen ihrer Ankunft und der Abreise der Zintos.
»Und jetzt steht das Dorf Problemen gegenüber, um die sich normalerweise euer Zintos gekümmert hätte.« Anuis Stimme war sanft wie immer. Als würden ihn diese inzwischen allzu üblichen Aufräumarbeiten nicht kümmern.
Der Vorsteher nickte schroff. »Eine Familie von Felsenspinnen in der großen Schlucht hat angefangen, unsere Kinder als Schlupfnester zu benutzen, und wir können uns ihrer nicht erwehren.«
»Wie steht es um das Wasserreservoir des Dorfes?«
Der Vorsteher wandte sich ihr mit zusammengepressten Lippen zu, doch Kawi starrte einfach zurück. Er antwortete nicht und sie setzte nach. »Um das Dorf herum gibt es keine Kakteenfelder mehr und die Beete sind karg.«
»Wir werden unser Zuhause nicht verlassen.«
Kawi spürte das Verlangen, deutlicher zu werden, doch letztlich wandte sie den Blick ab. Anui würde ihren Zorn über den Starrsinn des Vorstehers spüren, aber ignorieren. Sie nahm es ihm nicht übel. Sie waren ein Zintos und hatten ihre Pflichten.
»Du willst, dass wir die Felsenspinnen töten.« Anui hätte nicht anders geklungen, wenn Kawi davor geschwiegen hätte.
Der Vorsteher nickte.
»Wie groß ist die Familie?«
»Wir glauben, es sind etwa zehn.«
»Sie kommen nachts?«
Der Vorsteher nickte wieder.
Anui erhob sich. »Dann sollten wir uns beeilen. Die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel und der Weg zur Schlucht ist kurz. Wir können sofort aufbrechen.«
Kawi hätte am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen, aber sie verkniff es sich und folgte Anui steif aus dem Gebäude.
»Wir töten eine Familie von Felsenspinnen nicht einfach so«, presste sie schließlich zwischen den Zähnen hervor und schnippte mit den Fingern. »Diese Menschen sollten das Dorf verlassen. Sie werden sowieso gehen müssen. Ihr Wasser versiegt!«
Bari empfing sie mit verschränkten Armen, die restlichen vier warteten hinter ihm. Er schonte sichtlich sein Bein. Er war fast so breit wie hoch und darüber vergaß man oft, wie groß er tatsächlich war. »Was ist es also dieses Mal?«
Anui warf Kawi einen warnenden Blick zu und wandte sich an ihre Gefährten. »In der Schlucht haben sich Felsenspinnen eingenistet und sie benutzen die Kinder zur Eiablage. Ihr eigenes Zintos hat das Dorf vor einer Weile verlassen und natürlich übersteigt so etwas die Möglichkeiten der Krieger.«
Bari kratze über die Stoppeln am Kinn. »Kein schönes Schicksal, von innen aufgefressen zu werden. Wie viele Felsenspinnen sind es?«
»Sie schätzen zehn. Wir rechnen also mit fünfzehn und hoffen auf fünf.«
Bari lachte auf. »Und was ist dein Problem damit, Kawi?« Er schüttelte den Kopf, als Anui den Mund öffnete. »Der Segen und der Fluch eines Zintos, mein Anui.« Er lächelte. »Kawi ist da drinnen richtig wütend geworden und wir sind neugierig, was es dieses Mal war.«
Kawi seufzte. Dass sie immer miteinander verbunden waren, war wirklich Segen und Fluch gleichermaßen. »Sieh dich um. Ihr Wasser versiegt. Sie sollten das Dorf verlassen. Jetzt. Sie werden es sowieso in absehbarer Zeit verlassen müssen. Diese Aufgabe schiebt nur etwas Unvermeidliches auf und nicht nur, dass unser Abstand zu den abgereisten Zintos größer wird, wir haben auch noch das hier.« Sie zog Anuis Hemd nach oben und entblößte die tiefe, blutverkrustete Wunde, die sich von seiner Brust über seinen Bauch bis unter den Hosenbund erstreckte. Sie kreuzte mehrere Narben in unterschiedlichen Heilungszuständen. Jeder weitere Fingerzeig verdeutlichte die Situation zusätzlich. »Und keiner hier sieht unter seiner Kleidung besser aus. Ich bin noch am glimpflichsten weggekommen.« Kawi deutete auf ihre Nase. »Wir haben Glück, dass ich die Verbände schon abnehmen konnte, aber ich bin versucht sie wieder anzulegen, weil ein paar eurer Nähte unter Belastung reißen könnten.«
Bari betrachtete Anui. »Ändert das irgendwas?«
Anui schüttelte den Kopf. »Wir folgen unserem Schicksal.«
Der Sand um die Gruppe schwebte plötzlich in der Luft, rieselte nach einem Moment lautlos hinab. Sechs Augenpaare richteten sich auf Kawi.
»Ja, ja. Tut mir leid. Die Felsenspinnen haben genauso ein Anrecht auf ein Leben wie wir. Sie sind nicht für den Zustand unserer Welt verantwortlich. Und jetzt töten wir mal eben schnell eine ganze Familie von ihnen, nur weil sie keine natürlichen Feuchtgebiete mehr haben und sich den neuen Gegebenheiten anpassen mussten.«
»Sollen sie dann besser weiterhin die Kinder auffressen, Kawi?« Anui zog eine Augenbraue hoch.
»Nein! Die Menschen sollten das Dorf verlassen. Dann würde niemand sterben.«
»Außer auf der Reise.« Anui nickte. »Aber sie werden nicht gehen.«
Kawi lächelte bitter. »Weil wir hier aufgetaucht sind und ihnen die Möglichkeit geben, ihren Starrsinn auszuleben.«
Ihre Gefährten sogen zischend die Luft ein und Anui nickte langsam. »Was keiner von uns hören wollte. Es lässt sich nicht mehr ändern. Wir sind hier. Unser Auftauchen gab ihnen Hoffnung und es ist unsere Aufgabe, für sie einzustehen.«
Kawi fühlte sich nicht, als befreie sie das Fehlen einer Wahl von irgendeiner Schuld, aber sie entschied sich, das nicht auszusprechen. Es reichte, wenn sie sich mit solchen Empfindungen herumschlug.
»Der Vorsteher soll uns wenigstens schon jetzt ein Haus zuweisen. Ich habe das mit den Verbänden ernst gemeint und ich werde nicht verlangen, dass ihr euch hier auszieht.«
Deri öffnete den Mund, aber Kawi richtete einen Finger auf ihn. »Lass es. Deine Verletzungen sehen so schlimm aus, die Frauen werden wegrennen, anstatt auf dich zu.«
Kawi hörte ein Räuspern hinter sich. »Entschuldigt bitte, dass ich euch unterbreche.« Alle wandten dem Krieger ihre Blicke zu und er räusperte sich noch einmal. »Ich bin der Stellvertreter des Dorfvorstehers und Anui …«, er stockte. »Es tut mir leid, ich weiß, dass Anui schlicht eine Rangbezeichnung ist, aber …«, er atmete schwer aus.
Anui lächelte leicht und nickte. »Ihr seid mit eurer Anui aufgewachsen und kennt nur sie. Es ist seltsam, wenn ein anderes Zintos auftaucht und die Namen plötzlich zu einem Rang werden.«
Der Krieger nickte. »Ja.« Er schüttelte den Kopf, schien sich an etwas zu erinnern. »Sie gab mir eine Botschaft für reisende Zintos mit. Ich glaube, dass der andere Anui nicht sehr glücklich darüber war, aber es interessierte sie nicht oft, was Andere von ihren Entscheidungen hielten.«
Anui lächelte. »Das bringt der Rang mit sich. Was ist ihre Botschaft?«
»Sie sagte, ich solle weitergeben, dass alle Zintos in die Hauptstadt beordert wurden und ihr keinen Umweg in Kauf nehmen sollt.«
Die Gruppe tauschte hinter Anui Blicke aus, er nickte jedoch schlicht. »Danke. Das ist eine wertvolle Nachricht. Wir müssen dennoch hier rasten und werden uns eures Problems annehmen. Und wir brauchen ein Haus. Jetzt.«
Der Krieger starrte ihn einen Moment an, dann nickte er. »Natürlich. Ich kümmere mich sofort darum.« Er hatte bereits einen Schritt gemacht, da drehte er sich noch einmal zu ihnen um. »Benutzt ihr wirklich niemals eure Geburtsnamen?«
Anui rieb sich über die Augenbraue. »Aus eurem Dorf entstammt kein Wolkenkrieger?«
»Nicht seit meiner Geburt.«
Anui nickte. »Nun, dann. Wenn ein Neugeborenes von den Priestern als Wolkenkrieger erkannt wird, ist das Schicksal bestimmt. Ein Name hat darin keinen Platz. Unsere Eltern nennen uns Wolkenkrieger, bis wir mit fünf in die Ausbildung kommen und dort bleiben wir Wolkenkrieger, bis wir uns in einem Zintos zusammenschließen.« Jetzt lächelte er leicht. »Der Rang gleicht dadurch selbst für uns einem Namen.«
Der Krieger starrte Anui an und nickte dann zögernd. Er öffnete den Mund, doch Anui kam ihm zuvor. »Kümmere dich bitte um das Haus.«
Abrupt verbeugte sich der Krieger. »Sofort.«
Mit einer weiteren Verbeugung entfernte er sich und Kawi atmete auf. Mühsam entspannte sie ihre Faust. »Er hat gar nicht erwähnt, dass wir von den Göttern gesegnet sind.«
Deri wackelte mit dem Kopf. »Vielleicht hat ihn deine starre Mimik abgelenkt.«
Kawi boxte gegen seine Schulter.
Bari musterte den Höhleneingang vor ihnen. »Wie groß sind Felsenspinnen noch mal?«
Alle Augen richteten sich auf Kawi.
Sie kramte weiter in ihrem Rucksack, bis ihr die Stille auffiel. Sie hob eine Augenbraue. »Wirklich? Keiner weiß es?«
Bari zog die Schultern hoch. »Frag in fünf Dörfern, bekomm fünf unterschiedliche Antworten.«
»Du hast ›Magische Wesen und Konstrukte‹ immer noch nicht gelesen?« Kawis zweite Augenbraue wanderte hoch, dann sah sie Anui an. »Keiner von euch?« Sie winkte ab, bevor einer antworten konnte. »Immer das Gleiche mit euch. Sie sind größer als Menschen. Allerdings ist mir nicht klar geworden, was genau mit Größe einer Felsenspinne gemeint ist. Mit Glück gilt das nur für eine Messung mit gestreckten Beinen.« Sie musterte den Höhleneingang. »Ich glaube aber nicht, dass sie größere Tunnel graben, als sie benötigen. Dieser Tunnel ist sogar größer als du, Bari, und wenn du mal die Arme ausstreckst …«
»Ich seh selbst, dass der Tunnel riesig ist!«
Kawi lenkte lieber ab und zog flache Kakteensprosse aus ihrem Rucksack. Die getrockneten Scheiben waren so lange bearbeitet worden, bis ihre Oberfläche glatt war. »Anui, wir sollten deine Fackeln aufsparen, falls einer gebissen wird. Man kann die Eier ausbrennen, aber das muss man sehr schnell machen. Soweit ich im Dorf gesehen habe, gibt es dort kein Holz mehr, das heiß genug brennt.«
»Ich habe keine mehr.«
Kawis Mund klappte auf und wieder zu. »Das … wir …«, sie verlagerte ihr Gewicht, »… hm.«
»Gibt es eine andere Möglichkeit die Eier loszuwerden?«, fragte Anui.
Kawi spitzte die Lippen und hoffte, dass ihre Unruhe nicht ihre Gefährten alarmierte. »Ja …« Aber die wollt ihr nicht kennenlernen. Schnell winkte sie ab und breitete die Kakteensprossen auf dem Boden aus, um sie mit den Ritual-Symbolen zu versehen.
Anui betrat derweil den Tunnel. Stapfte zweimal auf. »Kein Sand.«
Kawi riss den Blick hoch und spähte an ihm vorbei in den Tunnel. Der grelle Schein der Sonne endete knapp hinter Anui, aber zeigte den blanken Fels unter seinen Füßen. Sie schluckte.
»Zwei Reihen.« Anuis Stimme klang so ruhig wie immer und mit derselben Ruhe ordneten sich Kawis Gefährten hinter Anui an.
»Konzentrieren oder verteilen?« Deri zog sein Breitschwert und hüpfte auf und ab.
Anui rieb sich über die Narbe, die seine Augenbraue spaltete. »Je drei auf eine Spinne, ich passe auf.«
Kawi reichte jedem eine leuchtende Kaktussprosse und reihte sich ein.
Kawi berührte federleicht Anuis Arm. Im Gewirr der Gänge hatte sie zuerst vereinzeltes Kratzen und Klicklaute gehört. Ein Huschen gerade außerhalb ihres Sichtfeldes wahrgenommen. Doch jetzt folgte ihnen ein stetiges Scharren und Klicken. Anui nickte. Er hörte es ebenfalls. Die Felsenspinnen kreisten sie ein.
Sie spürte die Emotionen seiner Frage durch ihre Verbindung. Wie viele? Kawi wusste es nicht. Genug.
Die nächste Tunnelkreuzung zeichnete sich im sanften Licht der Kakteensprossen ab. Anui hob die Hand, sie fächerten hinter ihm auf, die Kakteensprossen klatschten gegen Tunnelwände, glitten an ihnen hinab.
Warten. Die Felsenspinnen zögerten. Bari murmelte einen Fluch. Angreifen oder Abwarten?
Kawis Griff um ihr Schwert wurde fester. Sie kämpfte nicht gerne. Sie heilte und las und führte Rituale, aber …
Anuis Befehl prägte die Emotionen in der Verbindung. Angreifen.
Sie stürmte neben Bari und Deri nach rechts. Anuis beruhigende Präsenz blieb hinter ihr.
Dann kamen sie. Schatten bewegten sich in dem Gang, mehrere Spinnen versuchten, als Erste ihr Ziel zu erreichen.
Kawi atmete tief durch und ergab sich dem Kampf.
Ihr Schwert schrammte an Spinnenbeinen entlang, Deris Wurfspeer nagelte eines an die Wand. Mit einem Kreischen riss sich die Spinne los, bäumte sich auf. Zwei schnelle Schritte brachten Kawi unter die Spinne, sie stieß ihr Schwert nach oben in den weichen, schwarzen Körper, verzog das Gesicht beim schrillen Kreischen und rückte zurück in die Linie. Fremdartige Laute beherrschten die Gänge. Dunkle Flüssigkeit tropfte von der Klinge auf Kawis Finger.
Eine Spinne stieß mit ihrem Bein gleich einem Speer nach Kawi. Sie wich zur Seite aus, musste sofort dem nächsten Bein ausweichen. Ein ganzer Wald von Beinen drängte Bari, Deri und Kawi zurück. Mit einem donnernden Brüllen schwang Bari seinen Kriegshammer, zerschmetterte Gliedmaßen. Kawi wollte ihn noch warnen. Ihre Emotionen sickerten bereits durch die Verbindung, doch es war zu spät. Eine Spinne bäumte sich vor Bari auf, Kieferklauen öffneten sich und offenbarten feucht schimmernde Eier. Blitzschnell knickte die Spinne ein und rammte Bari die Kieferklauen in die Seite.
Bari schrie, Kawi keuchte beim Schock des eintreffenden Schmerzes, hörte den Chor der Schreie ihrer Gefährten.
Bari sackte zu Boden, die Spinne begrub ihn unter sich. Kawi konnte nur zusehen, wie die Kiefertaster vorschnellten und die Eier in Baris Seite pressten.
Der Schmerz breitete sich aus, überflutete ihre Sinne. Der harte Körper einer Spinne begrub sie unter sich. Mühsam kämpfte sie gegen die Spinnenbeine. Der Schmerz prasselte auf sie ein. Von eigenen Verletzungen. Von Verwundungen ihrer Gefährten. Die Verbindung wankte.
Oh, ihr Götter, ich flehe euch an: Bitte helft mir! Oh, ihr Götter, bitte leitet mich! Mein Glaube ist unerschütterlich!
Dann war Anui über ihr, verschaffte ihr Luft. Keuchend zog Kawi sich aus der Bedrängnis, stocherte blind mit ihrem Schwert in der schwarzen Masse der Spinnen herum.
Ein harter Griff an ihren Arm und Deri schob sie in den freien Bereich zwischen den Fronten, kurz darauf schleifte Anui Bari zu ihr.
»Kümmer dich um ihn!«
Baris Haut schimmerte beinahe weiß im schwachen Licht der Kakteensprossen.
»Oh, ihr mit euch selbst beschäftigen Götter!«
Kawi war sich vage ihrer eigenen Blutspur bewusst, doch sie richtete ihre Konzentration darauf, mehr Licht zu Bari zu bringen.
»Du musst das festhalten.« Sie drückte ihm eine der Kakteensprossen in die Hand und richtete den Lichtschein aus.
Blut rann schwallartig seinen Körper hinunter, irgendetwas Helles zeichnete sich in der Wunde ab.
Plötzlich kreischte Bari auf. »Da bewegt sich was in mir! Die Spinnen schlüpfen! Tu was! Tu was!« Er tastete nach seiner Bauchwunde, Kawi fluchte, schlug seine Hand immer wieder zur Seite, sobald er in die Wunde greifen wollte. »Wenn ein Ei platzt, vergiftet es dich!«
Das hielt Bari von weiteren Versuchen ab, aber das Blut lief nun schneller seinen Körper hinunter. »Du hast gesagt, wir brauchen Holz, um die Eier zu vernichten, und wir haben keins!«
Anui beugte sich über Bari. »Schnell! Da kommen noch mehr. Wir haben nicht viel Zeit.«
Dann war auch der Rest da und plapperte wild durcheinander.
»Seid still!« Kawi holte Luft und versuchte sich zu sortieren. »Ich brauche ein Männchen. Die Kieferklauen. Mit Giftdrüsen dran.«
Vier Gestalten stoben auseinander, Anui trat zurück an die Front.
Bari hob den Kopf. »Was wirst du damit machen, Kawi?«
»Ich glaube nicht, dass es dir hilft, wenn ich es dir erkläre.«
Die zwei sahen sich an, dann begann Bari sich wegzuziehen. »Du erzählst sonst immer, was du vorhast! Das ist eine schlechte Idee! Nein! Eine furchtbare!«
»Und doch ist es die Einzige!«
Bari hielt inne und begann zu wimmern.
»Hier! Hilft dir das?« Deri drückte Kawi eine Kieferklaue in die Hand. Weißliches, dickliches Gewebe bildete am breiten Ende eine unregelmäßige Beule. Kawis Blick glitt an dem gigantischen Beißwerkzeug entlang. Es war knapp so lang wie ihr Arm und in der Mitte etwa so dick wie ihr Oberarm. Probehalber bewegte sie die Hand, als wäre die Kieferklaue ein Dolch und verzog den Mund. Ungelenk. Wirklich ungelenk.
»Du darfst dich nicht bewegen, Bari. Nicht einmal zucken.«
»Sie kommen. Wir verschaffen euch Luft«, sagte Anui und die Gefährten ließen Kawi und Bari alleine auf dem Boden zurück.
Bari wimmerte. »Sag mir, was du tun wirst.«
»Das Gift eines Männchens neutralisiert das Gift im Ei und tötet die Jungspinne. Ich werde also mit der Kieferklaue in das Ei bohren und Gift reindrücken.« Sie drückte das weißliche Gewebe zusammen. Die gallertartige Masse in ihren Händen war glitschig und gab ihr das Gefühl verrottenden Kaktus zwischen den Fingern zu zerquetschen. Ein gelblicher Tropfen bildete sich an der Spitze der Kieferklaue. Dann bewegte sie die Klaue wie einen Dolch und hoffte, dass es nicht so ungelenk aussah, wie sich die Bewegung anfühlte. Sie rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab.
Bari wimmerte noch einmal, doch der Klang ging mit den eintreffenden Spinnen unter.
Kawi bemühte sich den Kampf auszublenden. Ignorierte die Schmerzen ihrer Gefährten und beugte sich über Bari.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er die Lippen bewegte. Unhörbare Gebete reihten sich aneinander.
Sie hob die Kieferklaue, visierte ein Ei an und richtete die Spitze darauf aus. Dann stieß sie zu.
Ein unangenehmes Drücken, gefolgt von einem Wühlen floss durch die Verbindung.
»Du musst den Schmerz unterdrücken, Bari.«
Er fluchte und ballte die Hände zu Fäusten. Seine sich im Gebet bewegenden Lippen ließen die zusammengebissenen Zähne aufblitzen.
Vorsichtig griff Kawi in die Wunde und zog das behandelte Ei heraus. Es war glitschig von Baris Blut, fühlte sich jedoch hart an. Sie ließ es auf den Boden fallen, wo es regungslos liegen blieb.
Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Gefährten im Kampfgetümmel taumeln und steckte den Kopf tiefer über Baris Wunde. Vier weitere Eier konnte sie erkennen.
Sie war beim vorletzten Ei angekommen, als Bari keuchte.
»Kawi, irgendetwas passiert da.«
Sie stach in das Ei und Bari begann zu kreischen.
»Sie schlüpfen! Sie schlüpfen! Oh, ihr Götter! Sie schlüpfen wirklich!«
Schock flutete durch Kawis Körper, die Geräusche um sie herum wurden dumpf. Grob griff sie in die Wunde, kämpfte gegen Baris krampfartige Bewegungen an. Wo war die Spinne? Wo war das verdammte Mistvieh?
Ihre Finger glitten durch warme Flüssigkeiten, über harte Stränge, eine kinderfaustgroße Kugel. Sie schnappte zu, zerrte das Ding aus Baris Körper. Warf es auf den Boden und drosch mit der flachen Seite der Kieferklaue auf die Jungspinne ein. Kawi glaubte, ein hohes Kreischen zu hören. An- und abklingend, ähnlich einem Weinen. Die Kieferklaue knackte.
Stille. Kawi sah auf und ihr wurde bewusst, dass das Weinen keineswegs nur in ihrem Kopf erklungen war. Der Kampf um sie herum war verebbt. Anui stand an einer Tunnelöffnung. Bari wimmerte, lag mit angezogenen Knien auf der Seite und presste beide Arme auf die Wunde.
Zärtlich legte sie die Hände auf ihn. »Nur noch einmal, Bari. Ich muss nur noch ein abgestorbenes Ei rausholen. Dann ist es vorbei.«
Er ließ ihre Hand in seine Wunde gleiten und bewegte sich erst, als das Ei auf den Boden fiel. Das Schmatzen, mit dem es landete, trieb Kawi die Galle in den Mund. Jetzt war sie froh, dass dieses Geräusch vorher im Kampfeslärm untergegangen war.
Kawi presste ein sauberes zusammengefaltetes Tuch auf die Wunde und ließ sich von Anui bei einem festen Verband helfen.
Unsicher stand Bari schließlich auf. Kawi bückte sich. »Ich nehme deinen Hammer.« Mitten in der Bewegung hielt sie inne. »Ist es denn vorbei?«
Anui schüttelte leicht den Kopf. »Vielleicht. Wir haben hier acht Felsenspinnen getötet. Ich habe die anderen weiter geschickt. Bisher scheinen sie nichts gefunden zu haben.«
Kawi lauschte in sich hinein, aber sie fühlte unter den Schmerzen verschiedener Verletzungen nur entspannte Konzentration.
Zittrig legte Bari Daumen und Zeigefinger aneinander, doch Anui schlug schnell seine Hand hinunter. »Reiß dich zusammen, Bari! Oder willst du ausgerechnet jetzt den Gott der Berge auf uns aufmerksam machen? Das wäre wirklich das Letzte, was wir noch zu unserem Glück bräuchten.«
Bari stöhnte, ballte eine Faust und legte sich auf die Stirn. »Reflex. Nur ein Reflex. Muss ich wirklich aufstehen?«
Anui nickte. »Die vier kommen zurück. Sie haben keine Spinnen mehr gefunden.« Er betrachtete das Massaker vor ihnen. »Bei den Göttern, acht Felsenspinnen waren auch mehr als genug.«
Einen Moment lang glaubte Kawi, Anui wanken zu sehen, dann war der Moment vorbei. Sie fühlte in die Verbindung, aber konnte seine Gefühle nicht im Strom ausmachen. Es waren einfach zu viele Eindrücke.
Anui musterte die Tunnelgabelung. »Warum ist der Weg nicht markiert?«
Betretenes Schweigen.
Anui ließ die Schultern fallen und Deri starrte die Abzweigung entlang. »Tja. Was machen wir jetzt? Schicken wir Kawi vor?«
Die Gruppe wandte sich ihr zu.
»Müssen wir schon wieder darüber reden?« Kawi machte keine Anstalten nach vorne zu treten. Sie hasste diesen Augenblick regelrecht. Dieses stumme Vertrauen, das durch die Verbindung in ihren Körper sickerte.
»Nein, müssen wir nicht«, sagte Anui. »Wir wissen, dass du den Weg nicht kennst. Ja, das sind immer Zufälle. Ja, wir verstehen dich. Ja, wir haben keine Erwartungen. Und jetzt geh vor.«
Kawi fluchte, aber trat nach vorne. Sie wusste, sie würden nicht nachgeben. Sie konnte nur erneut verdeutlichen, dass sie wirklich keine Ahnung hatte, wo der Ausgang war. Also drehte sie sich im Kreis, bis ihr schwindelig wurde und wankte in den nächsten Tunnel. Sie konnte das Grinsen in den Gesichtern ihrer Gefährten regelrecht spüren.
Die Sonne war weit über den Himmel gewandert, als sie nach draußen stolperten und die Augen zusammenkniffen.
»Das war nur ein Zufall!« Kawi stapfte durch den Sand auf den Weg aus der Schlucht zu.
Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Anui lächelte und das Göttersymbol formte.
Neben ihm hob Bari sein Hemd und musterte den straffen Verband um seinen Bauch. Selbst verbunden konnte man die Mulde sehen, die die Jungspinne herausgebissen hatte.
Kawi schloss verbittert die Augen. Sie hörte das Kreischen der Jungspinne und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Wer konnte all die Narben noch zählen? Die äußeren, wie die inneren.