Narbenkinder - Ein Drama
Der Wecker klingelt. Er erhebt sich aus seinem Bett und reibt sich die Augen. 6 Uhr. Der Alltag ruft. Er blickt eine Weile auf die kahlen Wände seines Schlafzimmers, dann macht er sich auf den Weg ins Badezimmer. Drei Minuten für die Zähne. Fünf Minuten zum Rasieren. Zehn Minuten duschen. So wie jeden Morgen.
Er geht die Treppen runter und kann sie streiten hören. Der Gestank von Alkohol in der Luft. Mutter hat schon wieder einen drinnen, Papa wird jeden Moment nachlegen. Als er sich zu ihnen setzt, schenkt man ihm keine Beachtung. Er macht sich ein Müsli, Papa zündet sich neben ihm eine Zigarette an. Sie streiten über das Wetter, er sagt nicht ein Wort. Er geht ohne ein Wort zu sagen. So wie jeden Morgen.
Als er am Bahnhof steht, wünscht er sich er wäre Vogel. Er würde wegfliegen und niemanden würde es interessieren.
In der Schule warten zwei Stunden Mathe auf ihn. Er hat seine Hausaufgaben nicht gemacht.
„Was soll nur aus dir werden?!“. Er gibt keine Antwort.
„Bist du dumm oder warum sprichst du nicht mit mir?“. Wieder Stille. Der Lehrer winkt ab. Er hat schon längst an ihm aufgegeben, so wie die meisten Lehrer.
Im Sport macht er seinen wöchentlichen Besuch beim Schulpsychologen. „Tu was du tun musst, um das Loch in dir zu füllen“, sagt Dr. Tanner. Er zuckt mit den Schultern. Dasselbe Gespräch wie jede Woche. Kein Aber, aber auch keine Zustimmung. Für den einen eine Akte, für den anderen eine Gewohnheit in einem Leben als Geist. Er ist dort, weil er immer dort ist und er wird wieder kommen.
Das Mittagessen holt er sich in der Cafeteria ab. Er isst es unten im Park. So wie er es immer tut. Egal zu welcher Jahreszeit, denn die Cafeteria ist voll mit lauten Menschen und das erträgt er nicht.
Am Nachmittag hat er Physik und Englisch. Man hört nicht ein Wort von ihm. Er blickt nicht einmal von seinem Tisch auf. Als er aus der Klasse kommt hat er es nicht eilig. Zuhause wird es laut sein und der Gestank von heute Morgen sitzt ihm noch immer in der Nase.
Er geht an seinen Spind, nimmt seine Sachen. Und als er als einer der letzten die Schule verlässt, geht mit den Gedanken, dass sich niemand an ihm erinnern würde.
Er verpasst absichtlich seinen Zug, somit hat er immer einen Sitzplatz und es ist nicht so laut. Im Zug liest er eine Liegengelassene Zeitung. Irgendwo zwischen Sportergebnissen und den neuesten Klatsch aus der Promiwelt findet er einen kleinen Bericht über einen fünfzehnjährigen Selbstmörder. Er schmunzelt, dann legt er die Zeitung weg. Er erhebt sich von seinem Platz, verlässt die Bahn. Vom Bahnhof bis nach Hause ist es nicht weit. Er geht über den Spielplatz. Früher haben hier Kinder gespielt, doch dann haben die Heroin Junkies angefangen sich hier nachts einzunisten. Heute ist hier alles voll mit Spritzen.
Er öffnet die Tür zum Haus. „Hi, Mum. Hi, Dad.“ Es ist das Erste was er heute von sich gibt, doch niemand schenkt ihn Beachtung. Sie streiten darüber wer das nächste Bier aus dem Keller holen geht. Es riecht noch schlimmer als heute Morgen. Er starrt sie eine Weile an. „Auf wieder sehen, Mum und Dad“, murmelt er.
Als er in seine Zimmer tritt schreibt er einen Satz in seinen Notizblock. „Ich kann nicht mehr… Wenn ich das Loch nicht füllen kann, werde ich eben an ihm reißen“.
Unten streiten sie weiter und es sie können nichts denken was sie davon abhalten würde.
Doch heute lässt sie etwas stoppen,
denn heute ist anders,
aber irgendwie auch wie immer,
denn heute ist es zu spät.
Ein lauter Knall,
ein Aufprall,
entsetzende Stille.