Nathalie
Nathalie
Möchte man einen Ort, eine Stadt, ein Dorf wirklich kennen lernen, seinen Duft riechen, seine Vergangenheit spüren und seine Atmosphäre erfahren, dann muss man ihn bei Nacht durchstreifen. Nachts zeigt jeder Ort sein wahres Gesicht, denn er weiß sich von Dunkelheit eingehüllt. Man muss mit seinen Augen nur die Dunkelheit durchdringen und die Ohren aufsperren, dann kann man nachts den wahren Charakter eines Ortes ausmachen. Jeder Mensch tut das. Jeder testet, ob er an diesen Ort passt und ob der Ort zu einem passt. So spürt die Jugend die Plätze auf, an denen etwas passieren wird, sei es dass man demonstriert, sei es dass man sich berauscht, sei es beides. Die Alten hingegen verteilen sich auf die leiseren Orte, die Orte, wo es Nischen gibt, in denen man für sich den Lebensabend verbringen kann. Abwechslung bringen die von Norden nach Süden und von Osten nach Westen rasenden Jungen, die es an diesen stillen Orten nicht lange aushalten, kurz anhalten, sich versorgen und weiter düsen. Die Jungen glauben, sie wüssten schon genug. Das mag ja auch sein. Jedenfalls wissen sie nicht, dass sie, jedesmal wenn sie einen dieser rastlosen Aufenthalte machen, Geschichten in die Welt jenes stillen Ortes setzen, wo sie sich versorgt haben. Diese Geschichten halten die Alten am Leben, denn wer keine neuen Geschichten erzählen kann, der vertieft sich zu sehr in die alten Geschichten und verschwindet in ihnen.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen, alte Leute, die sich unter die Jugend mischen und junge Leute, die sich an die leisen Orte begeben, weil sie jene Rastlosigkeit und Freiheit nicht mehr ertragen. Jener Alte, der dort vor uns an den Wänden der Häuser entlang geht, hat jedoch dem Drang nach Anonymität und Durchschnittlichkeit sowie dem Gefühl nach Zugehörigkeit nachgegeben, die einem Menschen nun einmal eigen sind, wenn er das tut, was die meisten Anderen auch tun. Und er hat seine Nische gefunden in einer zerrissenen Stadt, zerrissen wie jede Grenzstadt. Preise sind in Peseten und Franc ausgeschrieben. Oft regnet es, aber da es trotzdem abends meistens noch 20°C sind, kann jeder verwunderte Durchreisende die Einheimischen, als gäbe es keinen Regen, gemächlich durch die Straßen trotten sehen, denn an stillen Orten hat man viel Zeit.
So trottet auch der Alte im Nieselregen erhobenen Hauptes durch die Nacht dieser oberflächlich lebhaften Kleinstadt, oberflächlich lebhaft immerhin, denn es gibt ja noch die hastenden Durchreisenden. Aber eben nur oberflächlich, denn an der Gemächlichkeit der Einheimischen und an der Trägheit der Stadt können auch sie nichts rütteln und wenn manch Hastender sich im Auto ein paar Kilometer hinter der Stadt zugleich aufregt und lacht über die Langsamkeit der Lebensmittelverkäuferin, so weiß die Verkäuferin, dass auch dieser Hastende einst an einen stillen Ort ziehen wird und beobachten wird, wie die Hastenden über seine Langsamkeit lachen.
Der Alte ist der einzige Einheimische, der noch unterwegs ist. Er trägt einen roten Fez und einen grauen langen Mantel. Der Kragen ist hochgeklappt. Zwar sind drei kleine Restaurants und einige Läden noch geöffnet, aber nur für die Reisenden. Doch irgendwo in diesem Städtchen, abseits der Läden und der Hauptstraße, erleuchtet ein blauer Licht eines der dunklen Gässchen. „Noir“ steht dort in blauem Licht geschrieben. Gerade verschwindet der Alte in einer Tür unter der Schrift. Er betritt einen länglichen Raum mit Tischen an der linken und einer Theke an der rechten Wand. Der Raum ist schwach bläulich erleuchtet. Hinter der Theke putzt ein Mädchen Schnapsgläser und an einem der hinteren Tische kann man die Kontur eines jungen Mannes erkennen. Der Alte tritt an die Theke:
„Ein Weißwein bitte, meine Kleine.“
„Wir haben keinen Weißwein“, antwortet das Mädchen.
Der Alte lacht auf.
„Hör mal, es ist völlig gleich, ob du mir einen Weißwein oder einen Rotwein einschenkst.“
„Wir haben auch keinen Rotwein.“
„Was habt ihr dann?“, fragt der Alte.
„Jedenfalls keinen Alkohol.“
„Na dann muss ich eben selber...“ und er zückt seinen Flachmann. Doch der Blick des Mädchens lässt ihn inne halten. Er steckt den Flachmann wieder ein. Dann lässt der Alte sich auf einem Barhocker nieder.
„Was hat der hier eigentlich zu suchen?“, deutet er feindselig auf den jungen Mann nach wenigen Sekunden Schweigen.
„Was geht Sie das an?“, fragt das Mädchen.
„Du sollst mich doch nicht Siezen.“, stöhnt er.
„Ich halte es aber für besser.“
Schweigend dreht sich der Alte von ihr ab und starrt wieder auf den jungen Mann. Der grinst.
„Scheiße, verdammt“, murmelt der Alte, „verdammt, du hast mit ihm geschlafen.“
Er dreht sich wieder dem Mädchen zu.
„Wie bitte?“
Unvermittelt beginnt der Alte zu schreien:
„Ob du ihn gevögelt hast, will ich wissen, ob du ihn gevögelt hast?!“
Das Mädchen schweigt, doch ihre Augen blitzen verächtlich. Ruhig putzt sie weiter ihre Schnapsgläser. Der junge Mann, der bis jetzt keinen Ton gesagt hat, fängt an zu summen. Die Melodie ist berühmt: Es ist das Chanson „Nathalie“ von Gilbert Becaud.
„Was pfeifst du da?“, der Alte tritt an den Tisch des Jungen. Doch der lässt sich nicht beirren. Leise beginnt er das Lied zu singen.
„Was du da pfeifst hab ich dich gefragt!“, der Alte packt den Sänger und reißt ihn vom Stuhl. Doch für den ist es eine Leichtigkeit den Alten abzuschütteln. Bei dem Gerangel stolpert der Alte, versucht das Gleichgewicht zu finden und fällt dann hin. Er knallt auf seinen Hinterkopf und bleibt stöhnend liegen. Das Mädchen hastet hinter der Theke hervor und hilft dem Alten auf.
„Das wollte ich nicht, Nathalie, wirklich nicht.“, stammelt der junge Mann.
„Ja, ist ja gut, Henry, hilf mir lieber.“, sagt sie. Zusammen helfen sie dem Alten auf einen Stuhl. Das Mädchen eilt hinter die Theke, öffnet den Schnapsschrank und holt einen Wodka hervor. Sie füllt eins der geputzten Schnapsgläser mit der durchsichtigen Flüssigkeit und bringt es dem Alten.
„Hier, trink das.“
Der Alte schüttelt den Kopf, rafft sich auf und schwankt auf die Tür zu. Hätte er Augen am Hinterkopf, dann könnte er sehen, wie das Mädchen auf den Stuhl sinkt, auf dem er gesessen hat. Er würde sehen, wie Henry versucht, sie zu streicheln und sie ihren Kopf wegdreht. Doch er hört und als er die Tür öffnet und die Kälte ihm ins Gesicht schlägt, ruft sie ihm hinterher:
„Du kommst doch morgen wieder, Papa?!“
Ja, er würde wiederkommen und warten bis er starb oder bis sie ihm eines Tages verzieh, so wie er die vergangenen Jahre gewartet hatte. Dieser Ort war gar nicht still und leise, er brauste ihm in den Ohren.