Was ist neu

Nathalie

Mitglied
Beitritt
07.12.2004
Beiträge
29

Nathalie

Nathalie

Möchte man einen Ort, eine Stadt, ein Dorf wirklich kennen lernen, seinen Duft riechen, seine Vergangenheit spüren und seine Atmosphäre erfahren, dann muss man ihn bei Nacht durchstreifen. Nachts zeigt jeder Ort sein wahres Gesicht, denn er weiß sich von Dunkelheit eingehüllt. Man muss mit seinen Augen nur die Dunkelheit durchdringen und die Ohren aufsperren, dann kann man nachts den wahren Charakter eines Ortes ausmachen. Jeder Mensch tut das. Jeder testet, ob er an diesen Ort passt und ob der Ort zu einem passt. So spürt die Jugend die Plätze auf, an denen etwas passieren wird, sei es dass man demonstriert, sei es dass man sich berauscht, sei es beides. Die Alten hingegen verteilen sich auf die leiseren Orte, die Orte, wo es Nischen gibt, in denen man für sich den Lebensabend verbringen kann. Abwechslung bringen die von Norden nach Süden und von Osten nach Westen rasenden Jungen, die es an diesen stillen Orten nicht lange aushalten, kurz anhalten, sich versorgen und weiter düsen. Die Jungen glauben, sie wüssten schon genug. Das mag ja auch sein. Jedenfalls wissen sie nicht, dass sie, jedesmal wenn sie einen dieser rastlosen Aufenthalte machen, Geschichten in die Welt jenes stillen Ortes setzen, wo sie sich versorgt haben. Diese Geschichten halten die Alten am Leben, denn wer keine neuen Geschichten erzählen kann, der vertieft sich zu sehr in die alten Geschichten und verschwindet in ihnen.
Natürlich gibt es auch Ausnahmen, alte Leute, die sich unter die Jugend mischen und junge Leute, die sich an die leisen Orte begeben, weil sie jene Rastlosigkeit und Freiheit nicht mehr ertragen. Jener Alte, der dort vor uns an den Wänden der Häuser entlang geht, hat jedoch dem Drang nach Anonymität und Durchschnittlichkeit sowie dem Gefühl nach Zugehörigkeit nachgegeben, die einem Menschen nun einmal eigen sind, wenn er das tut, was die meisten Anderen auch tun. Und er hat seine Nische gefunden in einer zerrissenen Stadt, zerrissen wie jede Grenzstadt. Preise sind in Peseten und Franc ausgeschrieben. Oft regnet es, aber da es trotzdem abends meistens noch 20°C sind, kann jeder verwunderte Durchreisende die Einheimischen, als gäbe es keinen Regen, gemächlich durch die Straßen trotten sehen, denn an stillen Orten hat man viel Zeit.
So trottet auch der Alte im Nieselregen erhobenen Hauptes durch die Nacht dieser oberflächlich lebhaften Kleinstadt, oberflächlich lebhaft immerhin, denn es gibt ja noch die hastenden Durchreisenden. Aber eben nur oberflächlich, denn an der Gemächlichkeit der Einheimischen und an der Trägheit der Stadt können auch sie nichts rütteln und wenn manch Hastender sich im Auto ein paar Kilometer hinter der Stadt zugleich aufregt und lacht über die Langsamkeit der Lebensmittelverkäuferin, so weiß die Verkäuferin, dass auch dieser Hastende einst an einen stillen Ort ziehen wird und beobachten wird, wie die Hastenden über seine Langsamkeit lachen.
Der Alte ist der einzige Einheimische, der noch unterwegs ist. Er trägt einen roten Fez und einen grauen langen Mantel. Der Kragen ist hochgeklappt. Zwar sind drei kleine Restaurants und einige Läden noch geöffnet, aber nur für die Reisenden. Doch irgendwo in diesem Städtchen, abseits der Läden und der Hauptstraße, erleuchtet ein blauer Licht eines der dunklen Gässchen. „Noir“ steht dort in blauem Licht geschrieben. Gerade verschwindet der Alte in einer Tür unter der Schrift. Er betritt einen länglichen Raum mit Tischen an der linken und einer Theke an der rechten Wand. Der Raum ist schwach bläulich erleuchtet. Hinter der Theke putzt ein Mädchen Schnapsgläser und an einem der hinteren Tische kann man die Kontur eines jungen Mannes erkennen. Der Alte tritt an die Theke:
„Ein Weißwein bitte, meine Kleine.“
„Wir haben keinen Weißwein“, antwortet das Mädchen.
Der Alte lacht auf.
„Hör mal, es ist völlig gleich, ob du mir einen Weißwein oder einen Rotwein einschenkst.“
„Wir haben auch keinen Rotwein.“
„Was habt ihr dann?“, fragt der Alte.
„Jedenfalls keinen Alkohol.“
„Na dann muss ich eben selber...“ und er zückt seinen Flachmann. Doch der Blick des Mädchens lässt ihn inne halten. Er steckt den Flachmann wieder ein. Dann lässt der Alte sich auf einem Barhocker nieder.
„Was hat der hier eigentlich zu suchen?“, deutet er feindselig auf den jungen Mann nach wenigen Sekunden Schweigen.
„Was geht Sie das an?“, fragt das Mädchen.
„Du sollst mich doch nicht Siezen.“, stöhnt er.
„Ich halte es aber für besser.“
Schweigend dreht sich der Alte von ihr ab und starrt wieder auf den jungen Mann. Der grinst.
„Scheiße, verdammt“, murmelt der Alte, „verdammt, du hast mit ihm geschlafen.“
Er dreht sich wieder dem Mädchen zu.
„Wie bitte?“
Unvermittelt beginnt der Alte zu schreien:
„Ob du ihn gevögelt hast, will ich wissen, ob du ihn gevögelt hast?!“
Das Mädchen schweigt, doch ihre Augen blitzen verächtlich. Ruhig putzt sie weiter ihre Schnapsgläser. Der junge Mann, der bis jetzt keinen Ton gesagt hat, fängt an zu summen. Die Melodie ist berühmt: Es ist das Chanson „Nathalie“ von Gilbert Becaud.
„Was pfeifst du da?“, der Alte tritt an den Tisch des Jungen. Doch der lässt sich nicht beirren. Leise beginnt er das Lied zu singen.
„Was du da pfeifst hab ich dich gefragt!“, der Alte packt den Sänger und reißt ihn vom Stuhl. Doch für den ist es eine Leichtigkeit den Alten abzuschütteln. Bei dem Gerangel stolpert der Alte, versucht das Gleichgewicht zu finden und fällt dann hin. Er knallt auf seinen Hinterkopf und bleibt stöhnend liegen. Das Mädchen hastet hinter der Theke hervor und hilft dem Alten auf.
„Das wollte ich nicht, Nathalie, wirklich nicht.“, stammelt der junge Mann.
„Ja, ist ja gut, Henry, hilf mir lieber.“, sagt sie. Zusammen helfen sie dem Alten auf einen Stuhl. Das Mädchen eilt hinter die Theke, öffnet den Schnapsschrank und holt einen Wodka hervor. Sie füllt eins der geputzten Schnapsgläser mit der durchsichtigen Flüssigkeit und bringt es dem Alten.
„Hier, trink das.“
Der Alte schüttelt den Kopf, rafft sich auf und schwankt auf die Tür zu. Hätte er Augen am Hinterkopf, dann könnte er sehen, wie das Mädchen auf den Stuhl sinkt, auf dem er gesessen hat. Er würde sehen, wie Henry versucht, sie zu streicheln und sie ihren Kopf wegdreht. Doch er hört und als er die Tür öffnet und die Kälte ihm ins Gesicht schlägt, ruft sie ihm hinterher:
„Du kommst doch morgen wieder, Papa?!“
Ja, er würde wiederkommen und warten bis er starb oder bis sie ihm eines Tages verzieh, so wie er die vergangenen Jahre gewartet hatte. Dieser Ort war gar nicht still und leise, er brauste ihm in den Ohren.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hermes,

Ich denke, dass deine Geschichte auch eine Kritik verdient hat. Sie hat mir insgesamt gefallen, weil sie mich zum Nachdenken gebracht hat. Du entführst den Leser auf eine nächtliche Beobachtungsreise durch einen Touristenort im Mittelmeeraum (Marokko?), und lässt ihm eine alltäglich anmutende Szene beiwohnen, in der ein alter Mann Schwierigkeiten hat, mit seiner nunmehr erwachsenen Tochter umzugehen. Das Ganze beleuchtest du unter dem Blickwinkel des Generationenkonflikts, der zwischen der ruhelosen Jugend und den alten, ansäßigen Menschen hervortritt. Es wird eine Trennung des Textes in einen ersten Teil, in dem du allgemein die gegensätzlichen Lebensweisen junger und alter Menschen (bei Nacht) schilderst, und in einen zweiten Teil, in dem du speziell den Alten und sein Problem mit der Jugend beschreibst, deutlich. In der Bar legt er sich mit einem jungen Mann an, den er verdächtigt, ein sexuelles Verhältnis zu seiner Tochter zu haben, die als Barkeeperin anschließend die Situation entschärfen muss. Geschlagen verlässt der Alte die Lokalität, und muss einsehen, dass er ohnmächtig gegenüber den Willen der Jugend, insbesondere seiner Tochter, die ihm keinen Alkohol verkauft und wild "herumvögelt", ist.
Ich begrüße diese Zweiteilung, die durch einen Wechsel des Schreibstils erkennbar ist - obwohl sie auf den Leser verwirrend und abschreckend bezüglich der Lesemotivation wirken könnte - vorallem deswegen, weil diese eine schlüssige Verknüpfung der beiden Textteile erkennen lässt, und der Geschichte einen philosophischen Hintergrund verleiht. Ich persönlich fühlte mich beim Lesen des ersten Teils an viele Zitate erinnertn, zum Beispiel an "Die Jugend sucht ihre Heimat in der Zukunft". Den zweiten Teil erzählst du zeitnah und spannend, vorwiegend im Dialog zwischen Vater und Tochter. Leider aber nicht sehr stimmungsvoll - daran kannst du noch arbeiten.
Was mich stört, ist, dass du am Anfang sehr oft das Wort "Ort" gebrauchst. Später häufen sich andere Wortwiederholungen, die einen schlechten Schatten auf die Qualität deines Ausdrucks werfen. Finde an diesen Stellen ein paar Synonyme!

Jedenfalls wissen sie nicht, dass sie, jedesmal wenn sie einen dieser rastlosen Aufenthalte machen, Geschichten in die Welt jenes stillen Ortes setzen, wo sie sich versorgt haben.

jedes Mal

Der Raum ist schwach bläulich erleuchtet.

Farbe Blau tritt erneut auf. Der Satz klingt schwach - treffe eine andere Formulierung! Denke daran, Stimmung aufzubauen.

Leise beginnt er das Lied zu singen.
„Was du da pfeifst hab ich dich gefragt!“,

Der junge Mann pfeift nicht mehr. Der Alte müsste nun folgerichtig nach dem Lied, das jener Bursche singt, fragen.

Doch er hört und als er die Tür öffnet und die Kälte ihm ins Gesicht schlägt, ruft sie ihm hinterher:

Oft regnet es, aber da es trotzdem abends meistens noch 20°C sind, kann jeder verwunderte Durchreisende die Einheimischen, als gäbe es keinen Regen, gemächlich durch die Straßen trotten sehen, denn an stillen Orten hat man viel Zeit.

20°C - Ich friere jetzt schon. ;)

Liebe Grüße,
moonaY

 

Hallo, Hermes!

Deine Geschichte ist mMn schon alleine deshalb interessant, weil in ihr alles stimmt, und es doch schwer ist, sie zu lesen. Ich selbst habe sie erst einmal nicht ganz zu Ende gelesen und noch vor dem Dialog weggeklickt, dann aber zurückgeklickt, zu Ende gelesen, und die Geschichte sehr geschätzt. Ich habe mir schon manch ein Mal überlegt, warum es denn so ist. Die Ausführungen am Anfang sind nicht zu lang, und stimmen den Leser gut ein, auf die eigentliche Geschichte. Diese ist dann schön, und die Überraschung am Ende vollkommen. Auch muss man danach nachdenken, über den Vater und über das Recht der Eltern, sich in das Leben ihrer Kinder einzumischen, vor allem nach dem, was da offensichtlich geschehen ist. Warum also weggeklickt, bei solcher Vortrefflichkeit? Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen der tristen Stimmung, wie in „Nathalie“, der Romanze, eben. Vielleicht, wegen der Vielfalt an eintönigen, sinnlosen Geschichten, die in ähnlicher Art zum ähnlichen Thema geschrieben wurden, und dem Image des Genres geschadet haben. Nun, auf jeden Fall verdient deine Geschichte, von diesen abgehoben zu werden.

 

Vielen Dank!!! Solange meine Geschichten Menschen zum Nachdenken bringen können, bin ich ein glücklicher Mensch!

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom