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Nathans Augen
Natürlich hatte sie es nicht gewollt, wie sie es nie wollte. Aber dennoch musste sie sich eingestehen, ihn geopfert zu haben. Nathan mit den graugrünblauen Augen, die je nach Stimmung die Farbe wechselten. Sie waren das Erste gewesen, was sie von ihm wahrgenommen hatte, als habe er nur aus Augen bestanden, damals, irgendwo im Hotel, auf ihrer langen Fluchtreise.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, in welchem Ort es gewesen war, wusste nur, dass alles andere vor und neben ihm verblasste, die Welt erschien ihr mit einem Male durchsichtig, nur er war von kräftiger Farbe, opak inmitten der Auflösung. Er lachte sie an, reichte ihr die Hand und ein Glas schweren Rotweins, während sie an der Balkonbrüstung standen und zusahen, wie die Sonne die Berge rot färbte, bevor sie versank und ein unwirkliches Zwielicht hinterließ. Erst viel später erfuhr sie seinen Namen, und sie rollte ihn auf der Zunge hin und her, kostete seinen Klang, nickte schließlich zufrieden. Nathan, ja.
Als die Nacht weit fortgeschritten war, betrachtete sie seine Haut, die silbrigweiß im Mondlicht schimmerte, wagte es nicht, ihn zu berühren, wollte den Zauber nicht brechen, der auf ihnen lag. Erst, als die Berge wieder in zartem Rot erstrahlten und der Mond sich hinter ihnen zurückzog, schlief sie ein.
Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber fortan reisten sie gemeinsam weiter. Sie fragte ihn nicht nach seinem Ziel, konnte und wollte das ihre nicht nennen, ließ sich treiben und freute sich daran, dass er der gleichen Strömung folgte. Gemeinsam liefen sie auf alten Indianerpfaden oder dem, was sie dafür hielten, schauten den Murmeltieren beim Liebesspiel zu und hielten sich an den Händen, als vor ihnen ein Elch aus den Bäumen trat, sie ohne Angst musterte und schließlich gemächlich wieder im Dickicht verschwand.
Nathan fragte nie, woher sie kam, wohin sie wollte, wie lange sie bliebe. Er nahm sie hin mit seiner ruhigen Art, steckte ihr Blaubeeren in den Mund, die sie in ihrer immerwährenden Ungeduld übersah, und liebte sie nachts mit einer Zärtlichkeit, die sie herbeisehnte und dennoch nicht annehmen konnte. Er fragte nicht, ließ sie in seinen Armen weinen, strich ihr die verklebten Strähnen aus dem Gesicht und wartete, bis der Sturm sich gelegt hatte.
Nach drei Wochen erreichten sie den Pazifik, von dessen Weite sie überwältigt war. Nathan lachte leise, als er ihren Überschwang erlebte, küsste sie auf die Nasenspitze und sagte, er wolle eines Tages Kinder, die genauso wären wie sie. In ihr zersprang etwas mit hellem Klirren, sie machte einen halben Schritt fort von ihm und zog ihre Strickjacke enger um die hochgezogenen Schultern. Zum ersten Mal verstand er sie nicht, streckte eine Hand nach ihr aus und ließ sie wieder sinken, als er den Ausdruck ihrer Augen wahrnahm. Sie hasste sich dafür und konnte es doch nicht ändern, die Kluft war zu groß, um sie zu überspringen.
Abends im Zelt hatte sie sich wieder beruhigt, fand sich selbst kindisch und lächerlich und schaffte es dennoch nicht, ihm zu sagen, wie dumm sie gewesen war und dass es ihr Leid tat. Dass er sie zu sich heranzog, sie in den Arm nahm und sie streichelte, als ob nie etwas vorgefallen sei, machte sie schon wieder wütend. Sie versteifte sich erneut, drehte sich zur Seite, als er sie küssen wollte und murmelte, sie wäre müde. Er strich ihr sanft übers Haar, wünschte ihr eine gute Nacht und schlief ein, lange bevor sie Ruhe finden konnte.
Die Tage am Pazifik waren gekennzeichnet von einer Vorsicht im Umgang miteinander, die nicht auf Liebe, sondern Angst basierte. Immer wieder stieg in ihr der Drang auf, sich ihm mitzuteilen, immer wieder schlug im letzten Moment die Panik zu, ließ sie flüchten vor Vertrauen, Offenheit und Verständnis, hinein in die leere Verzweiflung ihres selbsterwählten Gefängnisses. Und immer war Nathan an ihrer Seite, streckte vorsichtige Fühler nach ihr aus, wartete geduldig auf ihre Rückkehr, die sie ihm nicht gewähren konnte.
Am Morgen des fünften Tages, den sie am Meer verbrachten, küsste sie ihn ungewohnt zärtlich, schlief zum ersten Mal seit dem Bruch wieder mit ihm, klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. Er stellte keine Fragen, nahm das Geschenk an und erwiderte, was er für ein Zeichen ihrer Liebe hielt. Den Tag verbrachten sie ausgelassen am Strand; eingemummelt in Pullover und Jacke, ausgerüstet mit festen Schuhen und einer Thermoskanne voll Tee, wanderten sie an überdimensionalem Treibholz und Findlingen von bizarrer Schönheit vorbei, lachten und tollten und vergaßen, dass es ein Morgen geben musste. Abends grillten sie Steaks am offenen Lagerfeuer, buken Kartoffeln in der Glut und fühlten sich frei wie die Wale, die im letzten Licht am Horizont vorbeizogen. Er sagte ihr, dass er sie liebte, und sie bezahlte mit einem Kuss, ohne ihm in die Augen zu sehen.
Am nächsten Morgen brachen sie auf, schweigend standen sie auf der Fähre, die sie in die Stadt zurückbringen würde, ihrem Flugzeug entgegen. Am Flughafen gab er sie frei, bedrängte sie nicht, fragte nicht nach ihrer Wiederkehr, stellte ihr kein Ultimatum. Einzig das Versprechen gab er ihr, da zu sein, wann immer sie ihn brauchte. Sie dankte ihm mit toter Stimme und verschwieg, dass sie nicht plante, zurückzukommen.
Als sie wieder in ihrer Heimat war, ging sie zurück zu dem Mann, vor dessen Liebe sie in die Einsamkeit geflohen war und die sie nun annehmen konnte. Doch Nathan und seine Augen vergaß sie nie. Von Zeit zu Zeit, wenn die Sonne rotgolden unterging, spürte sie seinen Blick und hörte sein Versprechen. In diesen Augenblicken fragte sie sich, ob sie dort in der Einsamkeit, in seiner Welt mit ihm hätte leben können. Die Stimmen ihrer Kinder ließen ihr nie lange Zeit zum Grübeln. Lächelnd wandte sie sich um und sah in die fragend auf sie gerichteten graugrünblauen Augen ihres Ältesten.
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Mai / Juni 2005
für Tony