Nationalismus
Nationalismus
Ein klarer, wolkenloser Wintertag in Venedig.
An Bord eines Wasserbusses auf dem Canale Grande steht neben mir ein Kind. Es hält sich mit der einen Hand an der Reeling fest, mit der anderen schwenkt es die italienische Flagge und schreit in rhytmischem Singsang: „I – TA –LI – A! I – TA –LI – A! I – TA –LI – A!“.
Ich schaue auf das helle, milchig-mintfarbene, durch regen Bootsverkehr an der Oberfläche aufgewühlte Wasser.
Lange, schwarze, mit Muskelkraft vorwärtsgetriebene Gondeln, auf einer steht ein laut und falsch singender Tenor in barockem Kostüm; kleine, sehr schnelle Wassertaxis; altmodische, metallene Lastkähne und Barkassen fahren vor uns entlang. Drüben auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals stehen dichtgedrängt die Paläste mit den marmornen, in der Sonne leuchtenden Fassaden.
Mich drängt es, laut, sogar lauter noch als das Kind, einzustimmen in seinen Gesang. Es scheint mir, als sei dies die einzig angemessene Art, die Freude, das Hochgefühl dieses Augenblicks, den ich diesem wundervollen Land verdanke, zum Ausdruck zu bringen.
Mir fällt ein, dass es mir nie in meinem Leben eingefallen war, „DEUTSCH – LAND! DEUTSCH – LAND! DEUTSCH – LAND“ zu brüllen. Dafür habe ich meine Gründe.
Ich schweige.