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Nebel (überarbeitete Version)
Nebel
Es war früher Abend und ich wollte von einem alten, ausgebrannten Bauernhof ein paar Fotos machen.
Ich ging den schmalen Feldweg entlang und träumte vor mich hin. Als ich bemerkte, dass sich langsam Nebel bildete, wollte ich wieder nach Hause gehen, doch plötzlich war der Nebel sehr dicht und schien sich zu einer Art Wand vor mir aufzutürmen. Ein wenig irritiert blieb ich stehen und versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich mir das nur eingebildet hätte.
Ich ging los; der graue Dunst umschlang mich und nach kurzem Zögern setzte ich meinen Weg fort. Plötzlich wieherte ein Pferd hoch und schrill in der Ferne, Vögel flogen kreischend auf. Mein Kopf flog erschrocken herum, dann war alles wieder ganz still. Mein Herz pochte heftig, ich blieb stehen und schaute mich nervös um. Mir kam es so vor, als wäre der Nebel dichter geworden, wobei er mein Gesicht, meine Haare und Kleidung benetzte. Doch er fühlte sich keineswegs unangenehm an; ja er schien geradezu warm zu sein. Wie ein warmes, entspannendes Bad.
Ohne besonderen Grund streckte ich die Arme seitlich weg und drehte mich im Kreis. Immer schneller und schneller, ich hatte das wohltuende Gefühl, der Nebel stütze mich; fasse um meine Taille und bewahre mich vor einem Sturz.
Langsam hörte ich auf, mich zu drehen und blieb stehen. Leises Raunen und Rauschen drang an meine Ohren. Ich horchte überrascht auf, denn die Laute klangen wie eine Stimme, die versuchte, mir etwas mitzuteilen. Der Wind in den Blättern der Bäume, versuchte ich mich selbst zu überzeugen. Ich verhielt mitten im Schritt und das Rauschen verstummte.
Ich wandte mich zum Gehen, als ein erneuter, diesmal kräftigerer Luftzug durch das Geäst der Bäume fuhr. Es hörte sich wie „Warte!“ an. Obwohl ich nicht genau wusste, warum, wartete ich. Der Nebel waberte um mich herum. Er war stellenweise dichter und durch den leichten Wind, der den Nebel voranhauchte, bildete er seltsame Formen, von denen einige den Eindruck von Händen erweckten. Und sie schienen nach mir zu greifen, als wollten sie mich festhalten. Leise entfuhr mir ein Schrei. Meine Nerven waren sehr angespannt und ich versuchte mich zu beruhigen, doch es gelang nicht ganz. Ich wollte nach Hause und machte kehrt. Nein!, hallte es in meinem Kopf. Wie erstarrt verharrte ich mitten im Schritt und versuchte meine stärker werdende Furcht niederzukämpfen. Ich setzte mich in Bewegung und sah einige Meter vor mir einen Schatten, von dem ich mir einredete, er sei nur ein Busch. Nachdem ich ein paar Schritte gemacht hatte, stand plötzlich ein Junge vor mir. Vor Schreck stolperte ich einige Schritte zurück.
„Ha... hallo.“, stammelte ich.
„Hallo.“, antwortete der Junge. Ich konnte sein Alter nicht schätzen, denn sein Gesicht sah jung aus, doch seine Augen sehr alt. Als hätten sie schon alles gesehen, das es zu sehen gibt, dennoch leuchteten sie in unbeschreibbarer Intensität.
Mir fiel es schwer, seine Konturen klar auszumachen; sie schienen mit dem Nebel zu verschmelzen. Ich konnte weder etwas sagen, noch gelang es mir, mich einfach umzudrehen und nach Haus zu gehen. Irgendetwas hielt mich davon zurück. Wir standen nur da und sahen uns an, sagten kein Wort. Meine Gedanken und Gefühle wirbelten wild durcheinander. Fragen schossen durch meinen Kopf. Wer ist er? Was will er von mir? Und aus welchem grund kann ich mich nicht umdrehen und weggehen? Einerseits hatte ich Angst und wollte so schnell wie möglich weg, andererseits zog er mich auf eine Weise an, die ich nicht beschreiben kann.
Langsam, fast schon behutsam, kam er ein Stück näher, ließ meinen Blick nicht los. Alles war still, selbst der Wind schien den Atem anzuhalten; nichts störte dieses Schweigen.
Während wir uns ansahen, glaubte ich ihn immer besser zu kennen. Er war mir vertraut und doch fremd.
Nun bewegte ich mich auf ihn zu. Er beobachtete meine Bewegungen. Wir standen jetzt schon sehr dicht voreinander, ich konnte seinen Atem hören.
Er hob langsam seine rechte Hand und strich mir über das Haar. Die andere Hand legte er um meine Taille und zog mich vorsichtig zu sich heran. Jetzt nahm ich seinen warmen Atem im Gesicht wahr, spürte ein Gefühl der Hitze in mir emporsteigen und in meinem Kopf schien sich alles zu drehen.
Mittlerweile war seine rechte Hand auch zu meine Taille gewandert. Ich ließ meinen Blick über sein Gesicht gleiten. Er blickte mich aus ruhigen, liebevollen Augen an.
Ich kann nicht beschreiben, was ich fühlte, denn es waren zu viele, verschiedene Gefühle. Zuneigung, Angst, Verwunderung, Verwirrung, Liebe, Freundschaft.
Ich hob nun meinerseits eine Hand und strich ihm über die Wange.
Er kam näher, ganz nah war er mir jetzt. Er schob meine Haare hinter die Schulter und zog mich ganz nah zu sich heran. Dann spürte ich seine weichen, warmen Lippen an meinem Hals. Das Gefühl, dass wir uns schon sehr lange und gut kannten, war nun extrem stark. Meine Angst war verflogen.
Er küsste meinen Hals, näherte sich langsam meinen Lippen, die die Seinigen schon erwarteten. Wir legten die Arme umeinander und küssten uns.
Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich erschrak, als ich ihn in meinen Armen spürte. Erst jetzt hatte ich das Gefühl, dass er real war. Jetzt, da ich sein weiches Haar in meinen Händen fühlte. Und doch hatte ich das Gefühl, dass er nicht wirklich da war. Das verwirrte mich.
Ich merkte, dass die schöne Empfindung verschwunden war. Ich schob ihn ein Stück von mir fort. Er schaute mich irritiert an. Ich wollte gehen, und sah zum Abschied in seine Augen. Nach kurzer Zeit bemerkte ich mit einem kleinen Schauder, dass seine Augen mich festhielten. Ich konnte meinen Blick nicht von seinem lösen. Mir kam es so vor, als ob ich mich darin wie in einem Spinnennetz verfing.
Das schöne Gefühl kehrte plötzlich zurück und ich entspannte mich. Wir küssten uns wieder, meine Gedanken wirbelten wieder wild durcheinander.
Nach einer Weile, deren Länge ich nicht einschätzen kann, hörten wir auf und sahen uns in die Augen. Obwohl wir uns nicht mehr berührten, schien es mir, als ob wir uns immer noch küssten und ich fühlte mich ihm so nah.
Es war nun doch etwas unheimlich, denn ich hatte ihn ja noch nie vorher gesehen. Und dennoch glaubte ich, mich ihm so nahe zu fühlen, dass ich mir meine Welt nicht mehr ohne ihn vorstellen konnte.
Der bloße Gedanke daran, dass ich ohne ihn nach Hause gehen sollte, machte mich verrückt.
Zwischen uns bestand ein Band, das von unglaublicher Stärke war. Und mit jedem Moment, den wir uns länger ansahen, wurde dieses Band kräftiger.
Mittlerweile hatte ich das Zeitgefühl vollkommen verloren.
„Wer bist du?“, fragte ich unvermittelt. Er antwortete mir nicht sofort, sondern lächelte mich nur an.
„Ist das denn wirklich so wichtig? Reicht es denn nicht, dass ich einfach da bin?“, fragte er in einem sanften Tonfall.
„Nein, es reicht nicht.“, antwortete ich. Doch ich musste mich fast dazu überwinden, das zu sagen. Irgendetwas in mir sagte, es reiche, dass er einfach da ist. Ich löste meinen Blick von seinem. „Wer bist du?“, fragte ich hartnäckig. Jetzt, als ich ihm nicht mehr in die Augen sah, fiel es mir leichter, ihm diese Frage zu stellen.
Er gab mir keine Antwort, sondern nahm mich mit seinem Blick wieder gefangen und ließ mich darin eintauchen. Doch dann drehte er sich ohne ein Wort zu sagen um, und ging. Ich blieb stehen, sah ihm nach, wollte ihn rufen, doch ich bekam keinen Laut heraus. Der Nebel wallte um ihn herum; wurde dichter. Ich spürte, wie das Gefühl des Verrücktwerdens deutlicher wurde, und der Nebel lichtete sich. Er schien eine Gasse zu bilden. Links und rechts von mir war der Nebel undurchdringlich dicht.
Ich konnte ihn sehen, wie er langsam den Feldweg entlang ging, ohne dass er sich nur umdrehte.
Es sah für mich so aus, als ob seine Konturen immer mehr mit dem Nebel verflossen; sich mit ihm vereinten.
Die dunkle Gestalt verschwand zusehends im Nebel. Hinter ihm schloss sich die Gasse, so unvermittelt wie sie erschienen war. Der graue Dunst umwallte mich abermals, strich mir über das Haar, am Hals entlang, dort wo er mich küsste, über die Hände, durchs Gesicht.
Dann verflüchtigte sich der Nebel. Ich stand auf dem Feldweg, meine Kleider trieften vor Nässe und ich fror. Ich nahm eine unendliche Schwere wahr, die auf meinem Herzen lastete. Dann wurde mir bewusst, dass dies ein Abschied war.
Ich sollte ihn nie wieder in menschlicher Gestalt sehen, doch jedes Mal bei Nebel, gehe ich hinaus und er ist da; streicht mir über das Haar.