Was ist neu

Negerkönig sagt man nicht

Challenge 1. Platz
Challenge 1. Platz
Mitglied
Beitritt
05.10.2016
Beiträge
264
Zuletzt bearbeitet:

Negerkönig sagt man nicht

Er sah ja nichts mit den Augenklappen, lag den ganzen Tag auf der Couch und konnte nur hören, was um ihn herum passierte. Ja, seine Ohren. Die würden ihm bleiben, dachte er, die müsste er jetzt trainieren, um einen neuen Sinn auszubilden, weil die Augen, die konnte er vergessen. Der Doktor hatte einen Tonfall in der Stimme, das merkte er genau, dass er ernst war, sehr ernst, so ernst, dass es dem Martin ganz schwarz vor den Augen würde, aber sie blickten ohnehin ins Schwarze, auf zwei schwarze Deckel, die ihm der Arzt aufgelegt hatte.
„Frau Kieland, bitte kommen Sie mit heraus“, hörte er den Doktor sagen und da spitzte er seine Ohren, und das leise Flüstern drang zu ihm, als wenn sie neben ihm sprechen würden, weil nichts ihn ablenkte, nicht die dummen Augen, mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen.

„Konjunktivitis“, drang es deutlich an sein Ohr, „Bindehautentzündung in einer schwereren Form. Wahrscheinlich eine bakterielle Infektion durch einen verschleppten Keim. Auch eine mechanische Reizung der Bindehaut wäre denkbar. Aber die verläuft nicht so gravierend. Möglicherweise hat sich ein Bakterium eingenistet in das gereizte Gewebe. Ich habe einen Abstrich gemacht. Der kommt ins Labor, dann sehen wir weiter. “
„Wird er?“, fragte Ottilie, seine Mutter, und ihre Stimme stockte.
„Man wird sehen. Ist Ihr Sohn allergisch, hatte er Herpes in letzter Zeit, oder war er in der Zugluft?“
„Martin war nicht in der Zugluft“, sagte Ottilie. „Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.
„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme. Und dabei war er natürlich in der Zugluft gestanden, oder besser gesagt, seine Augen standen in der Zugluft und alles wegen der Titten. Alles wegen ein wenig Fleisch in dem gottverdammten Gang, den man sowieso abreißen würde, weil das neue Freibad daneben schon fast fertig war. Und nun hatte ihn der Gang zum Abschied blind gemacht, bevor er zertrümmert wird. Blind sein, wie schlimm wäre das? Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt, ein langer Stock lag hinter dem Haus. Mit ihm würde er wie mit einer Sense vor sich herumfahren und die Leute im Umkreis von zwei Metern verscheuchen, die ihn mitleidig anglotzten. „Glotzt nicht so dumm“, würde er sie anbrüllen. Aber wie sollte er wissen, dass sie dumm schauten? Er könnte es ja nicht sehen. Und alles wegen der paar Titten und Max meinte, es sei so geil in dem Gang und durch die Löcher könnte man wunderbar die Badenden sehen, wie sie sich ausziehen und anziehen und bei den Mädchen wäre es besonders interessant. Und jetzt sollte er mit seinem Augenlicht dafür bezahlen, dass er geguckt hatte, stundenlang. Max an einem Loch, und er an dem anderen.

Jemand strich über seine Stirn. Es war Ottilie, die lautlos hereingekommen war, und er hatte sie nicht gehört, weil er nur an den Max dachte, den Idioten, der ihn verführte.
„Wie geht es dir?“, fragte ihn Ottilie ganz sanft und strich ihm über die Wange. Er hielt ihre Hand fest und fragte: „Mama, werde ich blind?“
Und dass sie eine Weile mit der Antwort wartete, war für ihn eine Antwort, und er deutete es als schlimmes Zeichen und drückte ihre Hand ganz fest auf sein Gesicht, dass es in den Augen noch mehr wehtat.
„Es wird wieder gut“, brachte sie dann heraus und er merkte, wie ihre Stimme zitterte und wie sie leise schluchzte. Er hörte, wie sie dagegen ankämpfte, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, um nicht sagen zu müssen: „Wir werden sehen, Martin, möglicherweise verlierst du dein Augenlicht.“ Aber sie strengte sich an und sagte es nicht und dass sie das tat, berührte ihn noch mehr und er spürte, wie sich seine mit Eiter und Schleim überzogenen Augen mit Tränen füllten, dass es höllisch brannte. Dann träufelten sie unter den Augenklappen hervor.
„Versuche, zu schlafen“, sagte sie ganz sanft und ihre Stimme klang wieder fester und tröstlicher als vorher.
„Ja, ich versuche es“, sagte Martin und dachte an die letzte Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte, obwohl beide zu waren, obwohl er nichts als Schwarz sah, aber an nichts anderes denken konnte, als an den Gang im Freibad, der für sie verboten war.

„Da ist ein Gang hinter den Kabinen im Badehaus. Und da sind Astlöcher. Und da wirst du staunen“, hatte Max ihn angelockt. Martin folgte ihm und er könnte sich verfluchen dafür, dass er ihm gefolgt war. Weil er jetzt eben die Strafe dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag nackte Leute durch das Loch angestarrt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, bis die Bindehaut ausgetrocknet war, dass sie juckte und brannte. Mit einem Hund würde er leben können und mit einem Stock auch. Und die Ohren würde er spitzen, wie ein Verrückter. Es gab blinde Klavierspieler, das hatte er schon gesehen. Sehen! Nie wieder würde er einen blinden Klavierspieler sehen können. Aber es gab sie und sie spielten unglaublich gut. Und es gab Blinde, die auf den Mount Everest gestiegen sind. Das könnte er auch. Das traute er sich zu. Aber Lesen. Wie sollte er jemals Blindenschrift lernen können?

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Da lernst du Blindenschrift, dann kannst du alles lesen. Da gibt es Bücher, die sind alle in Blindenschrift geschrieben.“

Der Trottel, dachte er. Einmal, im Aufzug im Krankenhaus, als sie Oma besuchten, hatte er neben den Knöpfen mit der Stockwerksangabe die Blindenschrift befühlt. Er spürte nichts als ein paar Erhebungen, die unregelmäßig angeordnet waren. Wie sollte er das jemals lernen? Auf seinem Bauch lag die Wärmflasche aus Gummi. Ottilie hatte sie ihm gebracht, obwohl ihm am Bauch nichts fehlte. Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas. Aber er konnte nichts daraus lesen. Für ihn waren es nur stumme Noppen auf einer Wärmflasche. Niemals würde er das lernen, niemals würde er Geschichten lesen können aus Noppen, die sich kaum vom Grund abhoben.

Dieser verfluchte Gang, der Gang hinter den Kabinen, der dem Untergang geweiht war. Er war verbotene Zone. Nur über das Wachzimmer des Bademeisters konnte man ihn betreten. Aber entweder war der Bademeister, so wusste Max, selbst damit beschäftigt, durch die Löcher in die Kabinen zu glotzen, oder er stand breitbeinig mit seiner roten Badehose vor dem Badehaus und unterhielt sich den ganzen Nachmittag mit blonden Frauen und streckte ihnen seine Hüften entgegen, die sich im Schritt dabei ausbeulten. „Keule“ nannte ihn Max, obwohl er Helmut hieß, und das war auch der Alarmruf, falls er kommen sollte.
„Ich rufe: ‚Keule kommt‘, sobald er sich nähert. Dann schnell den Gang entlang und durch das Fenster da hinten, siehst du? Eine sichere Geschichte. Wir werden unseren Spaß haben“, sagte Max. Aber Keule kam nicht, weil er vor seinem Wachzimmer stand und Frauen anmachte und sie hatten den ganzen Nachmittag Zeit. Hätte er nur nicht auf Max gehört, auf diesen Deppen, der meinte, er wüsste, wie man das macht. Aber er hatte auch Glück. Seine Augen waren in Ordnung am Ende des Tages. Der Wind ging ganz sanft und wenn man die Hand an das Loch hielt, spürte man nur leicht, wie er sich durch die kleine Öffnung hindurchzwängte, fühlte man einen leichten Druck auf der Haut. Dem Max machte es nichts aus. Aber für ihn, für den Martin, da reichte das bisschen Zugluft, dass es für seine Augen war, wie in einem Windkanal. Und er, er könnte sich verfluchen. Er musste ja unbedingt das Auge wechseln, wenn ihm das eine brannte. Da nahm er das andere und wechselte hin und her. Mit einem Auge, da hätte er noch sehen können. In das andere hätte er sich ein Glasauge gestopft, wobei ihn nur die Vorstellung ekelte, in die Augenhöhle zu fassen und ganz hinten kam ja schon sein Hirn. Aber immerhin hätte er ein Auge gehabt und Polyphem, das hatten sie zuletzt in Latein übersetzt, der einäugige Riese, machte auch dem Odysseus das Leben schwer, obwohl er nur ein Auge besaß. Und das stach ihm Odysseus aus mit dem Holzpflock. Aber ihm könnte man nicht einmal mehr ein Auge ausstechen mit einem Holzpflock, weil er gar keines mehr hätte.

Dabei war es ja am Anfang so lustig, wie der dicke Herr Breitsamer in die Kabine kam, der, wie Max immer sagte, eine Wampe hat, dass er sich nach hinten lehnen muss, um nicht umzufallen. Wie er gerade noch in die Kabine passte, das konnte Martin genau beobachten, wie er keuchend die Hose herunterstreifte und seinen behaarten Hintern dem Martin entgegenstreckte. Da winkte er den Max her, und der sah auch den Hintern vom Breitsamer als riesige Scheibe in der Umkleidekabine und sie hielten sich die Nasen zu, weil sie fast geplatzt wären vor Lachen, wie der Breitsamer auch noch anfing zu grunzen, wie ein Vieh, als er sich in seine enge Badehose zwängte und sich zwischen den Beinen rieb. Sie schlichen dann den Gang hinaus durch das Wachzimmer und atmeten nicht, weil sie sonst schon drinnen lauthals gelacht hätten, und dann hätte jeder gemerkt, was sie dort trieben. Also schlichen sie hinaus und durch das Wachzimmer von Bademeister Keule und als sie draußen waren, hielten sie es nicht mehr aus und juchzten in hohen Tönen, dass die Badegäste ringsherum auf sie schauten und sich wunderten. Da kam der Breitsamer aus der Umkleide und ging mit finsterem Gesicht an ihnen vorbei, und sie mussten nur auf seine Badehose schauen und prusteten, bis sie keine Luft mehr bekamen.

Das hatte ja der alte Pastor Helfrich schon im Konfirmationsunterricht gesagt, dass man sich nicht lustig machen soll über das Gebrechen anderer Leute, und das hatten er und Max ja weidlich getan, hatten ihn ausgelacht, den Breitsamer mit seiner knackengen Hose, über die ihm der Bauch hing, wie ein nasser Sandsack. Martin musste in seinem Leid kurz auflachen, wenn er an seinen finsteren Blick dachte und daran, wie er sich zwischen den Beinen rieb. Hatte ihm das also Gott nicht verziehen? Hatte er ihn gestraft, dachte Martin, weil er sich lustig gemacht hatte über einen Fetten, der kaum in die Kabine passte?
„Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln“, sagte der alte Pastor Helfrich und schaute sie streng an. Den kleinen Katechismus, den hatte er ja gelernt für die Konfirmation, obwohl ihm der Gott ziemlich egal war. Er freute sich auf Geld und auf Geschenke. Und jetzt hatte er den Dreck, die Strafe in seinen Augen. Und alles wegen dem alten Holzschuppen von Badehaus, das sowieso demnächst abgerissen wird und ihm als letzte Hinterlassenschaft die Blindheit vermachte. Tanzen würde er um den Holzhaufen, ein Streichholz anzünden und Benzin in die Flammen schütten, dass es hoch in den Himmel lodert, weil es ihm Recht geschehe, dass es restlos zertrümmert wird, ausgelöscht, jede Spur getilgt. Aber Martins Spur würde nicht getilgt, er würde immer an das Badehaus denken müssen und an das, was ihm der läppische Gegenwind angetan hat.

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Im Fernsehen wird jetzt ganz viel mit Gebärdensprache übersetzt für die Behinderten.“ Und der Martin schrie ihn an, was er für ein Blödmann sei, weil ein Blinder die Gebärdensprache nicht sehen könnte. Die sei für die Gehörlosen, das kapiere doch jeder Depp.

Vielleicht aber, dachte Martin, war es auch die Strafe wegen der Frau Pelletier, der Französin, die seit langem in der Nachbarschaft wohnte und rief: „Wo ist denn der liebö Martä“, wenn er ihr helfen sollte. Er ging ja gerne zu ihr und riss das Unkraut in ihrem Garten aus, sammelte heruntergefallene Äpfel und mähte den Rasen, weil ihm ganz schummrig wurde, wenn sie ihn ansah mit den langen Wimpern und den tiefblauen Augen, und ihm das Herz in die Hose rutschte, wenn sie ihm über das Haar strich und hauchte: „Die bist eine so Liebör. Ich wünschte mir eine Sonn, wie du.“
„Pelletier, ach komm zu mir“, dichtete Max immer und es half nichts, dass ihn der Martin berichtigte, dass man es französisch ausspricht: „Pelletje.“ Aber dann dachte es Martin selbst, als er sie durch das Loch sah, „Pelletier, ach komm zu mir“, und sein Mund wurde ganz trocken und er bekam ihn gar nicht mehr zu, als sie aus dem luftigen Sommerkleid stieg, das sie sich nur von den Schultern zu streifen brauchte und schon stand sie fast nackt in der Kabine, nur ein kleiner Schwupps, und sie hatte nichts mehr an. Nur den schwarzen Büstenhalter sah er von hinten, den Verschluss, und am liebsten wäre er mit den Fingern durch das Loch geschlüpft und hätte die Haken geöffnet, aber die Pelletier machte das mit ihren anmutigen Händen und streifte den Halter über ihre Brüste. Und dann stand sie seitlich und er sah ihre Brüste im Profil, die zu den Brustwarzen hin anstiegen, wie zwei Skisprungschanzen. Da tauchte die Pelletier ihre Hand in einen Topf. Die Finger waren ganz weiß mit einer Schmiere bedeckt, die sie auf dem ganzen Körper verteilte, und ein Duft drang in Martins Nase, ein Duft aus Mandarinen und gebrannten Mandeln, und er ließ sein Auge offen, obwohl es unbedingt blinzeln wollte, aber er konnte keinen Augenblick verpassen, als sie mit ihren Händen zuerst ihre Beine eincremte bis oben hin, dann den Bauch und dann um ihre Brüste fuhr und die Masse mit schmatzenden Geräuschen in ihre Haut knetete. Er drückte seine Hüfte an die Wand, wetzte daran hin und her und steckte eine Hand in die Hose. Da pfiff Max, der von seinem Loch gerade aufsah, leise herüber und zischte: „He, wichst du?“ Und da erschrak Martin, zuckte zurück und schnellte wieder nach vorne, dass sein Kopf an die Wand knallte. Gleich ging er in die Hocke unter dem Loch und fühlte genau, wie das Auge der Pelletier darin erschien und unruhig hin- und herwanderte. „Ist da wör?“, rief sie und über sich spürte er, wie ein Strahl suchend den Korridor ausleuchtete, wie das Auge vom Polyphem, bevor es der Odysseus ausstach, aber er war darunter und sie konnte ihn nicht sehen.

Ein gnädiger Gott, das hatte der alte Helfrich gesagt, ein gnädiger Gott, danach hätte der Luther gesucht. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, rief er immer. Dazu machte er große Augen und seine buschigen Augenbrauen richteten sich auf wie schwarze Pinsel. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Das wäre Luthers Frage gewesen. Dann soll doch, so dachte Martin, der verdammte Gott mit ihm auch gnädig sein, an ihm seine Gnade erweisen und ihn, trotz der Sünden, von der Blindheit verschonen. Nie wieder wollte er, so schwor er, an Brüste denken, nie wieder sich anfassen, nie wieder unkeusch denken, wie es im Katechismus stand. Aber je mehr er versuchte, die Brüste der Pelletier zur Seite zu schieben, desto stärker kamen sie zurück und türmten sich vor ihm doppelt, dreifach, hundertfach zu einem Gebirge aus Brüsten auf, und er fuhr mit den Skiern über die Brustberge hinunter und sprang über die Brustwarze in die Tiefe, die ihn in einer trostlosen Dunkelheit verschlang. Nein, er könnte nicht keusch leben, das würde er nicht schaffen, er würde die Brüste nicht aus seinem Schädel bekommen, immer mehr würden sie zurückkommen, über ihn herfallen und ihn unter sich begraben, dass er nichts mehr sähe, nur noch Schwarz, aber das würde er sowieso. Und seine Hände, die er vorher artig neben die Schenkel gelegt hatte, fuhren wieder in der Körpermitte zusammen und verzweifelt zerrte er an seinem Schwanz, der sich nicht ausreißen ließ und stattdessen anschwoll zu einem beträchtlichen Stamm, der Keule alle Ehre gemacht hätte. Und so lag er da, der Martin, und umklammerte seine aufgepflanzte Stange und schluchzte laut auf vor Mitleid mit seinen Augen, seiner Mutter, seinem Schwanz und sich selbst.

Dann war es Abend und die Sonne stand schon tief. Viele Kabinentüren waren offen, und das Licht drang herein und warf durch die Astlöcher gebündelte Strahlen in den Gang. Martin sah den beleuchteten Staubflocken zu, die darin herumflogen. Er saß auf dem Boden und Max neben ihm, und er blinzelte in die Lichtstäbe, die ihm vorkamen wie aus einer anderen Welt, als hätte jemand Löcher in den Himmel gestoßen, und aus einer fremden Galaxie würde eine fremde Sonne in ihre Gangwelt scheinen. Das Kreischen der spielenden Kinder draußen war leiser geworden, das Raunen der Gespräche und das Wasserplantschen verebbte. Das Bad leerte sich. Da quietschte noch einmal die Tür, und Martin stand noch einmal auf und sah durch sein Guckloch den roten Haarschopf von Rebecca.
Er wendete sich erschreckt zur Seite. Sie hatte ihn am Vormittag noch gefragt, ob er ihr bei der Übersetzung vom Odysseus helfen könnte, weil sie immer mit dem Perfekt Schwierigkeiten hätte und mit dem AcI. Und er bekam einen roten Kopf und sagte: „Klar helfe ich dir, ist nicht so schwierig“, und schaute ihr nach, wie sie mit den langen roten Haaren vor der Schule nach links ging und er nach rechts. Und der Max sagte immer: „Was willst du mit der. Die hat ja Feuer auf dem Kopf.“ Aber das war Martin egal, oder gerade wegen dem Feuer wurde er immer feuerrot, wenn er sie sah und sie sich ihm näherte. Und plötzlich stand sie kurz vor Badeschluss in der Kabine und die Augen vom Martin waren schon gereizt, und er rieb sich immer wieder über das Gesicht und fuhr mit dem Finger in das eine Lid und dann in das andere, weil er meinte, es sei ein Staubkorn drin, oder eine Holzfaser. Und dabei waren die Augen so blutunterlaufen, dass der Max sagte: „Mensch, deine Augen sind ja blutrot.“ So rot wurde Martins Kopf, als Rebecca kam und er sich abwendete, aber dann doch wieder schaute, als sie ihren Bikini auszog. Aber auf einmal schämte er sich und drehte sich weg. Nein, auf keinen Fall wollte er die Rebecca nackt sehen. Nur von hinten wollte er sie anschauen, wie ihr die leuchtenden Haare über den Rücken fielen, oder ihr Gesicht, ihre blasse, schimmernde Haut, von der sich ihr Mund rot geschwungen absetzte. Davon hätte er nicht genug bekommen. Aber sie durch das Loch anstarren, das konnte er nicht und er spürte, wie ihm das Herz im Hals pochte und er war nur froh, durch die Wand Rebecca nahe zu sein und er legte die Hände auf das Holz und streichelte es. Dann hörte er, wie sie drinnen ihr Haar kämmte und leise das Lied sang, das sie am Vormittag in der Musikstunde gesungen hatten: „When I find myself in times of trouble mother Mary comes to me.
Speaking words of wisdom: Let it be.“ Und er lehnte an der Wand und seine Lippen bewegten sich stumm mit den ihren.

Und jetzt lag er da mit den Augenklappen und statt Schwarz sah er Rot, weil er an die Haare Rebeccas dachte und an den AcI und an ihr blasses Gesicht. Und vielleicht würde er das nie mehr sehen können, aber fühlen, das könnte er immerhin noch und er fuhr wieder über die Noppen der Wärmflasche, die, wenn sie schon nicht lesbar waren für ihn, doch fühlbar waren, und fühlen könnte er die Rebecca und mit dem Finger den zarten Schwung ihrer Lippen nachfahren, den sanften Bogen ihrer Nase, die weiche Kurve ihres Kinns. "When I find myself of trouble speak words with me”, improvisierte er mit seiner kratzigen Stimmbruchstimme, schluckte ein paar Mal, weil er an Rebecca dachte, wie sie singend in der Kabine stand und ihr Haar bürstete, und da hoffte er, dass das Hören schon reichen würde und das Riechen und das Fühlen, und dass es schon irgendwie werde. „Let it be, let it be, let it be“, krächzte er weiter und seine Mutter hörte ihn und sagte: „Martin, du singst ja“. Und er antwortete: „Ja Mama, ich singe.“

„Wenn du blind wirst, lese ich dir immer was vor, was du magst“, sagte Siegfried, sein Bruder. „Auch die Geschichten vom Humer, die mich gar nicht interessieren, das griechische Zeugs. Weil die hatten ja nicht mal richtige Pistolen.“ Und der Martin streckte seine Hand aus und suchte nach dem Kopf vom Siegfried und strich ihm über das Haar.


Martin stand neben Keule und sie schauten dem Bagger zu. Der machte sich gerade mit offenem Maul über das Gebälk des Badehauses her und Martin kam der Bagger vor wie ein Tyrannosaurus, der aus seinem Opfer enorme Fleischbrocken herausreißt und sich dann aufrichtet, den Kopf wild schüttelt und mit weiten Augen in die Urlandschaft stiert, während ihm das Blut von den Lippen tropft . Dann löste der Bagger seine Klappe und ließ die Schaufel mit Wucht herabsausen, dass die Dachkonstruktion krachend zusammenbrach.
„Schade“, sagte Keule. „Ich werde sie vermissen, die alte Bude. Da habe ich mich sehr wohlgefühlt.“ Er wippte mit der Hüfte vor und zurück. Martin dachte an Max, der erzählt hatte, dass das neue Freibad blöd sei, weil da gäbe es keinen Gang hinter den Kabinen, das hätte er schon ausgespäht und das mache ja gar keinen Spaß ohne Gang.
„Aber du hast Glück gehabt. Ein Auge ist ja schon wieder frei“, sagte Keule.
„Das andere wird auch wieder, hat der Doktor gesagt“, gab Martin zurück.
„Na also, da siehst du im Herbst ja wieder ganz normal. Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, wie der Papa von Pippi Langstrumpf mit der Augenklappe. Wie nannte sie ihn gleich wieder? Ah, Negerkönig“, sagte Keule und lachte.
Martin blieb noch eine Weile stehen und betrachtete stumm, wie der Bagger den Gang einriss und die Bretter der Kabinen zersplitterten. Dann ging er, wendete sich um und rief Keule zu: „Negerkönig sagt man nicht!“

 

Hallo rieger

oberhalb von Freiburg gibt es ein Waldheiligtum St. Ottilien mit einer radonhaltigen Quelle, die für die Augen gut ist. Sehr beliebt bei Brautpaaren für kleinere Hochzeiten. Gewidmet ist sie der heiligen Odilie, Äbtissin und Schutzpatronin des Elsass.

Gruß wieselmaus

 

Toller Hinweis. Danke wieselmaus! Gerade bei Hochzeiten ist ein klares Auge von Vorteil.
Herzlich
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Rieger,
da Deine Geschichte ja offenkundig so exzellent ankommt, musste ich sie doch noch ein zweites Mal lesen. Beim ersten Mal hat sie mich nicht gepackt - und beim Wiederlesen auch nicht...
Was ist es denn, was mich stört oder nicht gefällt? Es sind keine handwerklichen Schwächen - der Text ist ja wirklich sehr gekonnt geschrieben, Kompliment -, aber es fehlt mir das, was Literatur dann vielleicht doch im Kern ausmacht. Nämlich irgendetwas, was über das hinausweist, was man ohnehin schon weiß. Eine Notwendigkeit, warum der Text geschrieben werden musste, auch wenn das jetzt ein bisschen peinlich-pathetisch klingt. Ich finde in Deinem Text einfach nichts, was irgendeine Bedeutung hätte für mich und meinen Blick auf die Welt.
Und um doch wenigstens eine konkrete Sache zu sagen: Ich finde, dass das eine (die berechtigte Angst, blind zu werden) und das andere (eine humorig erzählte Pubertät-Geschichte) überhaupt nicht zusammen passen. Ein Junge wird blind, so what? Ein bisschen Melancholie und leicht-trübe Gedanken, aber wirklich verderben lassen wir uns die Laune davon nicht.
Und die Schwimmbad- etc. Geschichten. Ja, nett. Ärgerlich wurde ich eigentlich nur, als Luther seinen Auftritt hatte. Da fragt man sich schon: Muss man Luther auf die Bühne schieben, wenn man nichts Interessantes über ihn zu sagen hat?
Aber, wie gesagt: Hochachtung vor Deinem handwerklichen Können!
beste Grüße
Jürgen Hoffmann

 

Hallo JPHoffmann,
danke Dir für Deine ehrlichen Worte. Und einfach auch danke, dass Du sie zweimal gelesen hast, um ihr eine Chance zu geben. Dass sich dann die Lektüre letztlich nicht gelohnt hat, ist schade. Aber so ist denke ich einfach, dass man eine bestimmte Vorstellung von Text hat und wenn man die nicht findet, keinen Anhaltspunkt findet für einen selbst, dann ist das eben auch nichts. Und das beschreibst Du ja auch ganz eindringlich mit dem "für meinen Blick auf die Welt." Welche Inhalte bringen einem dann etwas? Welcher Stil? Das wurde ja zu dem Text schon ein paar mal angesprochen. Das variiert eben je nach persönlichen Vorlieben. Und wenn ich mich frage, woher die kommen, wie sich die zusammensetzen, dann muss ich doch sagen: Eine Zusammensetzung aus den Schichten Interesse, Disposition, vielleicht auch Lebensphase, Entwicklung, Prägung, was weiß ich. Warum sagt mir ein Film zu und ein anderer findet ihn schrecklich? Abseits von der handwerklichen Ebene, die man klar definieren kann. Um solche Dinge muss es dann wohl gehen, oder? Und das muss man dann einfach auch so hinnehmen, denke ich.
Dann noch zu Luther: Ich fand seine Frage nach dem gnädigen Gott schon interessant. Überhaupt die Vorstellung, dass man ein Gottesbild auch bewusst formt. Es gibt Gottesbilder, die halt im Lauf der Zeit durch gesellschaftliche Umstände sich ändern. Aber dass einer hergeht und sagt: Wie bekomme ich den so und so hin. Und das, finde ich, berührt sich in der Situation dann persönlich mit der Angst Martins vor dem Erblinden, seinem Schuldbewusstsein und seiner Hoffnung, auf diesen gnädigen Gott bauen zu können. Als letzten Strohhalm sozusagen. Ich empfand Luther in dem Kontext schon als mehr als nur als Staffage.
Die unpassenden Teile, die Du beschreibst, gehören halt zum Konzept der Geschichte. Ich dachte, es wäre ein ernste Angelegenheit, dass er Angst vor dem Erblinden hat. Andererseits hat mich die humorige Seite des Astlochs gereizt. Das verharmlost die Geschichte vordergründig natürlich, da hast Du schon Recht. Das hätte man duster und dunkel ausmalen können. Aber so ist es eine Geschichte geworden zwischen Amüsement und augenzwinkernder Ernsthaftigkeit. Darin lag für mich aber auch der Reiz, das mal zu probieren.
JPHoffmann, besten Dank, dass Du die Geschichte kommentiert hast, obwohl sie Dir inhaltlich nicht zusagt.
Herzliche Grüße
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

"Give rieger a chance"
frei nach Lennon und der Plastic Ono Band

"And in my hour of darkness
She is standing right in front of me
Speaking words of wisdom
Let it be"
McCartney/Lennon - George Harison, Ringo Starr & Billy Preston
im letzten öffentlichen Auftritt der Beatles Jan. 1969
auf dem Dach des Apple-Hauses, Verkehrschaos eingeplant​


"Szylla und Charybdis haben einen Anspruch auf das, was ihnen zwischen die Zähne kommt, so wie Kirke einen, den Ungefeiten zu verwandeln, oder Polyphem den auf die Leiber seiner Gäste. Eine jegliche der mythischen Figuren ist gehalten, immer wieder das Gleiche zu tun. Jede besteht in Wiederholung: deren Mißlingen wäre ihr Ende. Alle tragen Züge dessen, was in den Strafmythen der Unterwelt, Tantalos, Sisyphos, den Danaiden durch olympischen Richtspruch begründet wird. Sie sind Figuren des Zwanges: die Greuel, die sie begehen, sind der Fluch, der auf ihnen lastet. Mythische Unausweichlichkeit wird definiert durch die Äquivalenz zwischen jenem Fluch, der Untat, die ihn sühnt, und der aus ihr erwachsenden Schuld, die den Fluch reproduziert."
Horkheimer/Adorno: "Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung" aus der "Dialektik der Aufklärung"

Das is'n Anfang, Junge, Junge,

hi, Martin -

weißtu eigentlich, dass ich diesen fremdländischen "hai" lieber durch den Namen deines Schöpfers inspiriert, ein deut(sch)licheres und freundlicheres "hoi" ohne a vorweg ersetzen würde - kann ich dir noch nebenbei verraten, dass Tschechen sich mit "ahoi" begrüßen, Landratten, muss man sich mal vorstellen!
Ach ja, und noch was, auch blind kann man "Let it Be" ganz gut hinkriegen, Ray Charles fällt mir immerhin ein - und der haut ja gleichzeitig in die Tasten. Wie überhaupt das Lied erst durch schwarze Stimmen richtig wirkt. Musste mal vonnem Gospelchor hören - da geht nicht nur die Marie ab, sondern die Lucy gleich mit, wenn die sich in Ekstase singen, von den Plätzen aufstehn, rhythmisch mitklatschen und wie'n Ballett rumzappeln, ohne zu Hüpfdohlen zu werden. Musste ma' deinem Pfarrer für den Konfirmationsgottesdienst vorschlagen ... Und zur Verstärkung des Vorschlags nimmste gleich eine Vorlage für das Lied vonnem Theologen "God, grant me the serenity to accept the things I cannot change, courage to change the things I can, and wisdom to know the difference."
Und erzählen kann man auch ganz gut blind. Homer - nee, nicht Humer wie der Simpson, Ho-meer, der die erste Odyssee aufschreiben ließ.
Guck ma', ein Ohr von mir ist taub und es hat mir eher genützt als geschadet.
Aber jetzt muss ich ma' rieger anquatschen, hat ja eigentlich wie der St. Martin deine Geschichte mit uns geteilt.

Machet jut, Alter, und werd rasch sehend!

Ahoi, rieger,

ich noch ma', denn mit dem copywrite und dem challenge ist ja ein wahnsinniges Niveau erreicht worden, dass es einen schwindeln muss. Und für mich ist die hier auch auf dem Hochplateau - beste Jugendliteratur, selbst wenn ich auf Kleinigkeiten jetzt rumhack, gleich hier

„Frau Kieland, bitte kommen Sie mit heraus“, hörte er den Doktor sagen und da spitzte er seine Ohren, und das leise Flüstern drang zu ihm, als wenn sie neben ihm sprechen würden, weil nichts ihn ablenkte, nicht die dummen Augen, mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen.
Abgesehen, dass ich die Umlautung z. B. "sprechen würden" zum schlichten "sprächen" befürwortete, will mir das zwote "würden" irrtümlich eingesetzt sein fürs schlichte Futur I, vor allem zu einer schnelllebigen Zeit, wo alle Welt dies und das plant und doch nicht drei Stunden solches oder jenes vorhergesagt werden kann. Das Futur ist Zukunftsmusik genug, umso mehr, als dir das "wahrscheinlich" hereingerutscht ist. Der Konjunktiv ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Grammatik, können ist die binäre Formel - man kann's oder eben nicht. Das Futur ist die offene Zeitform, die bereits auf der Roten Liste der bedrohten Arten steht. Pflegen wir es!
Was also spräche gegen ein "wird der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen?
Es geht doch auch geradezu perfekt mit dem Konj., siehe hier
Hätte er nur nicht auf Max gehört, auf diesen Deppen, der meinte, er wüsste, wie man das macht.
Wobei die Nutzung des "würde" halt gelegentlich vorgaukelt, der Konj. könnte eine Zeitform sein. Ist er mitnichten und Neffen!, nicht die Bohne. Und dass es auch geht, zeigt sich hier durch den Max
Eine sichere Geschichte. Wir werden unseren Spaß haben“, sagte Max.

Ach Martin, ich noch ma', du gehst doch aufs Gymnasium, ne?
Sag mal rieger, dass du dich nicht am Mord des Genitivs beteiligen wirst, hier
Aber das war Martin egal, oder gerade wegen dem Feuer wurde er immer feuerrot, ...
Zur Strafe muss man mit Bastian Sick zusammenarbeiten ...

„Na also, da siehst du im Herbst ja wieder ganz normal. Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, ...
Keule weiß auch nicht, was er da sagt, mal spricht er klein, mal groß.

Und dann find ich noch in der Dialektik der Aufklärung die Passage über den Tausch, Betrug und Sünde und die Strafe .. ."Die beiden widersprechenden Akte des Odysseus in der Begegnung mit Polyphem, sein Gehorsam gegen den Namen und seine Lossage von ihm, sind doch wiederum das Gleiche. Er bekennt sich zu sich selbst, indem er sich als Niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht. Solche Anpassung ans Tote durch die Sprache enthält das Schema der modernen Mathematik.
Die List als Mittel eines Tausches, wo alles mit rechten Dingen zugeht, wo der Vertrag erfüllt wird und dennoch der Partner betrogen, weist auf einen wirtschaftlichen Typus zurück, der, wenn nicht in der mythischen Vorzeit, zumindest doch in der frühen Antike auftritt: den uralten »Gelegenheitstausch« ..." (Horkheimer/Adorno, ebd.) Und bekanntermaßen macht Gelegenheit Diebe, und sei es als Voyeur, ein Wort, das mich nun nach der Odyssee die Nähe zur voyage de reconnaissance (Entdeckungsreise) fühlen lässt: Es braucht in der Fahrt des Lebens einen Späher (Voyeur), besonders wenn das Leben erst beginnt -


ansonsten gilt:

Ich habe (k)einen Abstrich gemacht.

Immer noch gern gelesen vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wie überhaupt 2018 insgesamt wünscht!

 

Ahoi Friedrichard,
besten Dank für Deinen schon zweiten und so anregenden Kommentar! Und der hat mich herausgefordert, mich mal wieder an die Dialektik der Aufklärung zu machen und rauszukramen, worum es da gleich wieder ging. Das beleuchtet den Odysseus und sein Wirken aus einer hochinteressanten Perspektive.
Und der Martin soll mich ruhig nochmal bequatschen und mich aufklären über Genitiv und so. Obwohl ich den Verdacht habe, der Autor hats so geschrieben, damit es ein wenig unbeholfen klingt, oder ist da wieder mal Lokalsprachkolorit durchgelodert: "Zwengs däm" oder "zweng am" sagen die alten Bayern, die die Sprache noch beherrschen. Übersetzt heißt es: "Wegen dem".
Jedenfalls werde ich nochmal drüberschauen und sage besten Dank für Lob und Abstrich!
Beste Grüße
rieger

 

Jedenfalls werde ich nochmal drüberschauen und sage besten Dank für Lob und Abstrich!
Nix zu danken,

weißte doch.

Ha, ich glaub ja nicht so sehr, dass Bajuwaren "Männer aus Böhmen" bedeute, sondern vielmehr, dass die Ostgoten nach der Niederlage ins heutige Baiern flüchteten und ihre Sprache mitbrachten. Oder wlchen Dialekt gäbe es sonst noch auf westgemanistischer Zunge, wo mehr als das "Paar", beide und anderthalb vom Dual noch übriggeblieben wäre ...

Ahoi rieger!

Friedel

 

Hallo rieger,

ich steige direkt ein.

Den Anfang musste ich zweimal lesen, da ich nicht verstand, wer was denkt und wer was sagt:

weil die Augen, die konnte er vergessen. Der Doktor hatte einen Tonfall in der Stimme,
Dazwischen würde ich eine neue Zeile anfangen, dann wird klarer, dass das erste seine Gedanken sind und das, was dann folgt, die Aussage des Doktors. Ist doch so oder?

weil die Augen, die konnte er vergessen.
weil nichts ihn ablenkte,
Aufgrund des Satzaufbaues vermute ich hier ein Grundschulkind.
(Gut, meine Nachbarin verwendet auch andauernd nur "aber" und "weil", und das sogar am Satzanfang - und sie ist eine Erwachsene.)

in das gereizte Gewebe. Ich habe einen Abstrich gemacht. Der kommt ins Labor, dann sehen wir weiter.
Hm. Ich gehe davon aus, dass die Mama bei dem Abstrich, der gemacht wurde, dabei war.
Vorschlag: "in das gereizte Gewebe. Der Abstrich kommt ins Labor, dann sehen wir weiter."

dann sehen wir weiter. “
„Wird er?“, fragte Ottilie, seine Mutter, und ihre Stimme stockte.
Hier dachte ich zuerst, das "Wird er?" bezieht sich darauf, ob er - also der Abstrich - auch tatsächlich ins Labor kommt."
Vorschlag: "Wird er ...?"

„Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.
Hier bin ich verwirrt. Dachte, die wären in der Praxis und der Anfang, das mit der Couch, die Gedanken von Martin und nicht die Beschreibung der tatsächlichen Umgebung. (Siehe oben mein "Problem" mit dem Einstieg.)

Überhaupt: War Martin schon vorher beim Arzt oder kam der Arzt zu denen nach Hause? Wenn er schon vorher in der Praxis war, ist der Abstrich doch schon längst ins Labor gegeben worden ... (?)

in dem gottverdammten Gang, den man sowieso abreißen würde, weil das neue Freibad daneben schon fast fertig war.
Häh? Ein Gang, den man abreißt? Und alles andere drumherum? Das passt in meinen Augen nicht. Was ist das für ein Gang?

Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt, ein langer Stock lag hinter dem Haus.
Das mit dem Stock hört sich an wie der Teil der Aufzählung, was alles wäre. Dabei ist der Stock ja schon da und wäre ein Hilfsmittel.
Vorschlag: Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt - hinter dem Haus lag ein langer Stock / - hinter dem Haus würde er ein langen Stock finden.

„Wie geht es dir?“, fragte ihn Ottilie ganz sanft
"Ottilie" klingt so ganz weit weg. Warum nicht: "fragte ihn seine Mutter ganz sanft." ?
Hast du öfter und ich würde eher Mutter schreiben.

sagte sie ganz sanft
Wiederholung. Würde ich varieren.

„Da ist ein Gang hinter den Kabinen im Badehaus. Und da sind Astlöcher. Und da wirst du staunen“, hatte Max ihn angelockt. Martin folgte ihm und er könnte sich verfluchen dafür, dass er ihm gefolgt war. Weil er jetzt eben die Strafe dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag nackte Leute durch das Loch angestarrt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, bis die Bindehaut ausgetrocknet war, dass sie juckte und brannte
Hier die Vorvergangenheit, die man gerne mit "hatte" einführt.
Nur bist du hier m.E. nicht konsequent, das "folgte" in der Mitte passt m.E. nicht.

Dieser verfluchte Gang, der Gang hinter den Kabinen, der dem Untergang geweiht war.
Ehrlich gesagt habe ich bis hierhin nicht gerafft, wie die im Gang Titten sehen können. Ziehen sich die Mädels/Frauen im Gang aus und nicht in den (Umkleide-)Kabinen?
Später heiß es ja, dass der Bademeister "durch die Löcher in die Kabinen glotzt"

Hatte bisher an eine Schwimmhallte gedacht, einen geschlossen Bau und mich gewundert, wie/wo da die Zugluft herkommt. Es ist also ein Freibad mit Kabinen, die Mann und Frau nutzen können. Mann, jetzt hab ich`s. Habe das überlesen.

Das hatte ja der alte Pastor Helfrich schon im Konfirmationsunterricht gesagt,
Hm, wofür ist das mit dem Pastor, Luther etc. denn so wichtig?
Ggf. Kürzungspotential.

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder.
Jetzt kommt zum zweiten Mal so mittendrin und unerwartet so ein Einwurf des Bruders. Und ich muss sagen, das gefällt mir sehr gut.

Vielleicht aber, dachte Martin, war es auch die Strafe wegen der Frau Pelletier, der Französin,
Auch hier bin ich unsicher, ob der Teil mit Frau Pelletier, dem Rasen, den Äpfeln etc., so wesentlich für die Story ist ...
Werde hier zum zweiten Mal im Lesefluss ausgebremst. Will ja wissen, was genau Martin gesehen hat und wie es mit seinem Augenlicht weitergeht.
Vielleicht könnte man das zumindest etwas kürzen bzw. ins Live-Geschehen einbauen, dann wirkt das nicht so wie ein externer Ausflug zu Frau Pelletier.

Dann hörte er, wie sie drinnen ihr Haar kämmte und leise das Lied sang,
Wie kann er hören, dass sie ihr haar kämmt? :Pfeif:

das Blut von den Lippen tropft (LEERZEICHEN zu viel) . Dann löste der Bagger

Alles nur Kleinigkeiten. Habe wieder meinen peniblen Tag. :lol:
Deine Geschichte hat mir gut gefallen. :thumbsup:

Schönen Tag noch und liebe Grüße,
GoMusic

 

Hallo GoMusic,
Du legst das Teil nochmal unters Mikroskop und weist auf etliche Sachen hin, die diskussionswürdig sind. Herzlichen Dank dafür. Das ist Luxus nach so vielen Kommentaren. Deine Sichtweise, die sich an den vielen Ungereimtheiten stört, bezieht sich wohl auf den Tonfall, der sich stark, wie ich schon bei einer der ersten Antworten geschrieben habe, an einem losen Bewusstseinsstrom orientiert, an einer nicht immer logischen Folge, oder manchmal gar nicht logischen Folge von Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen, die das Innere Martins spiegeln. Da weiß man zu Beginn tatsächlich nicht, wo er ist, da ist der Gang, der abgerissen wird und man sieht irgendwas im Gang. Zunächst verwirrend. Dann klärt sich das durch die konkreteren Schilderungen. Das war also die Idee. Da liegt einer und der kann nichts tun, außer sich aus den akustischen Phänomenen Dinge zusammenzureimen, sie mit der Erinnerung, mit Ängsten und Hoffnungen zu vermischen. Weil er zur Untätigkeit gezwungen ist, kommt dann noch der Luther daher. So war das Konzept. Ich lasse das jetzt so stehen, außer die formalen Anregungen (Leerzeichen z.B.), weil das glaube ich eine andere Herangehensweise an die Erzählung erfordern würde. Da müsste ich den Text unter eine andere Prämisse stellen und neu formen, scheint es mir. Weg eben von der Assoziation hin zu einer bewussten Ordnung, die auf eine folgerichtige, strukturierte Information Wert legt. Danke Dir aber besonders, dass Du nochmal durchgegangen bist und mir auch aufgezeigt hast, dass die Darstellung nicht zwangsweise plausibel sein muss. Man kann sich schon an Dingen stören.
Besten Dank also und schön, dass Dir der Text in der Summe gefallen hat.
Herzliche Grüße
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Und dabei war er natürlich in der Zugluft gestanden, oder besser gesagt, seine Augen standen in der Zugluft und alles wegen der Titten.
:lol:

Hallo rieger!

Hat mir wirklich sehr, sehr gut gefallen, deine Story. Ich habe sie durchweg mit einem Grinsen gelesen, natürlich weckst du da bei einer Vielzahl an männlichen Lesern Erinnerungen, spielst mit einem nostalgischen Gefühl. Super. Die Idee mit dem Erblinden ist sehr gut, allgemein liest sich dein Text, vom Einstieg bis zum Ende. Wenn ich das Technische betrachte, das Handwerk, dann finde ich das Erblinden und den Abriss der Umkleide wirklich tolle Bilder. Sie stehen für etwas, sie zeigen - wenn man so will - auf eine Art das Innenleben deines Prots, und diese Bedeutung spürt man beim Lesen einfach. Allgemein mag ich deine Schreibe. Wenn man so will, ist das auch "rückwärts erzählt", eine Nacherzählung deines Erzählers vom Punkt des Erblindens an. Ich denke, man kann diese Story auch nur so erzählen, "nacherzählen", auch wenn ich grundsätzlich ein Freund des szenischen, nach vorne gerichteten Schreibens/Lesens bin, und das Benutzen vieler Tell-Elemente auch seinen Nachteil haben kann. Trotzdem finde ich den Text sehr gelungen, und er steht ganz zurecht weit oben in der Challenge-Abstimmung.

wie sich seine mit Eiter und Schleim überzogenen Augen mit Tränen füllten, dass es höllisch brannte.
Ein gutes Detail. Allgemein kam mir dein Text sehr authentisch vor. Diese Übergeilheit, diese Sucht nach der Nacktheit des anderen Geschlechts, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, und deine Story hat mir diese Erinnerung gerade noch mal richtig aufgefrischt.

Einziger Kritikpunkt: Der Titel. Angesprochen hat er mich ehrlich gesagt nicht, eher sogar abgeschreckt, aus welchen Gründen auch immer. Ich finde auch, der Titel hat eigentlich überhaupt nichts mit deiner Geschichte zu tun? Dieser Dialog zum Schluss, das ist doch bloß so ein Randgespräch. Ich hätte eher etwas im Bezug auf Sexualität, auf das Erblinden oder das Spannen durch das Loch genommen, vllt auch etwas im Bezug auf den Katechismus - denn letztendlich spinnt ja die Frage im Kopf deines Prots herum, ob das nun eine Bestrafung ist, das Erblinden, ob das Unrecht war, oder nicht.

Super!
zigga

 

Moin rieger

eine tolle Geschichte, die mir sehr viel Freude bereitet hat.

Eine Erzählung, die einen angenehmen Sog verursacht, wenn man sich mit dem ersten Absatz in die Sprache und Erzählweise des ca. 10-12 Jahre (?) alten Jungen eingefunden hat. Ich habe tatsächlich die ersten Sätze gebraucht, mich daran zu gewöhnen. Ich bin wie ein voriger Kommentator über das erste "Ja" gestolpert und fand die ersten Sätze anfangs etwas holprig, bis ich kapierte, wer da eigentlich erzählt.

Deine Begründung für das erste "Ja":

Irgendwie fand ich es reizvoll, mit der Irritation in die Geschichte geschubst zu werden, als wäre sie schon am Laufen, als hätte man den Anfang verpasst und würde mittendrin starten.

Das ist sehr gut gelungen. Und wenn man erstmal im Fluss ist, dann wird die Geschichte zu einer sehr lustigen Erzählung aus dem Mund eines Jungen, der die Dinge eben so erzählt, wie er sie erlebt hat :) Klasse geschrieben, wirklich!

Ich habe mich übrigens wie andere auch über den Titel gewundert, der irgendwie nichts mit der Geschichte zu tun zu haben scheint. Die Geschichte funktioniert auch ohne den letzten Dialog. Oder übersehe ich etwas?

lg
Philipp

 

Hallo zigga,
vielen Dank für den schönen Kommentar. Man lernt ja im Lauf der vielen Kommentare so viele unterschiedliche Standpunkte kennen von Ablehnung bis eingeschränkter Zustimmung. Bei Dir erfährt der Text eine fast Rundumbefürwortung und das freut mich sehr. Der Titel, das ist fast einhellige Meinung und meine mittlerweile auch, ist nicht geglückt. Im Grunde sollte es eine Dimension aufzeigen, in der Martin aufgrund seiner Erfahrung neu denkt, reflektiert, oder, wie perdita meinte, vielleicht auch ins Gegentei umschlägt und turbomoralisch denkt als Wiedergutmachung. Aber die Anbindung zum Text ist tasächlich gering. Aber Dein Gesamturteil freut mich außerordentlich.
Beste Grüße
rieger

Hallo philipp,
schön, dass Dir der Text gefallen hat. Freut mich sehr! Und ja, wieder die Sache mit dem Titel. Da habe ich zigga gerade eine Begründung geschrieben. Die Idee ist wahrscheinlich um zu viele Ecken gewunden und entfernt sich dann zu sehr vom Kern der Erzählung. Aber, wenn das der einzige Einwand ist, bin ich froh. Besten Dank für Deine Zeit und den Kommentar.
Herzlich
rieger

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom