- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Neun
Es sind diese lauen Sommernächte, in denen er nicht schlafen kann. Auf den Straßen gibt es keine Ruhe, kein Aufatmen; immer hört er ein Lachen, das Rascheln von Gebüsch oder Schritte unter dem Fenster. Die angenehme Kühle legt sich über die Stadt, kann die Hitze aber nicht völlig verdrängen. Das Katzenheulen schleicht um jede Straßenecke, macht es für ihn unmöglich, sich in Träume zu flüchten. Daher steht er oft am Fenster und späht hinaus, den Rollladen schließt er nie, Vorhänge besitzt er nicht.
Vor seinem Wohnblock befindet sich direkt die Fußgängerzone, dahinter ein Kinderspielplatz, der nur leicht beleuchtet ist; das Licht einer Straßenlaterne flackert und die entstehenden Schatten verschmelzen sich mit ihm zu blitzenden Discolichtern. Er wohnt im dritten Stock. Die Türnachbarn kennt er nicht.
In den lauen Sommernächten vermischen sich viele bekannte Geräusche zu einem Geräusch, das er nicht orten kann. Dieses Geräusch dringt in ihn und füllt ihn völlig aus.
Früher gab es dieses Spiel, das er immer spielte und das eigentlich gar kein Spiel war: Wenn die Murmeln blitzten und blinkten, zauberte das ein Lächeln auf sein Gesicht. In seinen Jackentaschen vergraben, berührten sie sich. Es klickte leise, kaum hörbar, doch er sog dieses Geräusch regelrecht in sich auf. Die Murmeln ließ er über Dreckhügel rollen, wanderte mit den Augen hinter ihnen her bis sie stillstanden. Dann lächelte er, stand auf, griff nach ihnen und vergrub sie sanft in seinen Jackentaschen. Zuhause wusch er sie lange ab, rieb sie sauber, küsste sie und legte sie in eine Schuhschachtel, die er unter sein Bett schob. Oft hielt er sie auch gegen das Licht, drehte sie hin und her, um sie blitzen und blinken zu sehen.
Morgens geht er ins Bad. Das Spiegelbild nimmt er schon seit geraumer Zeit nicht mehr als sein eigenes wahr: Die Konturen, Gesichtszüge, Narben und Falten sind fremde Gebilde, die ihm entgegen ragen. Nach dem Rasieren putzt er sich die gelblich verbleichten Zähne. Anschließend kämmt er sich das Haar, das ihm fettig in die Stirn hängt.
Der Gang zum Computer ist sein nächster. Er bestellt sich Lebensmittel, gibt seine Adresse an, mit der er nichts mehr assoziiert. Dann legt er seinen Körper ins Bett und bettet ihn mit Gedanken zu.
Die Hitze presst sich allmählich durch Häuserporen. Das Geräusch wandert über die Straße, kriecht die Treppenstufen hinauf zu seiner Wohnungstür und klopft, dort verharrend, hartnäckig an.
Im Sandkasten baute er Burgen für seine Murmeln. Er grub und schaufelte. Je tiefer er grub, desto feuchter wurde der graue Sand. Er liebte dieses Gefühl. Jede Murmel bekam für die Länge eines Spiels eine Zahl. Die Eins sprach mit der Fünf, die Sechs balgte sich mit der Sieben. Die Neun hielt auf dem Sandturm Wache. Ein Burgfräulein gab es nicht. Die Murmeln blitzten und blinkten im Sommerlicht. Wenn die Mutter rief, sammelte er sie wieder ein, legte sie in die Schuhschachtel und trampelte mit den Beinen auf der Sandburg herum, bis nichts mehr an das Spiel erinnerte.
Er sitzt am Schreibtisch. Es klingelt an der Wohnungstür. Er zuckt zusammen. Der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, durchnässt seine Kleidung und frisst sich in die Bettdecke. Er wartet. Er zählt. Als er lange genug verharrt hat, ohne einen Mucks von sich zu geben, steht er auf, geht zur Tür, öffnet sie und trägt das Paket, das davor steht, in seine Ein-Zimmer-Wohnung. Er stellt es auf den Tisch, lächelt, packt die Lebensmittel aus und verstaut sie in der Mini-Küche. Anschließend setzt er sich vor den Computer und überweist dem Zusteller den gewünschten Betrag.
Als er beschlossen hatte, mit vierzehn oder fünfzehn, erwachsen zu werden, nahm er die Schuhschachteln mit seinen Murmeln und ging an den Waldrand. Das Klicken, während er ging, machte ihn traurig. Ließ ihn immer wieder in der Bewegung innehalten. Er setzte sich auf diverse Bänke, die Schuhschachtel legte er neben sich und vergrub das Gesicht in den Händen. Dort angekommen, wusste er oft nicht mehr, was er eigentlich vorgehabt hatte. Er stand da, die Murmeln klickten, die Sonne schien auf ihn herab und Spaziergänger streiften an ihm vorüber.
Es sind diese lauen Sommernächte, in denen er nicht schlafen kann. Er wälzt sich im Bett von der einen auf die andere Seite. Stimmen dringen in seinen Kopf, das Geräusch fängt an mit ihm zu reden. Es spricht von Schlamm auf den Straßen. Er steht auf. Macht Licht. Stellt sich ans Fenster. Schaut hinaus. Er kann nichts erkennen außer dem Flackern der kaputten Straßenlaterne.
Er konnte nicht sehen, wie es begann. Irgendwann durchdrang ihn das Geräusch; es mutierte zu einem Rauschen, in das sich ganz zart Schreie mischten. Er ging zum Fenster. Sah hinaus. Die Sonne brannte. Der dunkelbraune Schlamm wanderte schwerfällig die Straße entlang. Den Spielplatz gab es nicht mehr.
Wochenlang träumte er von einem Paradies: In seiner Phantasie balgten sich Mäuse mit den Murmeln, sie wälzten sich über saftiges Grün, über Felder und über Meere. Er war mitten drin. Er sah zu, lachte und balgte sich mit ihnen. Nächte verwandelten sich in Tage, der Mond gebar sich immer wieder aufs Neue im Sonnenlicht.
Er setzt sich an den Computer und bestellt eine neue Lebensmittellieferung. Dann legt er sich ins Bett und starrt an die Decke.
Er zerrt das Postpaket in seine Ein-Zimmer-Wohnung, stellt es auf den Tisch und sortiert die Lebensmittel in die Küchenregale. Wenn er am Fenster vorbeikommt, sieht er hinaus; der Schlamm bahnt sich zäh seinen Weg, wechselt nicht die Richtung, sondern treibt schwerfällig gen Osten.
Das Geräusch ist verschwunden.
Er schläft ein.
In einer lauen Sommernacht wacht er auf. Er geht ans Fenster und sieht hinaus. Er öffnet es, kühle Luft streichelt sofort seine Wangen. Er weiß jetzt; das Geräusch liegt in der Schlammmasse begraben. Und er atmet tief durch. Ein Blick gen Himmel verrät, dass die Nacht sternenklar ist. Er lächelt. Kein Geräusch mehr. Nur noch das beruhigende Wälzen der Masse. Sein Blick fällt auf die kaputte Straßenlaterne – sie taucht knisternd den dunkelbraunen Schlamm in Diskolicht.
Er zerrt die Schuhschachtel unter seinem Bett hervor. Öffnet sie. Es klickt. Er kann es nicht hören, lächelt, hält jede einzelne Murmel gegen das Lampenlicht, betrachtet sie lange. Dann legt er sie zurück in die Schachtel, nimmt sie und wirft sie aus dem Fenster. Der Schlamm liebkost sie lange, bevor er sie in sich aufnimmt.