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Nicht jeder Tag läuft wie der andere
Feddersen lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen ...
An einem Donnerstag im November verließ Feddersen sein Büro pünktlich um 17:30 Uhr. Der Pförtner in der Eingangshalle sagte: „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen.“
„Stimmt genau“, sagte Feddersen. „Auf Wiedersehen.“
Wie üblich wartete Feddersen an der Haltestelle, bis sein Bus – die Linie 60 – kam. Normalerweise würde er wie immer drei Minuten warten. Dann stiege er in den Bus, um ein paar Worte mit dem Busfahrer Willy Otremba zu wechseln, der diesen Bus schon immer fuhr, sich dann seinen Platz zu suchen um die Zeitung zu lesen, bis der Bus seine Haltestelle erreicht hätte. Hier würde er aussteigen, um den gewohnten Weg zu seinem Haus zu laufen.
Eine Minute war bereits vergangen. Blieben noch zwei, bis der Bus eintreffen würde. Die Haltestelle war leer und es war dunkel. Das Rauschen der vorbeifahrenden Autos klang zischend in seinen Ohren. Vor lauter Kälte wippte er mit den Füßen auf und ab, sein Atem verwandelte sich in eine graue Wolke.
Plötzlich riss ihm jemand seinen Koffer aus der Hand. Feddersen fuhr herum. Er sah eine Faust auf sich zu schnellen, konnte ihr aber nicht mehr ausweichen. Der Schlag traf ihn direkt auf die Nase, die sofort unaufhörlich zu bluten begann. Gelächter drang an seine Ohren. Es klang wie das Lachen einiger Halbwüchsiger. Sein Blick trübte sich, Tränen füllten vor lauter Schmerz seine Augen. Ein weiterer Schlag – diesmal in den Magen – brachte ihn ins Taumeln. Er spürte eine Hand in seiner rechten hinteren Hosentasche. Meine Geldbörse, dachte er und griff nach hinten. Aber die andere Hand war schneller gewesen, die Tasche leer. Feddersen blinzelte.
Vor ihm öffneten zwei von ihnen seinen Koffer mit Gewalt, denn er war mit einem Zahlencode gesichert. Den Inhalt schütteten sie auf den Gehweg - es war nichts besonderes darin. Nur den Taschenrechner und den Kugelschreiber seiner Firma nahmen sie sich. Die Mappe mit den Unterlagen zerstreuten sie belustigt. Das waren fünf Tage Arbeit gewesen.
Feddersen wollte auf die Jungs zugehen, da bekam er einen Tritt in die Kniekehlen. Er sackte zusammen, schlug mit den Knien auf dem Asphalt auf. Wieder das Gelächter der Halbwüchsigen.
Jemand zerrte an seinem Jacket. Verbissen wehrte er sich dagegen, es sich ausziehen zu lassen. Da bekam er einen Schlag in den Nacken. Es wurde dunkel, das Gelächter entfernte sich.
„Hey, Sie da!“, hörte er von weitem jemanden rufen. „Wollen Sie nun mitfahren oder nicht?“ Der Mann klang gereizt und gleichgültig.
Feddersen stand umständlich auf und drehte sich zu der Stimme um. Der Bus war da. Aber am Steuer saß nicht Willy Otremba, sondern ein griesgrämiger, dicker Mann mit schütterem fettigem Haar. Verwirrt schaute sich Feddersen um, es war die Linie 60. Er sah sich nach seinem Koffer um, fand ihn wenige Meter neben sich, zertreten, ausgeräumt. Taumelnd suchte er die Akten zusammen, die überall herum lagen, mit Fußabdrücken drauf.
Der Busfahrer trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und wollte gerade die Türen schließen, als Feddersen noch hinein huschte. Er schlug mit der bloßen Zehe gegen die Erhöhung der Sitze und hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Platz. Doch da saß schon jemand. Schnell machte er kehrt und setzte sich woanders hin, noch mehr Probleme konnte er jetzt nicht gebrauchen.
Mürrisch sortierte er seine Akten, bis alles wieder da war, wo es hingehörte. Das Zeitungslesen vergaß er völlig. Er hätte sogar beinahe seine Haltestelle verpasst.
Barfuß und mit zertretenem Koffer lief er die Goetheallee entlang, so wie er es immer tat. Der eiskalte Asphalt ließ seine Füße fast gefrieren. Sein ganzer Körper zitterte. Er wollte sein Jacket enger um seinen Oberkörper ziehen, griff aber ins Leere. Verdutzt blickte er an sich herab. Das Jacket fehlte, die Hose war zerrissen und das weiße Hemd verdreckt. Verzweifelt schaute er in den Himmel, die Arme schlapp nach unten hängend und fragte sich: „wieso?“.
Dann bog er in die Nord-Allee ein, blieb abrupt stehen. Ein höllischer Lärm wehte ihm entgegen. Die Nacht brannte lichterloh. Feuerwehr, Krankenwagen und eine Menge Schaulustiger tummelten sich vor einem großen Haus, in dem die Flammen wie ein unbändiger Teufel tanzten. Die Straße war abgesperrt, kein Durchkommen.
Feddersen blieb wie angewurzelt stehen und starrte in das wütende Flammenmeer. Schönes Feuer, dachte er. Es sah verlockend aus.
Dann unterbrach er seine Gedanken und machte sich auf Weg. Er musste die nächste Straße nehmen, denn hier würde man ihn nicht durchlassen und so schon gar nicht: abgewetztes Hemd, zerrissene Hose, zerstörter Aktenkoffer, wirres Haar und blutige Nase. Man könnte ihn für verdächtig halten.
Nach einer Weile bog er endlich in die Lindenstraße zu seinem Haus ein, Lindenstraße 22. Erschöpft kämpfte er sich die Treppen empor und stolperte in seine Wohnung. Es klopfte. Er öffnete. Vor ihm stand seine Nachbarin und hielt einen großen Kochtopf in Händen. Ohne ein Wort trat sie einfach ein und bahnte sich den Weg zur Küche. Feddersen stand einfach nur da.
„Ihnen muss ja Schreckliches widerfahren sein, Herr Feddersen. Sie waren heute nicht pünktlich zu hause, da hab ich mir Sorgen gemacht und gleich etwas mehr gekocht. Gott, Sie sehen ja furchtbar aus. Sie sollten erstmal duschen gehen.“, sagte die Nachbarin, denn sie wusste, dass er gewöhnlich sein Essen selbst zubereitete, anschließend den Abwasch spühlte und dann im Wohnzimmer verschwand, um bis 23.00 Uhr fernzusehen - aber diesmal nicht.