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Nie mehr Bolero 3 - Vae victis -
1
Si vis pacem, para bellum.
(Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.)
Erneut klopft es zart an der Tür.
Ich sitze auf einem mit Fell überzogenen Stuhl, der nach feuchtem Hund riecht, und lasse die Arme herabbaumeln. Vor mir auf dem gewaltigen Schreibtisch mit der Marmorplatte liegt ein überdimensionales Buch, eine Schüssel mit geronnenem Blut steht daneben, und als ich hineinblicke, beginnt es zu brodeln.
„Herein!“ Meine Stimme dröhnt, obwohl ich es nicht will. Langsam wird die Tür aufgeschoben. Es ist Martin, der mit gesenktem Haupt eintritt. Er schließt die Tür und fällt auf die Knie.
„Lass den Quatsch“, dröhne ich und augenblicklich steht er wieder auf seinen Füßen, blickt mich aus leeren Augenhöhlen an, aus denen blutige Tränen laufen.
„Was ist mit dir?“, versuche ich so sanft wie möglich zu klingen und deute auf den Sessel vor dem Schreibtisch, in den sich Martin jetzt wieder mit gesenktem Kopf fallen lässt. Irgendwie wirkt er in dieser Position so winzig. Ach, was sag ich? Er ist winzig.
„Sieh mich an!“
Sein Körper zuckt, als hätte er einen Stromschlag erlitten. „Mein Lord?“
Ich stehe auf und gehe um den Schreibtisch herum. Augenblicklich fährt Martins Kopf wieder Richtung Schoß. Rote Tropfen fallen aus seinem Gesicht herab und landen vor seinen bebenden Füßen.
Ich erreiche den Sessel - warum bin ich so verdammt groß? -, schließe die Augen, und als ich sie wenig später öffne, habe ich meine normale Körpergröße wieder erreicht. Normale Körpergröße? Das ich nicht lache. Was ist in dieser Welt, in die mich Martin gebracht hat, schon normal? Man denke da nur an seine Bewohner.
Ich lege meine Hand auf Martins Schulter, spüre sein Zittern. „Hey, alter Junge.“ Meine Stimme ist leise, beruhigend, und während ich mich neben ihn hinknie, stelle ich fest, dass das Zimmer, in dem wir uns befinden, bestialisch stinkt.
Er blickt auf, und in den leeren blutigen Augenhöhlen wabern winzige Fleischfäden; sie erinnern mich an diese Bambusvorhänge, die bei jedem Windzug klappern. Sein Gesicht ist mit roten Bahnen übersät.
„Wo sind deine Augen?“
Jetzt lächelt er, berührt meine Hand, sagt aber nichts. Ein Häufchen Elend, mit nichts mehr zu vergleichen mit dem Martin, der mir noch vor wenigen Stunden in dieser ominösen Kneipe gegenübergesessen hatte.
„Darf ich?“, fragt er gebrechlich.
Ich runzle die Stirn. „Natürlich“, sage ich, ohne zu wissen, was er meint.
Er greift umständlich in seine Hosentasche, holt zwei gallertartige Gebilde hervor, die wenig später in den leeren Höhlen verschwinden. Als er die Lider wieder öffnet, blicke ich in seine Augen. „Danke“, sagt er.
„Ich habe keine Visionen mehr.“
Martin sieht mich an. „Das ist gut, mein Lord.“
„Lass doch einmal dieses Mein-Lord-Gequatsche sein.“
Martins Unterkiefer erstarrt, seine Augen weiten sich. „Sag bitte nicht, du bist immer noch nicht hier, David.“
Ich fasse seine Schultern, schüttle ihn. „Ich bin hier, Martin. Doch weiß ich nicht, was ich hier soll. Ich weiß nicht einmal, wo hier ist.“
Es klopft laut, und Professor Brinkmann tritt ein. Als er mich in meiner menschlichen Gestalt entdeckt, verschwinden im Bruchteil einer Sekunde seine Hufe und verwandeln sich in grüne Krankenhausschuhe. Er dreht sich zur Wand, greift in seine Kitteltasche und führt die Hände schnell zum Gesicht. „Was geht hier vor?“, fragt er leise, als er auf uns zukommt. Direkt vor mir kommt er zum Stehen, stiert mich an.
Dann an Martin gewandt: „Was ist mit ihm?“
Ich sehe, dass Martin nervös wird, zu Stottern beginnt. Im selben Moment wird Brinkmann kleiner. Viel kleiner. Ich runzle die Stirn, bis ich merke, dass nicht der Arzt kleiner, sondern ich größer werde. Was bildet sich dieser Wurm ein?
Brinkmanns Blick fährt hoch, sein im gleichen Augenblick schmelzendes Gesicht erstickt den kreischenden Schrei bereits in seiner Entstehung.
„WURM!“, höre ich mich brüllen. „DU ZWEIFELST?“ Und es dauert nur Sekunden, bis Brinkmann in einer breiigen Pfütze vor meinen Stiefelspitzen glänzt.
Ich blicke hinab zu Martin, der wieder seine Augen entfernt hat, keuche und höre das Grollen, das die Mauern vibrieren lässt – mein Keuchen.
Eine gewaltige Klaue greift Martins Körper, und ich hebe ihn vor mein Gesicht, während sein Wimmern langsam erstickt.
„Du wirst jetzt“, sage ich so leise wie es mir möglich ist, und doch sehe ich, wie Martins Haare wehen. „Du wirst mir jetzt genau erklären, was hier vorgeht, mein Freund. Hast du mich verstanden?“
„Ja, mein Lord!“, kreischt Martin.
„Und wenn du mich noch einmal mein Lord nennst, wirst du dich mit Brinkmann vereinen.“ Ich drücke ihn wie einen Hund mit der Nase in die Pfütze. Dann lasse ich ihn los und mich kurz darauf wieder in den nach feuchtem Hundefell riechenden Stuhl fallen. „Und pack deine verdammten Augen wieder rein!“
2
Horror vacui
(Das Grauen vor der Leere)
Das Feld ist weit, unendlich weit. Die Sonne wirft nur winzige Schatten, wärmt meine Haut. Alles ist still. Ich schließe die Augen. So unendlich still.
Als ich sie wieder öffne, stehe ich auf einem langen Flur. Da sind Türen. Rechts und links viele Türen. Vor einer liegt eine durchsichtige Plastikflasche, und durch das Fenster am Ende des Flurs erkenne ich, dass es draußen dunkel ist. Regen schlägt gegen die Scheibe; irgendwo scheppert etwas auf den Boden.
Vor dem Fenster macht der Flur einen Knick nach rechts, und in diesem Moment vernehme ich dumpfe Schritte. Langsam weiche ich zurück. Die Schritte müssen jeden Augenblick die Ecke erreichen. Ich atme schneller. Wieder scheppert etwas, jetzt unmittelbar hinter meinem Rücken, lässt mich herumwirbeln. Eine silberne Metallschüssel liegt umgedreht auf dem Boden. Sonst nichts. Alles ist still. Keine Schritte mehr.
Wieder stehe ich auf dem endlos weiten Feld, und als ich nach unten blicke, erkenne ich, dass ich mich in einem bis zu den Knien reichenden See aus Blut befinde. Hin und wieder tauchen Gebeine aus der warmen Flüssigkeit empor, kleinen Delphinen gleich, die augenblicklich wieder in der Tiefe verschwinden.
Der See reicht bis zum Horizont, den träge vor sich hin dampfende Vulkane begrenzen.
Jemand steht hinter mir, atmet schwer.
„Ist es geschafft?“, höre ich eine erschöpfte Stimme.
Ich drehe mich nicht um, starre auf den Regen, der gegen die Scheibe schlägt. Irgendjemand steht am Ende des Flurs hinter der Ecke. Ich sehe es an den Stiefelspitzen.
3
Sapere aude
(Wage es, zu wissen)
„Wir stehen kurz vor der großen Schlacht, David.“
Ich fahre mit den Händen durch mein Haar. Tief in meinem Innern weiß ich, was Martin meint. Die letzte Schlacht! Doch will ich es nicht wissen, alles in mir sträubt sich. Es ist wie eine Schlacht in mir.
Martin schiebt die Schüssel mit dem geronnenen Blut beiseite und beugt sich über den Schreibtisch. „David, die Minderwertigen werden immer mächtiger. Wir müssen es tun!“
„Ich weiß“, fahre ich ihn an, dass er zurückzuckt. „Und doch, weiß ich es wieder nicht. Du musst mir helfen, Martin. Diese Wesen da draußen. Wer sind diese Wesen?“
Martin blickt verstohlen zur Tür. „Du solltest aufhören damit“, flüstert er. „Du bist ihr Herrscher. Bisher konnten wir deine ... ich nenne sie einmal Visionen, geheim halten. Brinkmann“, Martin deutet auf die Pfütze neben seinem Sessel, „hat ihnen erzählt, du seiest drüben, wegen des Tores. Sie haben es ihm abgekauft.“ Für einen Moment schweigt Martin. „Sie haben ihm vertraut. Doch wenn du jetzt noch einmal abkommst, werden sie nicht mehr zu überzeugen sein, David. Nicht mehr jetzt, wo Brinkmann …“
„Aber wer sind sie? Woher kommen sie?“ Mein Kopf beginnt zu schmerzen - Hirntumor – und ich presse die Hände gegen die Schläfen. „Wie soll ich sie befehligen, wenn ich nichts über sie weiß?“
„David, du musst mir jetzt eine Frage beantworten.“
Ich blicke ihm in die Augen, die mich beinahe flehend ansehen. „Frag.“
Er scheint nach Worten zu suchen. „Hast du mittlerweile akzeptiert, dass dies hier die Welt ist, in die du gehörst?“
Mein Unterarm pulsiert, und borstige Haare keimen aus der rauen Haut. Die Finger werden länger; hornige Nägel platzen aus den Kuppen. Ich grinse, hebe die Klaue vors Gesicht. „Das habe ich. Aber warum wollen wir gegen die Menschen kämpfen?“
„Glaube, David. Es ist der Glaube!“ Er steht auf ohne mich dabei anzusehen.
„Glaube?“
„Es ist vielleicht unsere letzte Chance, David. Je mehr die Minderwertigen ihren Glauben verlieren, umso stärker werden sie.“
Ich stehe ebenfalls auf, gehe um den Schreibtisch herum, vorbei an Martin, der mir gerade bis zur Hüfte reicht, und blicke aus dem Fenster an der seitlichen Wand, die aussieht als sei sie mit Elefantenhaut überzogen.
Überall brennen grelle Flammen, gewaltige Berge am Horizont, die dampfenden Vulkanen gleichen, speien ihren Brodem in den Himmel, der mit einer schwarzen Wolkenschicht alles unter sich zu erdrücken scheint.
„Wir sind in der Hölle“, flüstere ich, dass es von den Wänden widerhallt.
Martins Lachen klingt hinter meinem Rücken beinahe erfrischend, und als ich mich umdrehe, verstummt er augenblicklich. „Die Hölle. Ja, so würden es die Minderwertigen nennen. Hölle.“
„Und wie nennst du es?“
„Es ist deine Welt, David. Du bist ihr Erschaffer.“
Jetzt versuche ich zu lächeln. „Du meinst, ich bin Gott?“
„Ja, David. So würden es die Minderwertigen nennen. Sie haben für alles ihre Prinzipien. Die Minderwertigen bestechen durch ihren Dogmatismus. Bis jetzt, David. Doch sie beginnen zu zweifeln. Die wenigen Verfechter des Glaubens verlieren ihre Autorität, und die Minderwertigen werden stark durch ihre Zweifel. Ihre Zweifel an dir, David.“
„Es gibt noch viele, die an Gott glauben. Sie können nicht existieren ohne einen Glauben. Dazu sind sie zu schwach.“ Der Schmerz in meinem Kopf nimmt mit jedem Wort zu.
„Oh nein, David. Ohne Glauben werden sie stark. Komm mit raus.“
Wir verlassen den Raum und tauchen in einen stinkenden Pfuhl aus brennend heißer Luft. „Sieh dir deine Welt an, David. Sieh sie dir an.“
Der Raum, aus dem wir gekommen sind, befindet sich auf einer kleinen Anhöhe, von der aus ich einen Blick bis hin zu den dampfenden Vulkanen am Horizont habe. Der gesamte Platz ist mit Wesen ausgefüllt. Zuckende Leiber, die durch ihre einheitlichen wabernden Bewegungen den Eindruck eines seichten Meeres hinterlassen. Ein Meer, das nur darauf wartet, dass sich die Wolken noch dichter vereinen, dass der Sturm losbricht. Friedlich liegt es da, und doch gleichzeitig so tödlich.
Keines der Wesen blickt zu uns herauf. Blutgestank steigt mir in die Nase.
„David, wenn die Minderwertigen nicht mehr glauben, dann haben wir keine Chance mehr, diese Welt zu verlassen. Sieh dich doch um.“ Martin deutet zum Horizont. „Die Pforten speien bereits jetzt kein Feuer mehr. Die Glaubensstätten der Minderwertigen werden immer weniger. Und bald werden wir keine Möglichkeit mehr haben, in ihre Welt zu gelangen.“
Ich gehe zurück in das Zimmer, höre, wie Martin mir leise folgt. Das Raunen der Menge verstummt, als er die Tür schließt.
„Wenn ich Gott bin, habe ich alle Macht der Welt.“
Martin stellt sich neben mich. „Noch, David. Noch. Und genau deshalb solltest du sie nutzen.“ Er greift nach meinem Arm. „Du musst das Tor öffnen, David. Wir brauchen dich!“
4
Nosce te ipsum
(Erkenne dich selbst)
„Molly?“
Meine Frau steht vor mir, hält meine zitternde Hand zwischen ihren Fingern. „David, Schatz. Was tust du denn?“
Ich sehe die Plastikflasche auf dem Linoleumboden liegen, daneben die silberne Schüssel. Wir befinden uns auf diesem Flur, und ich halte mich mit der linken Hand an einem fahrbaren Stativ mit Tropf fest. Ein dünner Plastikschlauch endet in meinem Handrücken.
„Komm, Schatz. Komm zurück.“ Mollys Stimme klingt sanft.
Du bist nicht verheiratet, David. Ich höre Martins Worte, die er mir sagte, als wir uns in der Kneipe gegenüber saßen. Du warst niemals verheiratet!
Doch genauso hatte er mir in der Kneipe gesagt, dass meine Operation schon über ein Jahr her sei. Alles war doch so echt. Diese Wesen. Diese pestilenzartige Welt. Ich, deren Herrscher. Ich … Gott.
Du warst die Vision, David. Auch das hatte Martin gesagt.
„Sagst du mir, was passiert ist, Molly?“ Sie will mich über den Flur führen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Ich sehe diese Ecke am Ende des Flurs. Vorhin stand dort noch jemand, dessen Stiefelspitzen ich gesehen hatte. Polizeistiefel. Die Sonne, die durch das Fenster scheint, erhellt die Wand, so dass ich das Bild, das dort hängt, nicht mehr erkennen kann.
„Wie meinst du das, Schatz? Weißt du denn nicht mehr, dass du morgen operiert wirst?“ Molly hustet mich an, und ich spüre, wie etwas Feuchtes meine Wange hinabläuft. „Oh, entschuldige bitte.“ Sie zieht ihren Handschuh aus und wischt mir damit über die Wange. Als sie ihn wieder überstreift, erkenne ich, dass es sich dabei um ihre Haut handelt.
Ich schreie, weiche zurück, so dass das Stativ mit einem lauten Scheppern zu Boden fällt. Die Plastiknadel wird aus meinem Handrücken gerissen, und ein winziger Blutstrahl benetzt den hellen Linoleumboden. Nach einem kurzen Moment wirft der Boden an dieser Stelle Blasen.
Jetzt vernehme ich wieder Schritte hinter der Ecke. Es sind winzige, nackte Fußpatscher, die sich langsam nähern. Molly grinst. Ein Wimmern dringt an mein Ohr, während sich meine Blase entleert und der heiße Urin mit dem Blut auf dem Boden eine glänzende Einheit bildet.
Mollys Augen beginnen zu bluten, und zierliche Bäche laufen an ihrer bleichen Wange hinab. Hinter der Ecke taucht das kleine Mädchen mit den Zöpfen auf. Der kurz unter der Nase abgetrennte Männerkopf ist ihr, einer grotesken Kappe gleich, bis zur Stirn gezogen. Ihr blaues Kleid wirkt schmierig und einige der sich darauf befindlichen Flecken glänzen feucht. Eine ebenfalls feucht schimmernde Puppe hängt an ihrem Arm, während sich der Daumen der anderen Hand in ihrem Mund befindet. Sie wirkt beinahe niedlich, und als sie direkt neben Molly zum Stehen kommt, erkenne ich, dass es sich bei der Puppe um einen Säugling handelt, dessen Gedärm eine blutige Spur auf dem hellen Boden hinterlässt.
„Hallo Papa“, sagt sie, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Kurz kann ich erkennen, dass der Nagel fehlt.
Molly blickt zu ihr hinab, streichelt über den halben Männerkopf, bevor ihre Augen herausfallen und vor den Füßen des kleinen Mädchens landen. Dieses gibt einen angewiderten Laut von sich und zertritt sie, als handle es sich um schäbige Kakerlaken.
Ich falle auf die Knie, lasse die Stirn in die Urin-Blut-Pfütze sinken und weine.
Kleine, kalte Hände berühren wenig später meinen Nacken. Ich will nicht aufsehen. Nie wieder. Es soll einfach nur aufhören. Ich will, dass es ein Tumor ist. Ein dicker, scheiß Tumor. Und entweder sollen sie ihn jetzt endlich wegoperieren, oder er soll mich töten. Hauptsache dieser ganze Irrsinn hat endlich ein Ende. Ich will nicht Gott sein. Die kleinen Finger streicheln sanft weiter.
„Du musst doch nur noch das Tor öffnen, Papa.“
Ich blicke auf, sehe durch die Tränen hindurch in das kleine Gesicht mit den zwei Augenpaaren. Ich greife ihr blaues Kleid, reiße sie zu mir heran und brülle ihr ins Gesicht. „WIE? Wie, verdammt noch mal, soll ich das verdammte Tor öffnen?“
Jetzt lächelt die Kleine. Ihr Kopf dreht sich, und als ich ihrem Blick folge, sehe ich Molly noch immer ohne Augen auf dem Flur stehen. Sie hat sich die Bluse aufgeknöpft, und ihre nackten Brüste erinnern mich groteskerweise an die schöne Zeit, die ich mit ihr gehabt habe. Damals, als sich noch keine bösartige Wucherung zwischen meinen Hirnwindungen befand.
„Öffne das Tor!“ Das Mädchen deutet auf Mollys Bauch, während diese damit beginnt, ihre Finger in ihre Haut neben dem Nabel zu bohren. „Hilf ihr, und öffne das Tor!“
Ich sehe wieder diese behaarten Unterarme, die langen Klauen mit den hornartigen Fingernägeln, die nach vorne schießen. Ich sehe sie in Molly eindringen, wie ein Schwimmer in die Oberfläche eines stillen Gewässers. Ich höre Mollys grässlichen Schrei, als die Klauen sie auseinander reißen und ihren Oberkörper aufklappen wie ein Gebetsbuch.
Schwarzer Qualm steigt aus ihrem Unterleib empor, der noch immer auf dem Boden steht, während die beiden Teile ihres Oberkörpers an ihrer Seite herabhängen.
Ein gewaltiges Grollen wälzt sich über den Flur, lässt gähnende Risse in den Wänden entstehen, aus denen zähflüssiger Schleim emporquillt. Unterarmdicke Maden fallen heraus, winden sich über den Flur und beginnen wenig später Mollys herabhängende Seitenteile zu fressen.
Überall ertönen Schreie, Scheiben bersten, und die Vulkane, die ich durch das offene Fenster hindurch erkenne, speien ihre Flammen in den schwarzen Himmel.
Schatten zischen aus Mollys Unterleib hervor, jagen über den Flur, und bevor sie in irgendwelchen Zimmern verschwinden, verwandeln sie sich zu Körpern; ähneln Geschwüren, aus denen weitere Wucherungen hervorplatzen und sich zu grotesken Leibern verformen. Vernichtungsmaschinen für die Minderwertigen. Von mir erschaffen!
Die Schreie werden lauter, dringen Millionenfach von draußen herein, bilden eine Symphonie der Verzückung. Dies ist mein Werk. Ich bin der Dirigent. Die letzte Schlacht. Ja, ich bin Gott!
Nach einer Weile blicke ich zu dem Mädchen hinab, das so winzig neben meinen Polizeistiefeln steht und mich mit großen Augen ansieht. „Es ist vollbracht“, sage ich, zertrete sie und verlasse das Krankenhaus, um meine Armee zum Sieg zu führen.
5
Vae victis
(Wehe dem Besiegten)
„Hey, altes Haus. Alles Gute zum Geburtstag. Sieh mal, ich hab dir Blumen mitgebracht. Obwohl, du hast ja eigentlich hier mehr als genug. Warte, ich schiebe dich ein wenig in den Schatten. So, und jetzt erzähl doch mal, was du in dem letzen Jahr so alles erlebt hast.“
„Nu lass ihn doch, Martin. Ich weiß gar nicht, warum du immer so tust, als würde er dich verstehen.“
„Er ist mein Freund, Schatz. Ein alter Freund, nicht wahr, David?!“
„Er ist ein Massenmörder.“
„Jetzt ist es aber gut. Das ist jetzt mehr als vierzig Jahre her. Außerdem weißt du, woran es gelegen hat.“
„Sie hätten ihm vorher das Hirn rausoperieren sollen.“
„Nimm es ihr nicht übel, David. Du weißt, sie war schon immer ein olles Meckerweib.“
„Na ja, wenigstens haben sie hinterher ein bisschen zu viel weggeschnippelt.“
„Warum gehst du nicht schon mal in die Cafeteria und isst ein großes Stück Kuchen, Schatz?“
„Ja, das werde ich tun. Ich bestell dir einen Kaffee mit. Also lass dir nicht unendlich viel Zeit.“
„Da geht sie hin. Du musst nicht böse sein, David. Wenn ich dieses alte Weib nicht sosehr lieben würde, hätte ich sie schon längst in den Wind geschossen und mir was Neues gesucht. Unter uns: selbst mit fünfundsiebzig steht der alte Freund hier noch seinen Mann. Warte, ich wische dir den Speichel ab.
So, altes Haus, du hast ja gehört, dass der Kaffee auf mich wartet. Ich sag der Schwester bescheid, dass sie dich gleich noch ein bisschen in die Sonne schiebt. Und wenn ich nächstes Jahr wiederkomme, dann will ich, dass du bis dahin wieder sprechen gelernt hast. Ist das klar, David?
Denk immer daran: Wir brauchen dich!“