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Niemals
Ich kann nicht einschlafen. Ich muss immer an die neue Lehrerin denken. Die neue Lehrerin ist anders. Sie lacht oder lächelt die ganze Zeit.
Wenn sie sich über ein Mädchen beugt, um ihm zu zeigen, wie ein Buchstabe geschrieben wird, dann liegt ihre Hand auf seinem Arm. Den Jungen wuschelt sie manchmal durchs Haar.
Die anderen mögen das. Sie kichern und melden sich wie wild, damit sie an ihren Tisch kommt.
Wenn sie Pausenaufsicht hat, dann wollen alle neben ihr stehen und mit ihr reden. Die Mädchen zupfen solange an ihrer Jacke, bis sie sich hinunterbeugt und mit ihnen spricht.
Ich will nicht so nah bei ihr sein. Mich soll sie nicht anfassen. Niemand soll mich anfassen.
Als ich gestern im Sportunterricht das Tor geschossen habe, da hat sie mir auf die Schulter geklopft. Das war ein komisches Gefühl. Irgendwie warm und – ach, ich weiß nicht ... es war – beinahe zum Weinen ... sie soll das nicht noch einmal machen! Ich will das nicht!
Ich passe immer genau auf, ob sie an meinen Tisch kommt, denn dann rücke ich ein wenig von ihr weg.
Sie merkt, dass ich nicht so nah bei ihr sein will. Manchmal hebt sie die Hand und lässt sie wieder sinken, bevor sie mich berührt hat. Dann lächelt sie nicht. Sie sieht mich ganz ernst an, fast traurig – aber das ist mir egal.
Neulich ist Jonas beim Turnen vom Kasten gefallen. Er hat ziemlich doll geweint und dann wuchs eine dicke Beule auf seiner Stirn. Ganz blau war die. Jonas tat mir Leid. Ich weiß, wie weh das tut. Ich habe oft blaue Flecken und Beulen – weil ich ... . Ich stoße mich manchmal.
Sie hat Jonas richtig in den Arm genommen und getröstet. Ich musste die ganze Zeit hinsehen. Jonas hatte keine Angst vor ihr. Er hat sich einfach trösten lassen und nach einer Weile hat er schon wieder gelacht. Das war – irgendwie gut, aber ... . Mich muss niemand trösten. Ich heule nicht. Nie.
Ich will nicht, dass sie mich tröstet.
Trotzdem muss ich immer wieder daran denken, wie Jonas geweint hat und wie sie ihn im Arm gehalten hat. Dann hat sie ein nasses, kaltes Tuch auf die Beule gelegt und die ganze Zeit hat sie gelächelt und leise mit Jonas geredet. Jonas hat schon bald nicht mehr geweint. Sie hat ihm geholfen!
Meine Schulter tut weh. Gestern bin ich gegen den Schrank gefallen. Ich würde mich gerne anders hinlegen, aber das alte Bett quietscht so laut. In der Küche ist noch Licht. Ich sehe den schmalen, hellen Spalt unter der Tür. Wenn das Bett quietscht, dann hört er es. Immer hört er es. Und dann kommt er herein, weil ich noch wach bin. Aber es ist egal – er kommt auch, wenn ich schon schlafe. Er kommt immer. Jede und jede und jede Nacht. Meistens schlägt er mich. Einfach so.
Wenn er mich schlägt, dann weint Mama. Ich höre sie in der Küche weinen. Ich weine nicht. Niemals. Schlagen ist nicht so schlimm. Das kann ich aushalten.
Die Tür geht auf. Diesmal poltert er nicht. Er ist noch nicht betrunken, sonst hätte er die Tür gegen die Wand geknallt. Er kommt zu meinem Bett und flüstert:
„Schläfst du schon, Junge?“
Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.
Er setzt sich auf die Bettkante. Ich rühre mich nicht. Vielleicht geht er wieder? Geh weg. Bitte, bitte, bitte, geh weg. Ich schlafe doch schon. Merkst du nicht, wie fest ich schlafe?
Ich halte den Atem an. Er riecht nach Schweiß. Er streichelt meine Wange. So komisch zart. Ich werde ganz steif. Meine Schulter tut weh. Seine rauen Finger kratzen über meinen Hals. Er knöpft meinen Schlafanzug auf. Seine Hand fährt über meinen Bauch. Mir ist schlecht. Ich rühre mich nicht. Bald ist es vorbei. Ich weiß, dass es bald vorbei ist. Seine Finger sind schon unter dem Gummi meiner Pyjamahose ...
Mich muss niemand trösten. Ich weine nicht. Niemals.