Meine Mutter holt mich in Köln-Deutz ab. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, lege den Arm um ihre Schulter, bevor wir losfahren.
„Wie war er gestern?“, frage ich.
Sie antwortet etwas. Vielleicht: „Man merkt, dass es zu Ende geht“. Oder: „Er bekommt ja Schmerzmittel.“ Oder: „Es geht ihm schon elend.“
Ich verzichte darauf, die Musik zu wechseln. Im Radio laufen Songs, die ich nicht kenne. Es ist der passende Soundtrack zu dem, was wir jetzt tun. Eine halbe Stunde bis Gummersbach.
Hallo Carlo,
vielleicht noch Köln-Deutzer Bahnhof? Sonst klingt das so vollkommen ortlos, obwohl du den Ort bennenst, Deutz ist ja was größer.
Dann seine Frage. Ich weiß, es ist ein guter Effekt, dass die Mutter dann vielleicht antwortet, weil es so eine seltsame Schleierhaftigkeit erzeugt, was ist wahr, was ist wirklich gesagt worden, hat sie alles gesagt oder nur das Eine?
Ich glaube, es wäre besser, stringenter, wenn er nicht fragen würde. Wenn die Mutter vielleicht anfängt etwas zu sagen, weißt? Sie fängt diese Nicht-Unterhaltung an, er bleibt dieser Passagier in dieser ganzen Sache, irgendwie stumm und nicht so wirklich beteiligt.
Dann auch; dass er darauf verzichtet, die Musik zu wechseln. Warum sollte er das tun? Er lässt ja mehr oder weniger alles über sich ergehen, oder? Würde da nicht der Satz mit dem Songs im Radio reichen. Im Radio laufen Songs, die ich nicht kenne. Eine halbe Stunde bis Gummersbach. (Da rast aber jemand, wie!
Finde ich gut. Das ist so der Glutkern:
Ein letzter Blick. Später im Zug werde ich denken: er liegt dort, ich könnte noch ein Mal zurück und einfach bei ihm sein, mich krankschreiben lassen. Noch ist er da.
Man fährt einfach weg, man könnte dies und jenes tun, aber nee. Warum eigentlich nicht?, denke, aber so ist das Leben wohl. Was ist einem schon wichtig? Ist auch ein wenig zynisch, aber ich denke, das ganze Leben ist ein wenig zynisch. Hat was von Carver, finde ich. Das ist auch ein Element, was du vielleicht verstärken könntest, dich noch mehr darauf konzentrieren; Ich habe das Gefühl, die reden eigentlich alle aneinander vorbei. Die sagen etwas, meinen aber etwas ganz anderes. Da schwärt etwas unter dem ganzen Unverbindlichen, nicht Gesagtes, nie Ausgesprochenes. Das könntest du eventuell noch etwas strenger gestalten.
„Mensch, der Max.“ Sarah drückt ihre Wange gegen meine. Sie wirkt wie immer. Grobmotorisch, herzlich sonst. Einige sind da. Meine Tante, mein Onkel, mein Großonkel, meine Großtante, die Frau meines Großonkels, die Frau meines Onkels, eine Cousine, der Hund, die Katze und Opa Klaus natürlich. Im anderen Zimmer liegt er. Schläuche in der Nase, zugedeckt, ganz klein.
Eine Sache. Sarah beschreibst du als grobmotorisch, alle anderen beschreibst du aber gar nicht. Warum gewichtest du Sarah hier so? Und dann: Einige sind da? Es liest sich aber wie: Alle sind da. Ich glaube, du könntest hier etwas verlagern: Alle sind wie immer. Das ist doch auch oft das absurde an solchen Situationen, dass sie eben nur scheinbar außergewöhnlich sind.
Ich setze mich zu ihm, er sieht mich an.
„Ich hab Angst“, sagt er.
Ich nicke, halte seine Hand.
Das wird klar. Der Blick sagt alles.
Es gibt Afri-Cola.
„Papa, möchtest du Cola?“, fragt meine Tante.
Klaus nickt.
Ich mache mir eine Cola auf.
Hier stutze ich kurz: Wer ist wer? Ist er Klaus, der Erzähler? Wer ist Papa? Das wird irgendwie unklar. Vielleicht mit:
Ich mache mir eine Cola auf, weiter?
Die Cola prickelt im Rachen. Wir schauen uns an. Schweigen.
Ich schenke Klaus ein Viertellächeln.
„Wie war deine Fahrt?“, fragt er.
„Gut. In Frankfurt stand ich eine Stunde in der Kälte. Sonst gut.“
„Wie gehts deiner Freundin?“
„Die lernt für das Examen. Wir sind glücklich. Ich glaube, ich habe jetzt wirklich alles gefunden, was ich brauche. Ich hab das erste Mal das Gefühl, anzukommen.“
„Das ist schön“, sagt Klaus.
Wenn sie sich anschauen und nichts weiter sagen, könntest du auch das Schweigen rausnehmen, weil es klar wird.
Dann das Fette: Die lernt für das Examen. Der Rest wirkt schon sehr viel, also da gerät er in den rauschhaften Plaudermodus. Das wirkt bei der Knappheit schon fast exaltiert, das würde ich mir nochmal ansehen.
Ich dachte auch, es geht nicht um Opa Klaus, sondern um jemand anderen, der im Raum nebenan liegt. Dabei geht es um Opa Klaus. Das könnest du irgendwie noch einmal deutlicher machen, aber vielleicht bin auch nur ich das mit meinem langsamen Schädel. Das ist viel Zuordnung auf diese kurze Länge, meine ich.
Als die Sonne aufgeht, komme ich am Bahnhof an. Meine Freundin schläft. Das Bett ist warm. Ich lege mich zu ihr. Schließe die Augen. Erst vier Tage später fühle ich es. Zwei Wochen später schreibt mir meine Mutter. Ein paar Tage darauf eine Kondolenzkarte mit einem Rechtschreibfehler und einem Johnny-Cash-Zitat. Noch eine Woche: Nikolaus. Der 6. Dezember. Sein Geburtstag.
Du betonst ja hier eigentlich diese Unausweichlichkeit und lässt die Frage offen, warum er nicht zurückkehrt. Damit entlässt du den Leser. Du baust hier eine Stimmung auf, die ich oft bei Stuart Dybek gelesen habe, ich hab drei Bücher von ihm inhaliert in den letzten Wochen, das sind auch so Traumsequenz-artige Erinnerungsstücke, wo zwar auf diese Ebene rekurriert wird, aber immer ein
Vielleicht! im Hintergrund wabert; ist es so gewesen? Ja, aber wie genau? Da bleibt alles im Vagen, es sind schräge Texte, auf deren Glutkern man nie so richtig den Finger legen kann, es sind immer mehrere Variablen möglich, die sind nicht monokausal. Ich denke, diesen Effekt würdest du verstärken, wenn du den letzten Absatz streichst. Dieser einsame Mensch, der wie ein verloren gegangener Passagier auch noch in einem Zug (!) sitzt und im Grunde nebensächlich seinen Großvater verabschiedet - das ist ein mächtiges Ende.
Mich berührt das auch persönlich, denn ich habe meinen Großvater, als er im Sterben lag, auch nur kurz im Krankenhaus besucht und unten im Auto wartete ein Kumpel, mit dem ich danach Dope besorgt habe. Ich war vielleicht nur fünf Minuten in dem Zimmer und ich wusste, ich sehe ihn zum letzten Mal, aber ehrlich gesagt war mir das damals scheißegal. Das sind natürliche Momente, die du ändern willst später es aber eben nicht mehr kannst. Das bleibt bei einem. Ich habe das damals wie so eine lästige Pflichtaufgabe begriffen, heute sehe ich das anders, aber was will man machen ...
Gruss, Jimmy
PS: Das ist auch eine vetrackte Erzählsituation. Weil eigentlich ist das alles schon geschehen, das wird an dem Vorgriff deutlich, aber du erzählst es so, als wäre es im Präsens, dabei stimmt das gar nicht. Du tust nur so, als sei das im Präsens, aber eigentlich ist es Vergangenheit, ein Indikator für einen unzuverlässigen Erzähler, der sich genau an einer Stelle offenbart. Das ist gut gemacht. Dadurch entsteht, so glaube ich, diese seltsam bizarre Stimmung auch erst, da fließt die Zeit so ganz seltsam von dannen, Nachmittage die einem unter den Fingern zerrinnen, wo ist die Zeit geblieben, Zeit spielt hier überhaupt eine wichtige Rolle, es ist keine Zeit mehr, in der Zeit, in die er sich krankschreiben lassen könnte, könnte er Zeit mit seinem sterbenden Opa verbringen - fällt mir so auf. Also, das ist eine gute Wahl, wie ich finde.