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Ninja
für moony, denn sie hat es nicht anders gewollt
Nur die Ruhe. Eins werden mit dem Schatten. Lautlos. Nicht auffallen. Sämtliche Geräusche in einen Mirkokosmos aus Stille verbannen und hinunterschlucken. Langsam um die Ecke. Vorsichtig an den Wachhunden vorbei. Den Lichtkegeln der Suchscheinwerfer ausweichen. Immer das Ziel vor Augen. Nicht umdrehen. Niemals umdrehen.
Und vor allem keine Möhrchen knabbern. Nicht jetzt.
...
"Meister, Ihr habt gesagt, in drei Monaten würde ich soweit sein."
"Das habe ich gesagt, ja."
"Nun... das war vor drei Monaten. Bin ich jetzt soweit?"
"Nein."
"Dann habt Ihr gelogen?"
"Die Wahrheit, mein junger Schüler, ist wie ein Grashalm im Wind. Manchmal steht er kerzengerade in der Sonne. Er kann aber gebogen werden, manchmal auch gebrochen. Manchmal, da kippt er gänzlich zur Seite und kann nur schwer gesehen werden. An anderen Tagen wieder wird er von der Last der Welt niedergedrückt und kann sich nicht gegen die Realität behaupten."
"Also habt Ihr gelogen?"
"Ja. Kannst du mir ein Stück Gurke aus der Küche holen?"
Irgendwo hinter dem Horizont, wo sich Himmel und Erde berühren und wo die Sonne niemals untergeht (außer nachts natürlich), dort gibt es ein Land, welches noch nie von einem Menschen betreten wurde. Hier - und nur hier - herrscht noch das alte Gleichgewicht der Natur. So, wie es einst vorgesehen war. Nur an einem Ort wie diesem sind Möwen stubenrein, teilen Löwen und Gazellen sich ihre Mahlzeit und liegen Quallen faul in der Sonne. Und nur an einem solchen Ort konnte die Lehre der Ninjameerschweinchen überleben.
Ein uralter Glaubenskodex, einst weit verbreitet unter den Meerschweinchen dieser Welt - doch im Laufe der Jahrhunderte hatte er für die Tiere angesichts der Verlockungen von Sex, Nahrungssuche und der Flucht vor dem gemeinen Steinadler immer mehr an Bedeutung verloren. Bis sich irgendwann die letzten Meister in dieser altehrwürdigen Kunst des Kampfes an diesen Ort zurückgezogen hatten um ihre Lehre an wissbegierige Schüler weiterzugeben.
"Meister, warum muss ich kopfüber von der Decke hängen?"
"Lerne, die Perspektive zu hinterfragen, die Gott dir gegeben hat. Lerne, die Dinge aus einer anderen Warte heraus zu betrachten. Nur so wirst du in der Lage sein, die Welt zu verstehen, junger Schüler. Außerdem sieht es witzig aus."
"Aber das Blut schießt mir in den Kopf, Meister."
"Besser in den Kopf, als in einen anderen Körperteil."
"Was meint Ihr?"
"Du weißt schon... diesen einen Körperteil, welchen Meerschweinchen am häufigsten gebrauchen..."
"Meinen linken Hinterlauf?"
"Was? Ja... ja, den meine ich wohl. Den linken Hinterlauf..." Meister Strubbel blickte verlegen in eine andere Richtung. Wie jeder Ninjalehrmeister vermied er es, vor seinen Schülern über dieses heikle Thema zu sprechen. Natürlich wusste er ebenso wie jedes andere Meerschweinchen, warum Gott sie einst geschaffen hatte. Wenn man als Spezies ein Leben zwischen Sex und Fressen führt, dann gibt es nicht viele mögliche Theorien über den Sinn des Lebens. Deshalb musste er aufpassen, seine Schüler vor den Verlockungen des Weibes zu schützen. Nur ein keuscher Ninja ist ein guter Ninja.
...
Durch den Tunnel. Keine Furcht zeigen, sondern stur geradeaus. Licht ist der Feind. Und der Feind ist der Feind. Alles ist der Feind. Nur an die Mission denken. Alles andere ausblenden. Nichts ist wichtig, nur das Ziel. Nicht in die Fallen laufen. Jeden Moment bereit sein, das Undenkbare zu denken.
Und dem Steinadler ausweichen. Jetzt!
...
"Hast du dein Laufrad schon gereinigt, mein Schüler?"
"Ja, Meister." Ninjameerschweinchen üben sich, ähnlich ihren direkten Nachbarn im Stammbaum, den Goldhamstern, in der alten Kunst des Laufradschmiedens. Sie benutzen sie aber nicht, um dem Stumpfsinn zu entfliehen und auf der Flucht vor imaginären Feinden einen Dynamo anzutreiben, sondern für sie stellen diese Laufräder eine wichtige Trainingseinheit dar. Nur ein fitter Ninja ist ein guter Ninja.
"Es ist wichtig für einen Ninja, seine Gerätschaften immer sauber zu halten. Lerne die Stubenreinheit und verrichte dein Geschäft immer außerhalb deines Wohnraumes. Die Bakterie ist der natürliche Feind des Meerschweinchens."
"Was ist mit dem Steinadler, Meister?"
"Ja, der auch... Steinadler und Bakterien. Und vor allem Steinadler mit Bakterien. Fürchte sie, mein Schüler. Fürchte sie."
"Meister, ich bin seit zwei Monaten stubenrein. Ich gehe hinter diese alte Vogelbirke zum..."
"Das ist gut, mein Schüler. Das ist sehr gut."
"Ja, und wenn ich Durchfall habe, dann nehme ich immer..."
"Du musst lernen, deine Zunge im Zaum zu halten, mein Schüler. Nichts ist schlimmer, als ein Ninja, der über seinen Darm spricht. Dies soll deine Lektion für den heutigen Tag sein. Morgen reden wir dann über die Techniken, sich das Fell schwarz zu färben."
"Meister..."
"Morgen, mein Schüler. Übe dich in Geduld."
"Aber mein Fell ist schwarz, Meister. Seit meiner Geburt."
Meister Strubbel stockte. In der Tat war sein Schüler das dunkelste Meerschweinchen, das er in seiner langen Karriere als Ninjameister gesehen hatte. Das war eigentlich auch der Grund, aus dem er den Jungen Peggy (der Ursprung dieses Namens führt weit zurück in die Geschichte der Nagetiere und hat irgendwas mit der Französischen Revolution und Schnupftabak zu tun) damals in die Ausbildung genommen hatte.
"In der Tat, dein Fell ist schwarz. Wie das Innere einer schwarzen Kuh, die während einer wolkenverhangenen Neumondnacht auf einer Wiese im Schatten einer Schwarzbuche steht und blind ist."
"Blind?"
"Ich glaube, damit ist deine Ausbildung abgeschlossen. Es gibt nichts mehr, was ich dich lehren kann."
"Was ist mit dem lautlosen Schaben von Möhren?"
"Das ist eine veraltete Technik, die hat Meister Quiecky schon vor Jahren aus den Lehrbüchern entfernen lassen. Niemand schabt heute mehr Möhren."
"Wenn Ihr das sagt, Meister."
"Komme also morgen zu der alten Vogelbirke. Dort werde ich dich in den Rang eines Ninjameisters erheben und... nein, warte... lieber doch nicht an der Vogelbirke. Komm einfach in meine Höhle, das wird reichen."
...
Steinadler sind gute Flieger, aber schlechte Schützen. Glück gehabt, aber nicht übermütig werden. Er könnte zurückkommen. Noch einmal um die Ecke und dann durch die Tür. Ölen, falls sie quietscht. Puschen über die Krallen ziehen. Geräuschlos über den Steinboden schleichen. Einmal tief durchatmen. Das Timing der Lichtschranken beobachten. An, aus, an, aus, an, aus, an, aus, an...
Aus! Jetzt!
...
"... schwöre ich, den Regeln des Ordens zu folgen, den fleischlichen Genüssen zu entsagen und mich voll und ganz dem Kodex zu unterwerfen."
"Beim heiligen Rasen von Antiochia schwöre ich feierlich, den Regeln des Ordens zu folgen, den fleischlichen Genüssen zu... muss das sein, Meister?"
"So lauten die Regeln. Ninjas leben einsam und sie sterben einsam."
"Ja, aber ab und zu ein wenig Spaß..."
"Sprich einfach die Formel nach, junger Schüler."
"Jaja, schon gut... ich schwöre also feierlich, den Regeln des Ordens zu folgen, den fleischlichen Genüssen zu entsagen und mich voll und ganz dem Kodex zu unterwerfen."
"Sehr gut. So knie nieder, Peggy, der Schüler und erhebe..."
"Ich soll mich hinknien? Meister, ich bin ein Meerschweinchen..."
"Tu, was ich sage! Knie also nieder, Peggy, der Schüler und erhebe dich, Peggy, der Ninja. Meister im Nagkampf, Beherrscher der sieben Todeskrallen und Kenner der ultimativen Wahrheit."
"Welche ultimative Wahrheit?"
"Ich habe sie dich gelehrt."
"Ach so... die Wahrheit. Ja, die war wirklich beeindruckend, Meister. Meine Güte, also wirklich..."
"Nenne mich fortan nicht mehr Meister. Von nun an nenne mich bei meinem Namen."
"In Ordnung, Strubbel. Was jetzt?"
"Jetzt beginnt die Phase der Entsagung. Zwei Monate wirst du als freier Ninja durch die Lande streifen und deine Dienste den Bedürftigen anbieten. Wer immer deine Hilfe braucht, wird sie erhalten. Nach diesen zwei Monaten kommst du zurück und berichtest mir. Dann wirst du in der Lage sein, selbst Schüler auszubilden."
"Darf ich die dann auch kopfüber von der Decke hängen lassen?"
"Was du willst. Alles, was du willst."
...
Wachkaninchen. Verdammt, die haben gerade noch gefehlt. Nur die Ruhe. Wer so weit gekommen ist, den hält auch so etwas nicht auf. Einen Moment innehalten, nachdenken. Es gibt einen Weg, es muss ihn geben.
Ablenkung war das Stichwort. Kaninchen lenkt man am besten mit dem Geruch frischer Karottenschalen ab. Jeder gute Ninja hat seinen Mohrrübenvorrat immer am Meerschwein. Lautlos muss es sein, sie dürfen keinen Verdacht wittern. Ein Geräusch und alles wäre umsonst. Alles wäre vorbei. Keine Panik, es kann nichts schief gehen. Schließlich wird man als Ninjameerschweinchen auf solche Fälle vorbereitet. Was hatte der Meister über die Lehren des lautlosen Möhrchenschabens gesagt?
Das ist eine veraltete Technik, die hat Meister Quiecky schon vor Jahren aus den Lehrbüchern entfernen lassen. Niemand schabt heute mehr Möhren.
Verdammt! Immer mit der Ruhe, es wird schon irgendwie gehen. Ein echter Ninja zeigt keine Furcht.
Peggy schluckte schwer und setzte das Schabmesser an.