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Noels Klopfen
Noels Klopfen
Manchmal erdrückt mich die Einsamkeit, dass ich auf jede Kleinigkeit überreagiere. Schatten ziehen über die Wände meiner Wohnung und ich erschrecke so sehr, dass ich mich übergeben muss und mir die Spucke aus dem Mund tropft. Und dann, als ich mich wieder aufrichte, erfasst mich der Schrecken. Erst kann ich nur lachen... es ist mein eigener.
Ich höre nachts das Klopfen und es ist die größte Qual, die ich in meinem Leben bisher durchstehen musste. Ich weiß gar nicht mehr, wann es damit anfing, oder ob es nicht schon immer da gewesen ist. Wie der Sonnenschein, der mich jeden Morgen weckt. Genauso ist es.
Aber ich höre es jede Nacht, die ich hier verbringe, und es ist nicht lustig, wenn sich die Rhythmen abwechseln, sich immer wieder neu erfinden. Manchmal ist es ein Trommelfeuer, das so laut ist, dass ich nicht weiß, mit welchem grausamen Instrument man so einen Ton überhaupt erzeugen kann. Aber meistens ist es dieser gleichmäßige Rhythmus. Es klingt irgendwie höflich, als würde ein netter Mann mit Hut um Einlass bitten. Guten Tag... ich bin wieder da...
Außer mir hört es niemand, damit musste ich mich schon sehr früh abfinden. Ich erzählte es meinen Eltern und meinen besten Freunden. Sie haben mich ausgelacht. Mit ihren fahlen Stimmen gespottet. Heute habe ich ihnen allen abgeschworen. Nicht einmal die Ärzte wollten mir zuhören, sie wiesen mich lieber in die Nervenklinik ein. Mein Lachen über ihre Dummheit füllte so manche Nacht die Gänge.
Heute bin ich wieder frei von ihnen, höre das Klopfen aber immer noch und das Schlimmste ist, die Ärzte hatten nicht Recht. Sie sagten mir immer und immer wieder, es käme aus meinem Kopf, aber so ist es nicht. Selbst, wenn ich meine Haare ausreiße und sie einzeln vor mir auf den Tisch lege, ändert das nichts. Überhaupt gar nichts an all dem Zerreißen, Zerstückeln und stetigem Hämmern. Es kommt nicht aus meinem Kopf... glaubt mir doch bitte.
Ich gehe manchmal, wenn ich mir wieder den Mut dazu abgerungen habe, dieser Sache auf den Grund gehen zu wollen, ganz nah an die Wand und horche.
Und ich kann sie vibrieren spüren, ich kann das Klopfen fühlen, wie sich die Wand leicht bewegt. Das sind keine heiseren Geister, die da oben in meinen Gedanken aufräumen und nicht wissen, dass sie das sein lassen sollen. Ich würde weinen vor Glück, wenn alles bloß Einbildung wäre!
Es ist wirklich die Wand, von der das Klopfen kommt und zwar jede Wand auf dieser verdammten Erde behandelt mich gleich, behandelt mich wie einen ausgestoßenen Hund, der kein neues Zuhause finden darf, der ewig durch die dunklen Wälder irren muss und irgendwann zusammensacken wird unter dem ganzen Gewicht, das man ihm aufgehalst hat.
Es war ein Samstag, denke ich doch, als ich anfing, mir selber gegen den Kopf zu klopfen. Es tat am Anfang unfassbar weh, es war so schmerzhaft, dass ich immer wieder aufhören musste und immer wieder von vorne anfing. Stell dir vor, da ist ein Schmerz, der dich nicht loslassen will, der weder schlimmer noch besser wird. Der einfach konstant gleich weh tut und an den man sich auch nicht gewöhnen kann.
Nun? Stellst du es dir vor?
Und irgendwann machte mich der Schmerz geil, es tat gut, nicht mehr das Klopfen von den Wänden hören zu müssen, sondern ganz alleine mein eigenes festes Schlagen.
Ja, es war wunderschön, diesen Schmerz zu spüren. Mein Kopf begann nicht mehr aufzuhören, weh zu tun und gleichzeitig fühlte ich mich großartig. Ich hatte sie überlistet. Die Ärzte, Eltern und Freunde... alle diese Menschen, die mir nicht glauben wollten, dass es sich heilen lässt.
Ich war zwar immer noch genauso alleine, aber ich hatte mich gefunden und es war so gut, zu wissen, dass ich in meinem grenzenlosen Verstehen ein Heilmittel gefunden hatte.
Du wirst dir denken, dass sich nichts geändert hat, aber so ist es nicht. Ab da war ich selber schuld für die Qualen und suchte nicht immer nach Monstern, die sich vielleicht in den Wänden versteckt hielten, sich in die Zwischenräume eingegraben hatten und mich aus feinen Ritzen auslachten.
Ich konnte sie auslachen, mich freuen, es geschafft zu haben, sie zu besiegen. Am liebsten schlug ich mich mit der geballten Faust, genau auf die Stirn. Man spürte richtig, wie die Schädelknochen belastet wurden. Und ich bin mir sicher, dass ich mir schon etwas gebrochen hatte.
Da war eines nachts dieses kurze Brechen und plötzlich war mir bewusst, dass nicht mehr alles stimmen konnte. Ich lief zum Spiegel und sah mit geifernder Befriedigung, dass mein Kopf schief war, er hatte sich verbogen. Und ich konnte nur lächeln, weil ich das alles alleine geschafft hatte.
Warum ich jetzt nicht mehr gegen meinen Kopf schlage?
Sie haben mir meine Arme abgeschnitten.
Sie kamen aus der Wand und sie waren nicht einmal so groß wie ein Kleinkind. Sie lächelten. Und sie hoben ihre Arme, wie zum Gruß.
Ich habe sie nur verständnislos angesehen und wollte etwas sagen, aber da waren keine Worte, die ich hätte sagen können.
“Wieso tust du uns das an?”, sagte einer.
Sie kamen auf mich zu und rissen mich um. Sie waren stark und ich konnte mich nicht wehren, weil ich schon mein ganzes Leben schwach gewesen war. Ihre Hände waren wie Hammer gewunden und schlugen auch so auf mich ein. Die Haut war irgendwie papierartig, aber ein Papier von solch schlechter Qualität, dass Tinte darauf verlaufen würde. Sie hatten keine Ohren und ich wusste sofort, dass es ihre einzige Lebensaufgabe war, mich für alle Zeiten zu quälen. Mir immer wieder, jede Stunde, die ich in diesem Wahnsinn lebe, zu zeigen, dass ich nur da war, um sie glücklich zu machen.
Ich wollte schreien, aber ich heulte wieder nur über mein grauenhaftes Unglück. Ein einzelner trug einen seltsamen Anzug und hatte statt eines Hammers eine rostige Schere. Sie war stumpf, was diese Kreaturen aber nicht davon abhielt, sie genau unter meinem Oberarmgelenk anzusetzen und zu drücken. Ich weiß gar nicht, ob Blut floss, ich hörte sie nur lachen und sah, wie sie mit ihren Fingern auf mich zeigten, als sei ich ein Komiker, der sie unterhalten will. In ihren Augen sah ich Gier, wie bei einem hungrigen Raubtier.
Es dauerte lange, sehr lange, bis der mit der Schere endlich meine Hände abgetrennt hatte. Ich weiß nicht, wie oft er ansetzen musste, um den finalen Schnitt tätigen zu können.
Die Qualen, die sie mir zufügten, waren schnell vergessen, als das Klopfen wieder anfing. Und es war grauenhafter und zermürbender, als je zuvor. Manchmal ballten sie ihre Fäuste und schlugen geradezu gegen die weiße Wand, die ich seitdem Tag und Nacht gezwungen bin, anzustarren. Die Tapete ist an manchen Stellen unregelmäßig und brüchig und wenn ich ganz genau hinsehe, dann kann ich manchmal ein Beinpaar durch eine besonders durchsichtige Stelle huschen sehen.
Manchmal weine ich und manchmal kreische ich um Hilfe, aber ich bezweifle, dass mich hier jemand hören wird. Wie sollte mich auch jemand wahrnehmen können, wenn dieses Klopfen alles ist, was es zu hören gibt?
Marburg, 7.11.2005