- Beitritt
- 14.08.2012
- Beiträge
- 2.275
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Nordwand
„Sie gestatten, Maestro?“
Michl hängt seine Stofftasche an den ausgestreckten Finger der Statue und entlockt Kathi damit endlich ein Grinsen. Er zieht sich das T-Shirt aus und legt sich ins Gras, die Musik kann er hier genauso gut hören. Es stört ihn nicht, dass sie die Filmleinwand nicht mehr sehen, und Kathi ist es erst recht egal, sie ist seinetwegen da, nicht wegen der Callas. Obendrein ist es kühler unter den Bäumen.
War sowieso eine Schnapsidee, sich auf die Tribüne zu setzen. Zu diesen eitlen Spießern, die so tun, als säßen sie nicht im Stadtpark, sondern wahrhaftig in der Staatsoper. Als er sich mit Kathi im Schlepptau und einer Bierdose in der Hand zu den letzten freien Stühlen zwängte, steinigten sie ihn zwar nicht, aber er spürte, was sie von einem wie ihm halten. Die abschätzigen Blicke auf seine Haare und seine Klamotten waren ihm herzlich egal, auch das lüsterne Schielen der Männer auf Kathis Beine. Aber dann beugte sich während der Ouvertüre so ein feiner Herr vor und regte sich auf. Verzeihen Sie, junger Mann, aber könnten Sie gefälligst Ihre Zigarette? … und sah ihn dabei nicht einmal an, sondern glotzte ungeniert auf Kathis Brüste. Als gäbe es da groß was zu sehen, fehlte nur, dass er sabberte. Das war Michl dann zu blöd und er starrte an dem Typen vorbei auf dessen Alte, mit Verlaub, Gnädigste, aber Ihr Parfum … schnappte nach Luft, schnitt eine fürchterliche Fratze und rutschte theatralisch vom Stuhl. Das hätte er sich natürlich sparen können, noch dazu, weil Kathi sich auch nicht gerade zimperlich zeigte. Kurzerhand hob sie für eine Sekunde ihr Top und streckte dem Alten die Zunge raus. Oh Mann, wie er dieses Mädchen liebte.
Prompt kamen zwei Ordner und zischten was von angemessenem Benehmen, höchstens zwanzigjährige Schnösel, nicht viel älter als er, die Bittschön, junger Herr! zu ihm sagten. Zum Schieflachen, die zwei Witzfiguren mit ihren Mozartperücken.
Doch den Zauber dieses Abends will sich Michl nicht vermasseln lassen. Zu Bellinis Musik streiten? Undenkbar.
Norma stimmt Casta Diva an. Michl stopft sich das T-Shirt unter den Kopf, schaut in den Abendhimmel und lauscht hingerissen.
„… und dann erzählt mir die Sabine, dass sie und der Martin jetzt auch mitfahren. Na großartig. Alle fahren sie nach Ios … echt, ich hab‘s so satt. Tolle Ferien werden das.“
„Mhh.“
„Gestern hat mich der Florian angerufen und gefragt, ob ich nicht doch mitkommen will. Halt ohne dich.“
„Mhh.“
„Michl! Hörst du mir überhaupt zu?“
„Kathi, bitte! Psst, einen Moment nur … Wahnsinn, diese Stimme!“
„Wahnsinn, diese Stimme!“, äfft ihn Kathi nach. „Interessiert dich eigentlich sonst noch was? Außer Scheißklettern und Scheißopern? … Verdammt, Michl, schau mich an.“
Er schaut sie an und grinst. Er weiß, dass sie sein Grinsen liebt.
„Klar, Henry Rollins, Iggy Pop, Colin Jerwood, na ja, und eine gewisse Kathi Tostmann, also ein paar Sachen interessieren mich schon noch.“
„In dieser Reihenfolge, ich hab’s geahnt, du Schuft.“ Kathi boxt ihn in die Rippen, aber sie lächelt dabei. Ein bisschen. Er mag dieses Lächeln. Er streckt einen Arm nach ihr aus und zieht sie zu sich ins Gras.
„Wenn ich zurück bin, fahren wir irgendwo hin. Nur wir zwei. Versprochen.“
„Sehr witzig. Im September sind die Ferien vorbei, willst du mich verarschen?“ Sie rückt von ihm ab und setzt sich wieder auf. Sie schlingt die Arme um die Beine, legt das Kinn auf die Knie und schließt die Augen. Wiegt sich hin und her. Jetzt lächelt sie nicht mehr.
„Weißt du, Michl … irgendwie ... ach, vergiss es … so ein Scheißabend!“ Sie zupft am Boden herum, reißt Grasbüschel aus, als könne sie darunter was Tolles finden, vielleicht die richtigen Worte.
„Wirklich, Michl, manchmal denk ich mir … also wenn’s dich einmal wo runterhaut … so richtig mein ich, und … und du …“ Ihre Stimme wird leiser. „Ich glaub, dann wärst du auch nicht weiter weg.“
„Was soll denn das, Kathi, ich bin doch da.“
„Ja, toll. Und in drei Stunden sitzt du im Zug. Bist acht Wochen weg. Sag mal, machst du dich lustig über mich?“ Sie schnieft und fährt sich mit der Hand über die Augen.
„Kathi? Sag bloß, du weinst.“ Michl kniet sich vor sie hin und legt die Hände an ihre Wangen, so sanft, als wären sie zerbrechliches Porzellan. Er schaut ihr in die Augen.
„Kathi, du weißt, wie sehr ich dich mag … Kathi, das weißt du doch.“
„Ja, weiß ich eh …“, schluchzt sie. „Aber in Wirklichkeit ist dir dein blödes Klettern so viel wichtiger. Wichtiger als alles andere.“
Sie lässt den Kopf auf seine Schulter sinken und er nimmt sie in die Arme. Jetzt weint sie richtig. Sie klammert sich an ihn und er spürt, wie ihr Körper bebt und ihre Tränen seinen Rücken hinabrinnen. Michl starrt in den Park und weiß nicht, was er sagen soll. Sie weiß doch, dass er sie liebt. Er schaut in das steinerne Antlitz Anton Bruckners, als könne er darin die richtigen Worte finden. Ausgerechnet Bruckner, dieser unglückliche Tropf, denkt er, dieser gottbegnadete Trottel, wie ihn Gustav Mahler angeblich nannte, weil er gleichermaßen beeindruckt war von Bruckners musikalischem Genie und dessen Tölpelhaftigkeit im Umgang mit Frauen. Womöglich gäbe es gar keine herzzerreißenden Kunstwerke, denkt Michl, würden manche Künstler nicht so grausam leiden. Er streichelt Kathis Rücken und weiß noch immer nicht, was er sagen soll.
„Drei Wochen Griechenland, meine Güte. Als würde ich weiß Gott was verlangen. Die blöden Berge rennen dir doch nicht davon. Ich glaub’s einfach nicht.“ Kathi löst sich aus seinen Armen und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Du bist so ein Sturschädel, ein herzloser, wirklich.“
„Kathi, ich ...“
„Ein verdammter Egoist bist du.“
Sie steht auf und atmet tief durch.
„Kathi? Ich hab' noch zwei Stunden bis zum Zug, wir könnten ...“
„Vergiss es, Michl. Vergiss es einfach. Bitte. Ich geh jetzt nach Hause und ruf den Florian an. Passt auf euch auf … mach’s gut, Michl.“
Sie küsst ihn nicht einmal zum Abschied, dreht sich einfach um und geht davon und schaut kein einziges Mal zurück. Michl beißt sich auf die Lippe. Zieht Rotz die Nase hoch und blinzelt. Bei der Uraufführung von La Sonnambula sollen Publikum und Sänger von der Musik zu Tränen gerührt gewesen sein, hat er irgendwo einmal gelesen und daran muss er denken, während er Kathi nachblickt. Das muss man sich einmal vorstellen, ein ganzes Opernhaus, erfüllt von hundertstimmigem Schluchzen, verrückt. Er schluckt und fährt sich mit den Händen durch die Haare. Die geht wirklich! Von hinten sieht sie aus wie ein blonder, strubbelhaariger Junge. Oh Mann, sein Mädchen! Sein schlankes, wunderschönes Mädchen.
Er legt sich ins Gras und starrt in den Himmel. Die Luft ist drückend schwül, kein Windhauch regt sich. Das wird heute noch ein ordentliches Gewitter geben, denkt er, fast freut er sich darauf. Wünscht es sich herbei. Jetzt. Stellt sich vor, wie die feine Gesellschaft in Panik ausbricht. All die aufgetakelten Weiber, die dann auf ihren Stöckelschuhen herumtrippeln, kreischend und kichernd wie Schulmädchen. Und diese Arschlöcher werden ihre Sakkos ausziehen und über Frauenschultern legen, edelmütig, beflissen, und nach Taxis winken, diese Helden. Zum Kotzen.
Scheiß doch drauf. Scheiß auf diese Spießer. Übermorgen ist er in Chamonix und sobald das Wetter passt mit Sylvio in der Jorasses-Nordwand, also was soll’s. In der Cassin am Walkerpfeiler, wenn alles gut geht, oder gar in der Colton-McIntyre. Mit neunzehn, Wahnsinn. Ein aufregender Sommer liegt vor ihm, sein ganzes Leben liegt vor ihm. Er rollt sich auf den Bauch und schnappt sich das Bier. Wird er besser schlafen können im Zug.
Norma und Adalgisa beschwören ihre Freundschaft, Adalgisa verspricht, sich um die beiden Kinder Normas zu kümmern, ein wunderschönes Duett. Trotz der Hitze stellen sich die Härchen auf Michls Unterarmen auf. Wie heißen die zwei Kinder nochmal, haben die überhaupt Namen? Er kann sich nicht erinnern. Er streckt sich nach der Tasche und zieht sie von Bruckners Zeigefinger, müssten noch ein paar Bier drin sein, Kathi wollte ja keines. Das Bier ist mittlerweile lauwarm, aber das ist ihm egal. Vorsichtig reißt er eine Dose auf.
Was zum Teufel soll er auf Ios? Mit dieser Bande von Langeweilern. Tagelang am Strand herumliegen und Softball spielen? Mit Florian? Toll. Und bei der allabendlichen Strandparty gibt’s Musik von Modern Talking und ABBA.
Er verstand nie so recht, was Kathi an diesen Strebern findet, wirklich erklären konnte sie es ihm auch nicht. Sind halt meine Freunde, schon immer, seit der Volksschule, sagt sie. Die Sabine mit ihrem eigenen Scheißreitpferd in Altlengbach und der Florian mit seiner Föhnfrisur und den Cashmere-Pullovern und den handgenähten College-Schuhen. Dessen aufregendstes Abenteuer bisher war, hinter dem Magic im Volksgarten an einem Joint zu ziehen. Und dessen größte Heldentat im zukünftigen Leben darin bestehen wird, die Immobilien seines Vaters zu erben. Ein richtiger Held. Diese ganze Bande von Neunzehnjährigen, die sich benehmen wie Vierzigjährige, so vorhersehbar, so besonnen, so erbärmlich hedonistisch. Und alle studieren sie Jura oder Betriebswirtschaft, was sonst. Richtige kleine Scheißerwachsene. Richtige Arschlöcher.
Die passt doch gar nicht zu denen. Er kennt sie doch, er weiß, dass sie anders ist. Als er sie im Frühling auf den Sonnblick mitschleppte, war sie hingerissen, da fühlte sie doch diesen Zauber. Er öffnet die nächste Dose und die schäumt wie verrückt. Natürlich jammerte sie, weil es so anstrengend war. Aber es gefiel ihr, das spürte er, das bildete er sich doch nicht ein.
Ist er ein Scheißegoist? Oder einfach nur ein Idiot, der nicht erkennt, dass Kathi sein Wunder ist? Das wirkliche Abenteuer seines Lebens. Und der dieses Wunder nicht festhält und vorübergehen lässt? Sylvio hätte sicher eine passende Antwort parat. Kiss or kill. Irgendsowas.
Er ist aufgekratzt und einigermaßen betrunken, als er zu Hause das notwendige Zeugs zusammensucht. Er wühlt in der Kiste mit dem ausgemusterten Kletterzeug, lauter altes Klumpert, aber er braucht ja nicht viel. Seil, Gurt, Abseilachter. Eine Steigklemme wäre nicht schlecht, aber seine ganze Ausrüstung ist längst bei Sylvio. Pfeif auf die Steigklemme, denkt er, geht sich locker aus bis runter, ist keine dreißig Meter hoch, die Hausmauer, und aus der Baugrube kommt er raus wie nix!
Er stopft die Lacksprühdosen und den Walkman in den Umhängebeutel. Und natürlich ein Dose Bier und Tabak. Die wirklich wichtigen Dinge eben. Dann durchsucht er seine Musikkassetten. So eine Aktion verlangt nach einem angemessen Soundtrack, denkt er in seinem Dusel und sieht dabei irgendeine Filmszene vor sich.
Black Flag ist perfekt beim Aufstieg auf den Baukran und beim Abseilen vom Kranausleger aufs Dach. Und dann, wenn er sich in die Hauswand seilt und sich ans Werk macht? Noch einmal Norma mit der Callas? Nein, die Tannhäuser-Ouvertüre, noch besser. So malt er sich das aus. Das ist sein Plan, alles andere wird sich schon ergeben, weil, ganz einfach, er ist neunzehn und unverwundbar und unsterblich, das ist sein Mantra. Das wird schon gehen irgendwie.
Das Material ging ihnen aus bei ihrem haarsträubenden Rückzug vom Crozpfeiler, runtergeflogen sei ihnen auch einiges, schon vorher, beim Herumgemurkse in dem verdammten Sturm, ja, das erzählten ihm Max und Sylvio, als sie ihm damals das ausgeborgte Zeug zurückbrachten, irgendwann im März war das. Und dass sie eben Stück für Stück von Michls Seil absäbelten, weil sie Schlingen für die Abseilstellen brauchten. Es war das ältere von den beiden, die sie mithatten, Pech gehabt. Hatten sie eine Wahl? Und ja, sie schafften es bis zum Wandfuß und im Schneesturm über den Gletscher rüber zur Leschauxhütte, alle Achtung, keine Gefangenen, keine Verletzten. Zurück in Wien war ihr Leben um eine schauerliche Legende reicher, auch wenn sie nach wenigen Wochen nicht mehr von den elendigen Strapazen sprachen, sondern nur noch vom grandiosen Scheitern, aber im nächsten Winter garantiert, wollen wir wetten? … Und Michls Seil ist seit damals eben ein bisschen kürzer. Tolle Geschichte.
Dass es mindestens zehn Meter sind, die fehlen, sagten sie ihm nicht, und Michl kam nie auf die Idee, nachzumessen, wozu auch, die zwei sind seine besten Kumpel und das Seil war sowieso zum Weghauen. Und jetzt hängt er da wie der allerletzte Idiot, in der Hitze der Nacht, an einer fensterlosen Nordwand mitten in der Stadt, was für ein Witz!
„He, Sie da oben! … Was machen Sie da?“
Michl zieht die Kopfhörer von den Ohren. Am Rande der Baugrube sieht er einen Mann mit einem Dackel an der Leine. Beide starren zu ihm hoch. Der Dackel kläfft.
„Ich, äh … alles in Ordnung … gehen Sie weg!“, ruft er in die Tiefe und wischt sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirne, aus den Augen, vom Nacken. Er hat noch nie so eine heiße Nacht in dieser Stadt erlebt.
Hau einfach ab. Bitte, bitte, flüstert er. Und renn um Himmelswillen nicht zur Polizei, du alter Zausel, tu einfach so, als hättest du mich nicht gesehen. Bitte. Ein paar Augenblicke noch sieht er den Alten zu ihm hochstarren, dann zeigt ihm der den Vogel, dreht sich kopfschüttelnd um und verschwindet.
Die schwarze Wolkenwand rückt näher. Erste Böen fegen über die Dächer, immer öfter zucken nun auch Blitze und Michl zählt die Sekunden bis zum Donner.
Er starrt hinab in die Baugrube. Und jetzt?
Irgendwo da unten, fünfzehn Meter unter ihm, pendeln die Enden des Seils, ein gutes Stück über dem Kellerfundament des Rohbaus, vier oder fünf Meter, so genau kann er das im Dunkeln nicht sehen. Ist auch egal, so oder so ist es zu kurz, das verfluchte Seil. Und die letzten Meter kann er unmöglich abspringen, der Boden gleicht einem Wald aus Betonrippenstahl. Erst letzte Woche stand was in der Zeitung von einem Typen, der auf einer Baustelle in die Bewehrungseisen flog, ein Obdachloser. Der wollte nur zu seinem gewohnten Schlafplatz. Lag dann die ganze Nacht da und konnte sich nicht rühren, war aufgespießt wie ein Käfer, gehört hat ihn niemand. Armes Schwein.
Michl spürt die ersten Regentropfen. Das Gewitter fehlt ihm jetzt gerade noch.
Die Vorstellung, die Nacht hier zu verbringen, ist grotesk. Er hängt schon viel zu lange im Sitzgurt und seine Beine kribbeln und fühlen sich taub an. Und noch mehr quält ihn die Vision des lächerlichen Bildes, das Kathi morgen Früh beim Blick aus ihrem Fenster sähe. Er darf gar nicht daran denken. Bliebe nicht viel übrig von seiner tollen Überraschung. Nur ein Versagen, ein peinlicher Witz. Jämmerlich. Schön langsam dämmert Michl, dass sein toller Plan gehörig schiefgeht.
Was würde Sylvio jetzt tun, fragt er sich. Wenn’s einem wo nicht taugt, muss man woanders hin, würde der sagen, wenn man nicht weiter raufkommt, muss man wieder runter, und wenn’s nicht mehr runter geht, muss man halt rauf. Keine halben Sachen, keine Gefangenen. So was würde Sylvio sagen und dabei lachen. Kiss or kill.
Runter kommt Michl nicht, also muss er zurück aufs Dach, ganz einfach. Scheiß auf die Sicherung, er hat schon wildere Sachen geliefert. Kurzentschlossen packt er die zwei Seilstränge, zieht sich hoch und entlastet so den Abseilachter. Mit der linken Hand greift er nach dem Karabiner und löst ihn vom Sitzgurt. Jetzt hängt er nur noch an den Armen und genau in diesem Augenblick öffnet der Himmel endgültig die Schleusen. Als hätte er darauf gewartet. Na und, sind höchstens acht Meter, ein Kinderspiel, zwanzig Klimmzüge und er ist oben. Er stellt sich Sylvio vor, wenn der an einer heiklen Stelle, weit über der letzten Sicherung, sich selber Mut macht und seinen Lieblingssong zu singen beginnt, atemlos und mit zusammengebissenen Zähnen:
It’s one thing to hold a hammer in your hand
But do you have it in you, can you pound that nail?
So many of you line up, but so few of you cross the line.
Talk is talk, kill is kill.
Das ist Sylvios Mantra.
Hand über Hand zieht sich Michl hoch. Er schrammt mit den Knien an der Hausmauer, haut sich am Verputz die Fingerknöchel blutig und auf der Stelle wäscht das herabstürzende Wasser das Blut wieder ab. Ein reinigendes Gewitter. So muss sich ein Lachs fühlen, der einen Wasserfall erklimmt. Michl fühlt sich großartig. Dann ist er oben. Mittlerweile hagelt es.
„Sylvio, das glaubst mir nie!“, brüllt er in den Donner. Er streckt die rechte Hand zur Dachkante und findet an einem Blechfalz einen guten Griff. Dann schwingt er das rechte Bein hoch, hakt den Fuß über die Kante und lässt mit der Linken das Seil los, um nachzugreifen. Er tastet nach einem Halt, findet einen, will zupacken und rutscht ab.
Michl öffnet die Augen und schaut in einen dunkelblauen Himmel. Er friert. Er fühlt sich wie ein Stein, eisig und erstarrt, wie ein Stück vom Berg. Ob Sylvio auch so kalt ist?
Der Morgen graut, es ist die Stunde vor dem Sonnenaufgang. Die kälteste und längste Stunde beim Biwakieren, die grausamste und die schönste. Michl ist müde, aber er zwingt sich, wach zu bleiben und die Augen offen zu halten. Er will dem Himmel zuschauen und keinen Moment versäumen. Er will dem magischen Farbenspiel zuschauen, dem Verschwinden der Sterne. Er will das Morgenlicht beobachten, wenn es im Osten über die Gratlinie hochschwebt. Mandarinenrot nennt Sylvio diese Himmelsfarbe, manchmal sagt er auch goldfischig dazu, oder flamingoarschrosa, dem fällt immer was ein.
Die Felswand über ihnen liegt noch im Dunkeln, aber lang kann es nicht mehr dauern und der Granit wird aufleuchten, angezündet von der Sonne, und er wird zusehen, wie das Licht und die Wärme den Fels herunterwandern. Glühende Goldfische, die ihm entgegenschwimmen. Die Eisrinnen werden Blitze schleudern und dann, wenn ihn die Sonnenstrahlen erreicht haben und seine tauben Finger warm geworden sind, wird er sich eine Zigarette drehen und den Walkman aus dem Rucksack kramen und dann …
Er reißt die Augen auf. Er schaut in ein Schneegestöber, er sieht keinen Meter weit. Ein Wettersturz, heilige Scheiße, das darf‘s doch nicht geben! Sylvio? Sylvio, wach auf …
Michl erwacht. Er hat von Schnee geträumt, aber der Himmel ist klar und viel heller als zuvor. Seine Augen fühlen sich seltsam an, irgendwas ist mit seinen Augen. Er bekommt sie kaum auf, als wären sie verklebt. Ist wahrscheinlich nur ... ach was, denkt er, das wird besser werden, wenn die Sonne da ist, gleich muss es so weit sein, so hoch oben wie sie sind, schon fast am Himmelsrand eigentlich … Sie sind weit rauf gekommen gestern, nur noch vier oder fünf Seillängen und sie sind auf dem Gipfel. Auf der Point Walker? Auf der Croz?… Sylvio, wir sind doch an der Jorasses, oder? Dann muss dieser Zacken da drüben der Dent du Géant sein, und gleich wird dahinter … bitte, Sonne, bring endlich deinen Arsch in die Höhe, mir ist so scheißkalt, bitte, Goldfisch, bitte! … das Zauberwort. Ein goldener Lichtfleck erstrahlt am Grat über ihnen, wird größer und rutscht schräg die Felswand herab, ganz langsam … mit zusammengekniffenen Augen sieht er dem Wunder entgegen, ihrem Feuer. Da oben, das müssen schon die Ausstiegsrisse sein, gleich über dieser Schrift. Wir habens wieder mal geschafft, Sylvio. Wir sind so gut wie oben, denkt er und starrt dabei auf große rote Buchstaben. Träumt er? Nein, da steht wirklich was geschrieben. Er verflucht seine Augen, zwingt sie von Buchstabe zu Buchstabe. CHAMONIX … KANN … WARTEN … was soll denn das heißen? Ist das irgendso eine Reklamescheiße? In der Grandes Jorasses-Nordwand? Das gibt’s ja nicht, ist diesen Arschlöchern denn gar nichts mehr heilig? Sylvio, wach auf, das musst dir anschauen, das ist total irre …
Die Sonnenstrahlen erreichen seine Stirne. Ein silbrig glitzernder Lachs, der ihm mitten ins Gesicht springt.
Michl schließt die Augen. Ihm ist kalt. Er ist schrecklich müde.
„Sylvio?“, flüstert er. „Kathi?“
Sein ganzes Leben liegt vor ihm.
(Songtext zitiert aus On the Day von Henry Rollins)