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Novemberglück

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06.02.2002
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Novemberglück

Die überarbeitete Fassung auf Seite Zwei oder hier.


Man kann immer wieder neue Zwischentöne entdecken. Darum mag ich Grau. Es ist eine schöne Farbe, selten beachtet.
Wir sitzen irgendwo auf einer Hügelkuppe, in einem Durcheinander aus spätherbstlicher Dämmerung und Wolkendecke, und der Wind treibt die dunkelgrauen Schwaden weiter durch den grauen Himmel. Wir gehören nicht in diese Welt zwischen Schwarz und Weiß: Es lässt uns frösteln, der Wind greift nach uns. Doch forttragen kann er uns nicht.
„Grau“, sage ich nach einer Weile in den Augenblick hinein.
Keine Antwort.
Wir sind Glücksritter. Gralssucher. Vertriebene. Zumindest glauben wir das. Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Ich drehe den Kopf. Außer Sichtweite. Die Bäume kahlen aus, eine traurige, dunkle Phalanx.
„November“, sagt Tim.
Sonst nichts. Mir wird es zu still, und so tauche ich.
Seit drei Wochen unterwegs. Glücksritter. Gralssucher. Vertriebene. Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Er soll uns helfen, das Glück zu suchen. Vielleicht benutzen wir die falschen Straßen, aber man kann drin schlafen.
„Erotikmesse“, murmelt Tim.
Das Schwarz klärt etwas auf, weil ich die Augen wieder öffne. „Bitte was?“
„Erotikmesse“, wiederholt Tim. Er sitzt eine Armlänge entfernt zu meiner Linken, den Rücken gekrümmt, und hält einen kleinen Zettel.
„Erleben Sie Deutschlands heißeste Erotikbühne in Action!“, liest er vor.
Ich unterdrücke eine spitze Bemerkung. Der Kritiker beißt sich selbst den Kopf ab, das zumindest glaube ich gelernt zu haben, momentan. „Gerolzhofen“, fährt Tim fort, und ich habe Mühe, ihn zu verstehen, denn er spricht leise und gegen den Wind. „Sonntag 13 bis 23 Uhr.“
„Wie spät?“, frage ich und nehme ihm den Zettel weg.
„Fast Fünf.“
„Bei Schweinfurt“, grinse ich.
„Nicht weit. Woll´n wa?“
Verrückte Idee. Kurze Strecke. Erotikbühne.
„Jau“, antworte ich träge, ins Graue hinein. Mühsam stehen wir auf, schütteln uns die Wolken aus den lahmen Beinen und gehen Richtung Wald.

Wir fahren Landstraße. Der Tag stirbt mit Würde, während hinter dem abgerundeten Panorama fränkischer Provinz die Sonne verleuchtet. Die tiefhängende graue Wolkenschicht hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite.
Nach einer knappen Stunde Fahrt haben wir endlich kleine orangefarbene Schildchen entdeckt, die uns den Weg zur „Eroticmesse“ weisen.
Die „Eventhalle Gerolzhofen“ liegt etwas schüchtern mitten im örtlichen Gewerbegebiet. Eine seelenlose Dorfhalle mit der Aufschrift: „Geodrom“.
Wir finden zuerst keinen Parkplatz, und der Mann am Einlass erkennt unsere gefälschten Presseausweise nicht an. Ich will diskutieren, doch er verschanzt sich hinter Bierbauch und Dialekt.
15 Euro Eintritt für Abriss 74370. Wir ahnen, dass das Glück hier nicht zu finden sein wird, aber wir haben den Begriff weit gestreckt und mit allem möglichen angefüllt. Herleiten lässt sich eh alles.
Drei Wochen Irrfahrt im Toyota. Wir wären nicht immer noch unterwegs, wäre nicht der Weg zum Ziel verkommen. Das wissen wir beide. Und da wir nicht wissen, was wir suchen sollen, sind wir hier, inmitten unter kleingewachsenen, ergrauenden Maulwürfen, jungen Kerlen mit möglichst desinteressiertem Gesicht und vereinzelten Pärchen, fest umherschlendernd.
Zwei hübsche Frauen tanzen etwas routiniert an Stäben. Davor sitzen Leute und trinken Bier für vier Euro. Die Musik bricht ab. „Micha in den Tablebereich, Micha in den Tablebereich“, sagt eine nervöse Frauenstimme durch. Die Tänzerinnen wollen sich nichts anmerken lassen. Eine weitere Durchsage.
Die Mädchen an den Stäben erscheinen etwas unmotiviert. Vielleicht wegen der Störung. Wir gehen weiter.

Schönheit kommt aus der Parfümerie.
Eine alte Frau in weißem Netzteil, gelangweilt, vor ihr:
Loveset für Ihn: 20 Euro. Loveset für Sie: 20 Euro. 5 Euro Gutschrift beim Kauf von zwei Überraschungspaketen Er/Sie. Kleingedruckt: Keine Barauszahlung.
Unterwäsche, jede Menge, alle Farben.
Dildos, jede Größe, alle Extras.
Wollt ihr euch vielleicht ´n Tattoo oder ´n Piercing stechen lassen?
Tantramassage 50 Euro.
Sie suchen ein öl- und fettfreies, geschmacks- und geruchsneutrales Massage und Gleitmittel. Besuchen Sie uns im Internet!
Pizza Spezial für vier Euro. Wir tun viel Tabasco drauf, es schmeckt uns gut.
Eine feminisierte Männerstimme dringt aus den Boxen. Feedback. Stimme. Feedback. Die Show geht los zur vollen Stunde, Hauptbühne.

Die Stimme gehört einer Tunte, und diese wohl zur Show. Sie moderiert, macht billige Scherzchen, hat Probleme mit dem Mikrofon. Kein Feedback aus dem Publikum. Die Transe trägt ein Dirndl, Lackschuhe, eine graue hohe Perücke wie das verkleidete Alien aus „Mars Attacks“. Sie lächelt stur und erzählt plötzlich von den Baptisten, bei denen sie aufwuchs.
Vom Band kommt Gejodel. Die Transe hüpft dazu und singt Playback.
Ich gehe Bier holen.
Wer zu schlecht ist zum Clown wird Tunte, denke ich; irgendwie traurig.
Als ich wiederkomme, präsentieren Schönheiten Mode. Lack zumeist. Es sieht gut aus, aber verdammt, sie zeigen weniger Haut als in Paris.
Es sind mehr Frauen auf der Bühne als im Publikum.
Die Tänzerin vom vorhin präsentiert einen Leopardenmantel über roter Seide und heißt jetzt nicht mehr Cassy, sondern Janine.

Zwischen Strips und Tunte kleinere Pausen.
Wir stehen inzwischen in der ersten Reihe, ist fast wie am Tresen. Ich schaue mich um. Viele geben sich Mühe, wie Zuhälter auszusehen.
Überall sind die Maulwürfe. Sie bilden auch hier die Mehrheit, nicht nur in Kneipen. Verwelkte Männer. Eine ganze Horde von ihnen drängt sich neben uns um die Treppe vor der Bühnenmitte. Überall auf den beiden neben den Stufen stehenden Boxen liegen Fotoapparate. Verschränkte Arme, sie stehen hier schon länger und möchten ihren Platz nicht aufgeben.
„Alles im Griff?“, fragt unser Nebenmann mit hoher Stirn, Allerweltsgesicht und drei verschiedenen Nikons mit Blick auf Tims kleine Kamera. Er wartet keine Antwort ab, sondern wiegt sein gigantisches Objektiv in den Händen. „Ist ja auch nicht viel in der Hand zu halten“, grinst er und verwickelt Tim in ein Fachgespräch über Spiegelreflexe.
„Bist du beruflich hier?“, frage ich.
„Nein, ist nur´n Hobby“, antwortet er und zeigt mir mehrere signierte Fotoalben mit Pornodarstellern, der Feldbusch, Amateurmodellen. Interessierte Blicke von überall.
„Die Fotos sind nicht schlecht“, stelle ich fest und denke:
Prima Wichsvorlage... verdammt, seine Wichsvorlage... Du musst dir nachher die Hände waschen, unbedingt.
„Das ist hier natürlich nichts gegen die Venus in Berlin. Aber ich war gestern auf ´ner Messe in Mannheim und hab gehört, das solle hier ganz gut sein“, referiert der Maulwurf und sammelt mit gelangweiltem Gesicht die Alben wieder ein.
Ich erzähle ihm, wir würden für den „Fränkischen Beobachter“ arbeiten. Murmle etwas Unverständliches von „investigativem Voyeurismus“ und „Gonzojournalismus“.
„Und warum bist du hier?“, frage ich abschließend und nippe zufrieden mit mir selbst an meinem Bier.
„Wegen der Pisse.“
Der Höhepunkt des Abends, die letzte Show, die Tunte hatte sie grad angekündigt. Ich hatte das ganz vergessen, weil sie danach Tim ausfragen wollte, wo er für gewöhnlich hinspritzt.
Eine Pause, in der ich versuche, mein Bier hinunterzuschlucken.
Ganz interessantes Gespräch, denke ich und frage:
„Und... ähm... was machst du beruflich so?“
„Ich bin Koch.“

Sie fahren den Messen hinterher, alleine, um Bilder zu jagen. So wie Jungs früher Paninis gesammelt haben. Um die Traumfrauen auf der Bühne zu besitzen, mutmaße ich, wo man sie schon nicht anfassen darf.
Einige haben den erwartungsfrohen Blick von Kindern. Den Kopf nackt. Es werden immer mehr. Einer von ihnen scheint früher einmal Boxer gewesen zu sein, mutmaße ich. Wenn er es einmal war, hätte ich nichts auf ihn gewettet, so flach ist sein Gesicht.
Die Tunte zieht Vergleiche zu Las Vegas und moderiert den Höhepunkt des Abends an: SM-Klinik Berlin. Wolfsgeheul aus dem Publikum. Gier in den Augen. Rammstein vom Band.
Der Meister hat kurze Haare, trägt schwarze Schlaghosen und erinnert mich an die Loveparade. Die Domina ist zerlaufen wie eine Träne, hat aber das warme Gesicht einer netten Eisverkäuferin von nebenan.
Der Star jedoch ist das Mädchen, das sich zwischen sie hockt und so vorbeugt, dass man nicht viel mehr von ihr sieht als ihr dreifach gepierctes primäres Geschlechtsorgan.
Die Tunte nannte sie Gang-Bang-Steffi. Das Wolfsgeheul schwillt an. Das übliche Vorspiel, „Engel“ und Kerzenwachs. Steffi steht auf und schaut ins nirgendwo. Ihr Gesicht erinnert mich irgendwie an Jenas Plattenbauviertel.
Wäscheklammern in die Brust. Brust durchstechen. Nadeln wieder rauszeihen. Klammern nacheinander mit der Peitsche abschlagen.
Das Surren und Klicken von Kameras. Filme werden gewechselt. Offene Münder. Nur nicht überbelichten. Steffi zuckt immer mehr. Das Blitzlicht schmerzt mir in den Augen.
„Doch nur ein Tier“, schallt aus den Boxen.
Die Domina hat einen Latexhandschuh angezogen, leert eine Gleitmitteltube aus und fistet Steffi. Ich muss an Truthähne und Kuhgeburt denken. An unsere Suche nach dem Glück.
Die schmerzfreie Steffi kriecht zum Bühnenrand, setzt sich auf die obere Treppenstufe und spreizt die Beine.
Blitzlichtgewitter.
Der Meister reicht den Maulwürfen eine Saugpumpe. Der Kreis schließt sich enger, mehr Gedränge. Einige Zuschauer dürfen abwechselnd pumpen, das machen sie mit einer Hand, mit der anderen fotografieren oder filmen sie. Jeder hat jetzt Kameras. Ich verschanze mich hinter meinem Becks. Man hält Fotohandys und Wegwerfapparate über meine Schulter.
„Dein Gesicht ist mir egal“, singt Lindemann.
Der Koch darf fühlen, wie scharf die Nagelkeule ist, mit welcher der Meister über Steffis Haut fährt. Sie ist nahe vorm Höhepunkt. Der Meister zieht sie hoch, lässt sie sich bücken, Arsch zum Publikum, sie wird ausgepeitscht, onaniert dabei.
Dann hockt Gang-Bang-Steffi sich vor die Fotografen, der Meister hält sie fest, sie zuckt mit dem Unterleib. Jeder drängt näher.
Es kommt nicht. Erst nach einer Weile ergießt sich dünnes Getröpfel auf die Bühne. Ich halte mein Bier zu und schaue mich um. Gier. Kameras. Hitze.
Frenetischer Applaus. Steffi hat auf die Bühne gepisst. Ein paar Kameras sind nass geworden.
Rufe nach Zugabe. Die Tunte bedankt sich bei den Künstlern und Ausstellern.

Nachdem wir einige günstige Räucherstäbchen gekauft haben treffen wir Steffi am Nachbarstand wieder. Man kann Filme von ihr kaufen, den 3er Pack für 99 Euro oder DVDs wie „Wild Rape“, Electric Shock“, und „Pee and shit on me“. Ihr Meister lutscht an einem Eishörnchen, die Domina schaut immer noch freundlich umher, und Steffi steht umgeben von Fans vor einem Fernseher und lacht: „Icke, das bin icke!“

„Schade, dass die Fickmaschine heute nicht da war“, sagt jemand am Ausgang. Wir kratzen das Eis vom Toyota. Es hat aufgeklart, über uns nichts als tiefes Schwarz und die ungezählten Sterne, die man nur auf dem Lande sieht.
Tim hat alle restlichen Filme verknipst.
Meine Eier tun weh.
„Ob die Steffi das Glück gefunden hat?“, frage ich ihn.

 

Hi Para!

Wie leider schreibst Du so routiniert, daß ich grade mal zwei mickrige Sätze ankreiden kann ( -> hab schlechte Laune und hätte gerne Frust abgelassen.. narf.
Nun gut, zum Breiessen. Dein Text/Prot fordern Farbe, Zwischentöne, Leben, Optimismus kurz: Glück.
Du gehst kritisch ran und betrittst das Feld ex negatio-> Gefühle versus Plakation, Liebe versus Porno, Sinnlichkeit gegen bloße Befriedigung.
Aufhänger: der rote Toyota ( wenn ich richtig gelesen habe, die einzig ´klare Farbaussage´ ->gut, Du achtest auf Feinheiten ) als Gefährt zum Glück. Eine Reise die zwar angefangen, aber nicht beendet ist. Genau da setzt auch meine mickrige Kritik an: Ich weiß, daß Du offene Enden bevorzugst, aber möchtest Du den Text so definitiv mit Steffis bzw. des Prots Glücksfrage schließen? Willst Du alle Stimmung in einer Frage münden lassen? Kommt mir so vor, als schössest Du mit Kanonen auf Spatzen.

Zu den Sätzen.

[..]als ihr dreifach gepierctes primäres Geschlechtsorgan.[..]
-> Soll Nüchternheit/Rationalität vermitteln? klingt aber platt ( kannst besser schreiben )

[..]Der Kritiker beißt sich selbst den Kopf ab, das zumindest glauben wir gelernt zu haben.[..]
-> Klingt zu auktorial!

Naja, wünsch Dir noch nen schönen Tag,
Leif2

 

Moin Leif der Zweite!
Freut mich sehr, dass du meinen Text gelesen hast. Wenn auch aus schlechter Laune heraus. Will mal hoffen, dass sich dein Gemütszustand inzwischen verbessert hat...
:)

Übrigens bin ich sehr dankbar für deine Kritik. Ich versuch ja auch ständig zu "meckern", alles andere wäre auch selten konstruktiv.
Die beiden Sätze, die dir nicht so gefielen, muss ich noch mal überdenken, mal schaun.
Allerdings hast du Recht mit dem Ende.
Ich möchte eigentlich nicht unbedingt mit der Frage abschließen. Die Geschichte war ein wenig schwer zu schreiben, ich hab drei oder vier Anfänge gehabt, und mit dem Ende ist es nicht grad leichter.
:rolleyes:

Naja, ich hoffe mal, dass es den Leser nicht enttäuscht zurückläßt; für Alternativvorschläge bin ich selbstverständlich dankbar.

Schönen Sonntag wünsch ich dir,
...para

 

Hallo Paranova,

Deine Geschichte vermittelt so eine `Lost Generation´- Stimmung, trotzdem immer wieder der Bezug zum Glück, eine gelungene Kombination. Auch der `Aufhänger´ Sex erweist sich nicht nur als billiger Aufmerksamkeitserreger, schließlich ist so genannte Erotik ein großer Bestandteil der Glücksindustrie.

„Wir gehören nicht in diese Welt zwischen Schwarz und Weiß. Es lässt uns frösteln, der Wind greift nach uns.“
Die Protagonisten haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben- aber ich bezweifle, dass sie nicht schon längst zu dieser Welt gehören.


„Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Er soll uns helfen, das Glück zu suchen. Vielleicht benutzen wir die falschen Straßen, aber man kann drin schlafen.“
Ein schönes Bild für Desillusionierung…


„Wir fahren Landstraße. Der Tag stirbt mit Würde, während hinter dem abgerundeten Panorama fränkischer Provinz die Sonne verleuchtet. Die tiefhängende graue Platte hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite.“
„verleuchtet“ ist zwar unüblich, aber auch passend. Bei „Die tief hängende Platte“ finde ich „Platte“ ungünstig (wegen der Assoziation zu etwas statischem), außerdem klingt „Die“ so, als ob dies schon einmal erwähnt wurde.

Eine treffende Zustandsbeschreibung, mit gesellschaftlichem Hintergrund, an der Tür zum Philosophischen.

Alles Gute,

tschüß… Woltochinon

 

Hallo Wolto!
Es freut mich, von dir zu hören.
Melancholie gehört schon zur Geschichte, "Lost Generation"-Stimmung vielleicht nicht unbedingt.
Es gibt keine Altersangabe über Beteiligte.
Viele Menschen hinterfragen, wie erfüllt ihre Existenz ist.
Klar ist es wahrscheinlich, dass die beiden Hauptpersonen noch recht jung sind.
Aber einer der Hauptaspekte der Geschichte sollte auch das Beschreiben der "Maulwürfe" sein. "verbrauchte Männer", den "Kopf nackt", d.h. schon über Vierzig, gefangen in der Welt der Glücksindustrie (wer ist das nicht, irgendwie?).

„Wir gehören nicht in diese Welt zwischen Schwarz und Weiß. Es lässt uns frösteln, der Wind greift nach uns.“

Sollte ganz simpel heißen:

"Wir sollten hier nicht sitzen, da wir uns den Arsch abfrieren."
Der Herbst ist nicht dazu gedacht, um sich abends an exponierter Stelle nach draußen in die Pampa zu setzen.

Andererseits gehört der "zivilisierte" (d.h. "urbanisierte" ) Mensch nicht mehr nach draußen, sobald es ungemütlich wird. Wir mögen eine Kulturlandschaft erschaffen haben, aber wir leben letztendlich "zivilisiert" in Häusern.

"Die tiefhängende graue Platte hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite.“

Hm, verstehe deine Einwände.
Gedanke dahinter:
Die beiden sitzen anfangs sehr nahe an dieser (Wolken-)Platte.
Von etwas weiter weg (Straße) aus in seiner Gesamtheit betrachtet, kann eine zusammenhängende Wolkenschicht jedoch durchaus "statisch" anmuten.
Außerdem ist "Platte" ganz geeignet, um zu erklären, warum man die Sonne noch am Horizont untergehen sehen kann.

Vielleicht fällt dir was besseres ein, du bist in solchen Sachen ja sehr oft eine große Hilfe...
"Schicht", "Wolkendecke"?

Und wo ich dich grade schon versuche, zu bemühen:
Wie gefiel dir das Ende?

Vielen Dank für deine Kritik,
...para

 

Hallo Paranova,

die von Dir erwähnten Aspekte sind schon deutlich geworden. Ich finde auch, diese Geschichte ist anders, als andere Para-Stories (soweit ich dies rückblickend noch weiß). Was meinst Du?
Die Männer sind ein guter Kontrast zu den beiden Protagonisten, die Jungen scheinen noch Optionen zu haben, bei den Maulwürfen erscheinen die Möglichkeiten (und das Wollen) doch sehr eingeschränkt (was natürlich eine Zuspitzung ist). Für mich sind sie verloren, die anderen sind noch am Suchen…
Zum Schluß: Ich finde die zuletzt gestellte Frage nach dem Glück wichtig, weil sie in melancholischer Weise schon eine weitere Frage impliziert- kann´s das schon gewesen sein, hat das Leben (für uns) nicht mehr zu bieten? Man kann es den Beiden nur wünschen…

Zur „Platte“ - „Wolkendecke“ ist ziemlich bekannt, eher: `das tief hängende´ Grau, oder `Der tief hängende graue Dunst(schleier).

Take care,

tschüß… Woltochinon

 

Sooo, ich noch mal.
Geschichte editiert.

Hey Leif,
Satz eins bleibt stehen. Soll eine gewisse Befremdung des Prot ausdrücken, und wenn ich ehrlich bin, gefällt er mir.
:rolleyes: :D.

Geschrieben von Woltochinon: Ich finde auch, diese Geschichte ist anders, als andere Para-Stories (soweit ich dies rückblickend noch weiß). Was meinst Du?
:hmm:
Ich weiß es nicht genau, ich versuch ja immer, ein wenig abzuwechseln.
Ich denke schon, dass es eher in die Linie der "Freakgeschichten" geht, in denen die Charaktere ja irgendetwas suchen, ob z.B. die universelle Weisheit (Erkenntnishascher) oder Richtig große Schwänze.
Ach ja, Wetterbericht: die "Platte" ist weg, dafür zieht eine Wolkenschicht auf.

Wünsche euch das Beste,
...para

 

Dein Protagonist, Paranova, ist nicht ehrlich, weil du nicht ehrlich bist. Will sagen, ich nehme ihn dir nicht ab, denn du beschreibst ihn als Außenstehenden, als einen, der über den Dingen steht, der von oben herab und kühl dem Treiben der anderen zusieht.

Das fängt schon damit an, dass nicht er, sondern sein Freund die Idee hat, die Erotikmesse zu besuchen, nach dem Motto, er wäre von selbst nicht darauf gekommen, wäre nicht zufällig November und nichts zu tun, nie würde er zu so einer „verrückten Idee“ ja sagen.

Und das setzt sich fort mit der Beschreibung der Messe, der Gier der Männer, das Geschäftsmäßige der Geschäftemacher, alles im Stile eines Journalisten, den die Redaktion dort hin geschickt hat – einer muss es ja machen.

Dabei ist dein Protagonist, Paranova, einer von diesen Männern, von dir Maulwürfe genannt, er tut nur so als ob er das Ganze distanziert beobachten würde, in Wirklichkeit aber schiebt er mit, denn in die erste Reihe zu kommen ist nicht leicht – ich weiß, wovon ich spreche.

Und auch dafür muss sein Freund herhalten, weil er kein Tele an seiner Kamera hat, auch um ins Gespräch zu kommen ist er gut, und an die Wichsvorlage - natürlich wird dein Protagonist sich hinterher die Hände waschen, igittigitt, wie kann man bloß.

Es ist wirklich schade um deine Geschichte, Paranova, denn du schreibst gut, fängst gut die Stimmung, Akteure, Menschen ein, und ja, ab und zu bist du auch ehrlich, ein, zwei Sätze nur, davon auch der beste und die ganze Lüge entlarvende „Meine Eier tun weh.“

Doch das ist zuwenig. Leider.

Dion

 

Hallo Dion,
mich freut zwar, dass der Text einen dritten Kritiker gefunden hat, aber ich kann deinen Kritikpunkten nicht immer zustimmen.

Du schließt kathegorisch das Verhalten des Protagonisten als "unehrlich" aus, setzt -ein wenig übereifrig, wage ich zu behaupten, mich mit dem lyrischen Ich gleich.
Von einer "verrückten Idee" ist im Text nicht die Rede, vielleicht ist das aber auch missverständlich formuliert, werd mal schaun, ob ich den "Kritiker-satz" streiche, hat Leif2 auch nicht gefallen.
Dass sich der Prot teilweise wie ein "Journalist" verhält, um eine gewisse Distanz wahren oder zumindest vorzugaukeln, wird von dir kritisiert, allerdings kann ich nicht erkennen, wie daraus ein Negativpunkt in der Geschichte werden soll.
Wahrscheinlich, weil du das Verhalten des Prots nicht nachvollziehen kannst - was natürlich in Ordnung ist.
Aber ich werde ihn nicht mit der Zunge hecheln lassen, nur weil das zu erwartendes Verhalten wäre.
Schöne Feiertage,
...para

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi para,

ich hoffe, dass dies die Geschichte ist, die ich schon seit ewig lesen sollte und wollte.

Ich habe einige Sprachhighlights gefunden, aber auch einige in meinen Ohren schiefe Bilder:

- in einem Durcheinander aus spätherbstlicher Dämmerung und Wolkendecke -> gut
- Die Bäume kahlen aus, eine traurige, dunkle Phalanx. -> gut
- Mir wird es zu still, und so tauche ich. -> leicht schief, gemeint ist eintauchen in Gedanken, denke ich, aber ich stutzte.
- Vielleicht benutzen wir die falschen Straßen, aber man kann drin schlafen. -> klar was gemeint ist, aber der Bezug ist trotzdem nicht richtig. Und warum die Wiederholung mit dem Toyota?
- Das Schwarz klärt etwas auf, weil ich die Augen wieder öffne. -> gut, denn aufklärendes Schwarz ist jedenfalls keine Helligkeit, passt also ins graue Bild
- Der Kritiker beißt sich selbst den Kopf ab, das zumindest glaube ich gelernt zu haben, momentan. -> verstehe ich nicht. Und wieso momentan?
- Mühsam stehen wir auf, schütteln uns die Wolken aus den lahmen Beinen -> gut, weil Wolken etwas zähes, langsames sind
- Der Tag stirbt mit Würde, während hinter dem abgerundeten Panorama fränkischer Provinz die Sonne verleuchtet. -> "verleuchtet" gefällt mir nicht. "Verlischt" wäre eigentlich auch nicht richtig. "Versinkt" wäre das Standardwort, welches Du scheinbar vermeiden wolltest.
- Die tiefhängende graue Wolkenschicht hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite. -> ganz gut, obwohl mir die Personifizierung der Sonne für den Gesamtstil der Geschichte fast albern daherkommt.
- Ich will diskutieren, doch er verschanzt sich hinter Bierbauch und Dialekt. -> gut!
- sind wir hier, inmitten unter kleingewachsenen, ergrauenden Maulwürfen -> "mitten unten" oder "inmitten" ohne unter, denke ich. Die Maulwürfe gefallen mir gut.
- , fest umherschlendernd. -> unklarer Bezug: Sind es die Pärchen, die umher schlendern oder die Hauptfiguren?
- Zwei hübsche Frauen tanzen etwas routiniert an Stäben. -> gut
- Sie suchen ein öl- und fettfreies, geschmacks- und geruchsneutrales Massage und Gleitmittel. Besuchen Sie uns im Internet! -> diese und die anderen Werbezitate sind überaus witzig.
- Pizza Spezial für vier Euro. Wir tun viel Tabasco drauf, es schmeckt uns gut. -> :lol:
- Es sind mehr Frauen auf der Bühne als im Publikum. -> ist klar, hätte ich mir pointierter ausgedrückt gewünscht.
- Du musst dir nachher die Hände waschen, unbedingt. -> wäre für mich nur logisch, wenn er dem Mann die Hand geschüttelt oder ihn sonstwie berührt hat, wird aber nicht beschrieben.
- Ich hatte das ganz vergessen, weil sie danach Tim ausfragen wollte, wo er für gewöhnlich hinspritzt. -> sie? Die Tunte? Verstehe ich nicht, hab ich was nicht mitgekriegt?
- Die Domina ist zerlaufen wie eine Träne, hat aber das warme Gesicht einer netten Eisverkäuferin von nebenan. -> wunderbar!
- so vorbeugt, dass man nicht viel mehr von ihr sieht als ihr dreifach gepierctes primäres Geschlechtsorgan. -> hm, wenn sie sich vorbeugt sieht man ihr Geschlechtsorgan? Hm. Hält sie dem Publikum den Po entgegen? Dann ist "vor"beugen etwas missverständlich.
- Die Tunte nannte sie Gang-Bang-Steffi. -> nannte? Imperfekt? Wenn Du die Ansage von vorher meinst, müsste es Perfekt sein, oder?
- Ich muss an Truthähne und Kuhgeburt denken. An unsere Suche nach dem Glück. -> gut!
Offener Schluss auch, gefällt mir.
Zum inhaltlichen Teil: Klingt wie ein Erlebnisbericht. Und das ist ein Lob, denn ohne erhobenen Zeigefinger werden hier Verhältnisse aufgezeigt, die man verurteilen kann oder auch nicht - was ist gegen die vielen Fotos einzuwenden, da Voyeurismus doch genau der Sinn der Veranstaltung sind? Die Fragen nach der Existenzberechtigung der Pornografie an sich, nach den fast immer mit bemitleidenden Seitenblicken bedachten Konsumenten von Pornografie, nach dem Konsum von Pornografie und Erotik als Ware, sie werden gestellt und nicht beantwortet, denn die Antwort muss jeder selbst für sich finden, da ein gesellschaftlicher Konsens weder erreichbar noch das Streben danach sinnvoll erscheint.
Insofern also ein wichtiger Beitrag für Leser, die sich aufgrund dieses Textes vielleicht selbst gewissen Fragen stellen. "Wie schlimm ist es eigentlich, dass ich Bildchen aus dem Internet als Wichsvorlage verwende?" Oder: "Gäbe es mehr Vergewaltigungen oder mehr Liebe in der Ehe, wenn Pornografie in die Illegalität gedrängt werden würde?"
Rein wissenschaftlich betrachtet ist Sex gut für die Hormone und für das körperliche Wohlbefinden. Wer aus irgendeinem Grund keinen dazu geeigneten Partner hat, braucht Ersatzbefriedigung. Die nächste Frage wäre die nach den Grenzen - Geschmack ist Geschmackssache, für einige dürften beim Geschehen in dieser Geschichte bereits Grenzen überschritten worden sein. Die anderen Grenzen - die zur Kinderpornografie zum Beispiel - werden in dieser Geschichte nicht thematisiert, aber sie regt den einen oder anderen vielleicht zum Nachdenken darüber an.
Für die Hauptfiguren ist die Erotikmesse eine Flucht aus dem im wahrsten Sinne des Wortes grauen Alltag, eine Abzweigung vom Weg der Suche (der das Ziel ist), allerdings keine Offenbarung für den weiteren Weg. Aus Grau ist allerdings Schwarz geworden, was im Grunde eine Wertung darstellen könnte; und das persönliche Schicksal der Pornodarstellerin wird am Ende ins Zentrum gerückt, und der Leser damit alleine gelassen.

Fazit: sprachlich über weite Strecken sehr gut, inhaltlich wichtiges Thema ohne erhobenen Zeigefinger treffend dargestellt.
:thumbsup:

Uwe
:cool:

EDIT: Ergänzung nach der Lektüre der anderen Kritiken:
@Dion: Nicht *alle* Männer sind wie die Maulwürfe. Da gibt es wie in fast jedem Fall eine Skala von 0 (asexuell) bis 100 (immergeil). Ich finde es völlig in Ordnung, dass der Protagonist auf dieser Skala ein ganzes Stück unter dem oberen Ende liegt. Ich habe mich daran jedenfalls nicht gestoßen. Der Autor hat absichtlich keine Hauptfigur gewählt, die nur ein Teil der Masse ist. Natürlich hätte man das tun können, aber es wäre eine andere Geschichte.

Was das Ende angeht: Ich finde es nicht so melancholisch. Vielleicht, weil mich weniger die romantischen Sterne, als eher den schwarzen Himmel und das kalte Eis beeindruckt haben.
Das mit dem roten Toyota als einzigen Farbtupfer hatte ich ehrlich gesagt gar nicht so sehr bemerkt, aber in der Tat funktioniert er, gleichzusetzen mit dem Weg und der Suche nach Sinn, Wärme, was auch immer, als Hoffnungsträger. Wenn auch nicht explizit geschrieben, wird am Ende durchaus für mich klar, dass der Weg nicht zuende ist, und es wäre auch nicht passend.

 

Holla,
Uwe, deine ausführliche Kritik freut mich sehr. Da du ein ganze Reihe Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigst, werde ich mich auf jeden Fall noch mal über die Geschichte hermachen, allerdings wird das (mal wieder... :rolleyes: ) ´ne ganze Ecke dauern, da Klausuren vor der Tür stehen.
Aber schon mal fettes merci!
:thumbsup:

...para, der Hörsälige.

 

Schon klar, Uwe, nicht alle Männer sind Maulwürfe, aber der Protagonist ist einer, behauptet allerdings das Gegenteil. Will sagen, da ist eine Diskrepanz zwischen seinem Tun und seinem Reden, okay, er kann sich auch selbst in die Tasche lügen, aber dann müsste das durchgängig gemacht werden, er dürfte zum Beispiel nie zugeben oder bemerken, dass ihm nach Ende der Veranstaltung die Eier weh tun, weil das Indiz dafür ist, dass er vom ganzen Geschehen doch angetörnt wurde, was er aber die ganze Zeit durch seine Aussagen bestreitet – nur die anderen sind geil, nur die anderen wollen sehen, etc.

Dion

 

Dass ihm die Eier weh tun, ist aber auch das einzige Indiz, und ich finde es nicht völlig eindeutig.
Ich gebe allerdings zu, dass man es weglassen könnte, um vollkommen deutlich zu machen, dass der Prot eben kein "Maulwurf" ist.

 

[...] Das "Es" ist der Teil des Psychismus, der den Entwicklungsstufen des Subjekts nicht folgt, sondern nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung verlangt. Es bildet damit den Gegenpol zum "Überich". [...]

 

Einigen wir uns also darauf, dass der Prot seine Triebe am besten unter Kontrolle hat?

 

Sonst wäre er nicht fähig, eine gewisse Distanz zum Geschehen zu wahren, die er ja auch offensichtlich wahren möchte - "Ich verschanze mich hinter meinem Becks." u.a.
Andererseits ist er nicht asexuell.

 

Hallo Paranova,
hallo Uwe,

ein letztes Mal will ich hier versuchen, meinen Standpunkt deutlich zu machen: mir missfällt die Art der Berichterstattung, die in dieser Geschichte angewandt wird, um die Distanz des Protagonisten zum Gegenstand der Geschichte, deren Teil er gleichzeitig ist, deutlich zu machen.

Was in einer Zeitung durchaus statthaft sein kann – weil der Berichtende meist gar nicht als Person oder als Protagonist in Erscheinung tritt -, führt in einer Geschichte mit einem in der ersten Person berichtenden Protagonisten solche Vorgehensweise fast zwangsläufig zur Glaubwürdigkeitsdilemma – er ist nur ein Mensch und als solcher hat er Gefühle, es kann ihn gar nicht alles kalt lassen, was da vor sich geht, tut er aber dennoch so, als ob es ihn nichts anginge, nehme ich ihm das nicht ab. Das ist alles, Konkretes dazu gibt es in meinem ersten Beitrag.

Dion

 

Okay, Du nimmst es ihm nicht ab. Ich nehme es ihm ab.
Dann haben wir das jetzt klar gestellt.

 
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Novemberglück - Überarbeitung

Man kann immer wieder neue Zwischentöne entdecken. Darum mag ich Grau. Es ist eine schöne Farbe, selten beachtet. Wir sitzen irgendwo auf einer Hügelkuppe, in einem Durcheinander aus spätherbstlicher Dämmerung und Wolkendecke, und der Wind treibt die dunklen Schwaden weiter durch den fahlen Himmel. Wir gehören nicht in diese Welt zwischen Schwarz und Weiß: Es lässt uns frösteln, der Wind greift nach uns. Doch forttragen kann er uns nicht.
„Grau“, sage ich nach einer Weile in den Augenblick hinein.
Keine Antwort.
Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Ich drehe den Kopf. Außer Sichtweite. Die Bäume kahlen aus, eine traurige, dunkle Phalanx.
„November“, sagt Tim.
Sonst nichts.
Vielleicht deshalb, weil wir seit drei Wochen unterwegs sind: Glücksritter, Gralssucher, Vertriebene. Zumindest glauben wir das. Unser roter Toyota, hinter uns: Er soll uns helfen, das Glück zu suchen. Vielleicht benutzen wir die falschen Straßen, aber man kann drin schlafen.
„Erotikmesse“, murmelt Tim.
Das Schwarz klärt etwas auf, weil ich die Augen wieder öffne. „Bitte was?“
„Erotikmesse“, wiederholt Tim. Er sitzt eine Armlänge entfernt zu meiner Linken, den Rücken gekrümmt, und hält einen kleinen Zettel.
„Erleben Sie Deutschlands heißeste Erotikbühne in Action!“, liest er vor.
Ich schweige, denn im Grunde ist alles gesagt – auch deshalb die Reise: Wir halten uns für gute Zuhörer.
„Gerolzhofen“, fährt Tim fort, und ich habe Mühe, ihn zu verstehen, denn er spricht leise und gegen den Wind. „Sonntag 13 bis 23 Uhr.“
„Wie spät?“, frage ich und nehme ihm den Zettel weg.
„Fast Fünf.“
„Bei Schweinfurt“, grinse ich.
„Nicht weit. Woll´n wa?“
Verrückte Idee. Kurze Strecke. Erotikbühne.
„Jau“, antworte ich, ins Graue hinein. Mühsam stehen wir auf, schütteln uns die Wolken aus den lahmen Beinen und gehen Richtung Wald.

Wir fahren Landstraße. Der Tag stirbt mit Würde, während hinter dem abgerundeten Panorama fränkischer Provinz die Sonne verglüht. Die tiefhängende graue Wolkenschicht hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite.
Die Ortschaften erinnern an vergessene Requisiten, und sobald man sie durchquert hat, weiß man ihre Namen nicht mehr. Nach einer knappen Stunde Fahrt entdecken wir endlich kleine orangefarbene Schildchen, die uns den Weg zur „Eroticmesse“ weisen.
Die „Eventhalle Gerolzhofen“ liegt etwas schüchtern mitten im örtlichen Gewerbegebiet. Eine seelenlose Dorfhalle mit der Aufschrift: „Geodrom“.
Wir finden zuerst keinen Parkplatz, und der Mann am Einlass erkennt unsere gefälschten Presseausweise nicht an. Ich will diskutieren, doch er verschanzt sich hinter Bierbauch und Dialekt.
15 Euro Eintritt für Abriss 74370: biermarkengroßer Schlüssel in das Paradies exklusiver Erwachsenenunterhaltung. Wir ahnen, dass das Glück hier nicht zu finden sein wird, aber wir haben den Begriff weit gestreckt und mit allem möglichen angefüllt - herleiten lässt sich eh alles.
Drei Wochen Irrfahrt im Toyota. Wir wären nicht immer noch unterwegs, wäre nicht der Weg zum Ziel verkommen. Das wissen wir beide. Und da wir nicht genau wissen, was wir suchen sollen, sind wir hier: Inmitten kleingewachsener, ergrauender Maulwürfe, junger Kerle mit möglichst desinteressiertem Gesicht und vereinzelter Pärchen, die umherschlendern, fest umschlungen.
Zwei hübsche Frauen tanzen etwas routiniert an Stäben. Davor sitzen Leute und trinken Bier für vier Euro. Die Musik bricht ab. „Micha in den Tablebereich, Micha in den Tablebereich“, sagt eine nervöse Frauenstimme durch. Die Tänzerinnen wollen sich nichts anmerken lassen. Eine weitere Durchsage.
Die Mädchen an den Stäben erscheinen etwas unmotiviert. Vielleicht wegen der Störung. Wir gehen weiter.

Schönheit kommt aus der Parfümerie.
Eine alte Frau in weißem Netzteil, gelangweilt, vor ihr:
Loveset für Ihn: 20 Euro. Loveset für Sie: 20 Euro. 5 Euro Gutschrift beim Kauf von zwei Überraschungspaketen Er/Sie. Kleingedruckt: Keine Barauszahlung.
Unterwäsche, jede Menge, alle Farben.
Dildos, jede Größe, alle Extras.
Wollt ihr euch vielleicht ´n Tattoo oder ´n Piercing stechen lassen?
Tantramassage 50 Euro.
Sie suchen ein öl- und fettfreies, geschmacks- und geruchsneutrales Massage und Gleitmittel. Besuchen Sie uns im Internet!
Pizza Spezial für vier Euro. Wir tun viel Tabasco drauf, es schmeckt uns gut.
Eine feminisierte Männerstimme dringt aus den Boxen. Feedback. Stimme. Feedback. Die Show geht los zur vollen Stunde, Hauptbühne.

Die Stimme gehört einer Tunte, und diese wohl zur Show. Sie moderiert, macht billige Scherzchen, hat Probleme mit dem Mikrofon. Kein Feedback aus dem Publikum. Die Transe trägt ein Dirndl, Lackschuhe, eine graue hohe Perücke wie das verkleidete Alien aus „Mars Attacks“. Sie lächelt stur und erzählt plötzlich von den Baptisten, bei denen sie aufwuchs.
Vom Band kommt Gejodel. Also liefert sie Gehüpfe, wie an Schnüren, dazu Playback.
Wer zu schlecht ist zum Clown wird Tunte, denke ich; irgendwie traurig.
Ich gehe Bier holen.
Als ich wiederkomme, präsentieren Schönheiten Mode. Lack zumeist. Es sieht gut aus, aber verdammt, sie zeigen weniger Haut als in Paris.
„Endlich sind wir mal inner Mehrzahl“, grinst Tim und greift nach seinem Bier.
Die Tänzerin von vorhin präsentiert einen Leopardenmantel über roter Seide und heißt jetzt nicht mehr Cassy, sondern Janine.

Zwischen Strips und Tunte kleinere Pausen.
Wir stehen inzwischen in der ersten Reihe, ist fast wie am Tresen. Ich schaue mich um. Viele geben sich Mühe, wie Zuhälter auszusehen.
Überall die Maulwürfe. Sie bilden auch hier die Mehrheit, nicht nur in Kneipen. Verwelkte Männer: Eine ganze Herde drängt sich neben uns um die Treppe vor der Bühnenmitte. Auf den beiden neben den Stufen stehenden Boxen stapeln sich Fotoapparate. Verschränkte Arme, sie stehen hier schon länger.
„Alles im Griff?“, fragt unser Nebenmann mit hoher Stirn, Allerweltsgesicht und drei verschiedenen Nikons mit Blick auf Tims Kompakte. Er wartet keine Antwort ab, sondern wiegt sein gigantisches Objektiv in den Händen. „Ist ja auch nicht viel in der Hand zu halten“, grinst er und verwickelt Tim in ein Fachgespräch über Spiegelreflexe.
„Bist du beruflich hier?“, frage ich.
„Nein, ist nur´n Hobby“, antwortet er und zeigt uns mehrere signierte Fotoalben mit Pornodarstellern, der Feldbusch, Amateurmodellen. Interessierte Blicke von überall.
„Die Fotos sind nicht schlecht“, stellen wir fest und ich denke:
Prima Wichsvorlage... verdammt, seine Wichsvorlage. Für einen Moment blitzt die versaute Herrentoilette in mir auf - jetzt nicht. Wir reichen Alben weiter.
„Das ist hier natürlich nichts gegen die Venus in Berlin. Aber ich war gestern auf ´ner Messe in Mannheim und hab gehört, das solle hier ganz gut sein“, referiert der Maulwurf und sammelt mit gelangweiltem Gesicht die Bilder wieder ein.
Ich erzähle ihm, wir würden für den „Fränkischen Beobachter“ arbeiten. Murmle etwas Unverständliches von „investigativem Voyeurismus“ und „Gonzojournalismus“.
„Und warum bist du hier?“, frage ich abschließend und nippe zufrieden mit mir selbst an meinem Bier.
„Wegen der Pisse.“
Der Höhepunkt des Abends, die letzte Show, die Tunte hatte sie grad angekündigt. Ich hatte das ganz vergessen, weil sie danach Tim ausfragen wollte, wo er für gewöhnlich hinspritzt.
Eine Pause, in der ich mein Bier hinunterschlucke. Ganz interessantes Gespräch, denke ich und frage:
„Und... ähm... was machst du beruflich so?“
„Ich bin Koch.“

Sie fahren den Messen hinterher, alleine, um Bilder zu jagen. So wie Jungs früher Paninis gesammelt haben. Um die Traumfrauen auf der Bühne zu besitzen, vielleicht, wo man sie schon nicht anfassen darf.
Einige haben den erwartungsfrohen Blick von Kindern. Den Kopf nackt. Es werden immer mehr. Einer von ihnen scheint früher einmal Boxer gewesen zu sein, mutmaße ich. Wenn er es einmal war, hätte ich nichts auf ihn gewettet, so flach ist sein Gesicht.
Die Tunte zieht Vergleiche zu Las Vegas und moderiert den Höhepunkt des Abends an: SM-Klinik Berlin. Wolfsgeheul aus dem Publikum. Gier in den Augen. Rammstein vom Band.
Der Meister hat kurze Haare, trägt schwarze Schlaghosen und erinnert mich an die Loveparade. Die Domina ist zerlaufen wie eine Träne, hat aber das warme Gesicht einer netten Eisverkäuferin von nebenan.
Der Star jedoch ist das Mädchen, das sich, den Rücken zum Publikum, zwischen sie hockt und so vorbeugt, dass man nicht viel mehr von ihr sieht als drei Piercings – „Verdammt“, murmelt Tim, „das muss weh getan haben.“ Die Tunte begrüßt „Gang-Bang-Steffi“ überschwänglich, stellt das Lächeln einen Moment zu früh ab und verschwindet von der Bühne. Das Wolfsgeheul schwillt an. Routiniertes Vorspiel, „Engel“ und Kerzenwachs. Steffi steht auf und schaut ins nirgendwo. Irgendwie erinnert sie an Jenas Plattenbauviertel.
Wäscheklammern in die Brust. Brust durchstechen. Nadeln wieder rausziehen. Klammern nacheinander mit der Peitsche abschlagen.
Das Surren und Klicken von Kameras. Unablässig werden Filme gewechselt. Offene Münder. Nur nicht überbelichten. Steffi zuckt immer mehr. Das Blitzlicht schmerzt in den Augen.
„Doch nur ein Tier“, schallt aus den Boxen.
Die Domina hat einen Latexhandschuh angezogen, leert eine Gleitmitteltube aus und fistet Steffi. Ich muss an Truthähne und Kuhgeburt denken. An unsere Suche nach dem Glück.
Die schmerzfreie Steffi kriecht zum Bühnenrand, setzt sich auf die obere Treppenstufe und spreizt die Beine.
Belichtungsgewitter.
Der Meister reicht den Maulwürfen eine Saugpumpe. Der Kreis schließt sich enger, mehr Gedränge. Einige Zuschauer dürfen abwechselnd pumpen, das machen sie mit einer Hand, mit der anderen fotografieren oder filmen sie. Jeder hat jetzt Kameras. Ich verschanze mich hinter meinem Becks. Fotohandys und Wegwerfapparate wachsen über meine Schulter.
„Dein Gesicht ist mir egal“, singt Lindemann.
Der Koch darf fühlen, wie scharf die Nagelkeule ist, mit welcher der Meister über Steffis Haut fährt. Sie ist nahe vorm Höhepunkt. Der Meister zieht sie hoch, lässt sie sich bücken, Arsch zum Publikum, sie wird ausgepeitscht, onaniert dabei.
Dann hockt Gang-Bang-Steffi sich vor die Objektive, der Meister hält sie fest, sie zuckt mit dem Unterleib. Jedermann drängt näher.
Es kommt nicht. Erst nach einer Weile ergießt sich dünnes Getröpfel auf die Bühne. Ich halte mein Bier zu und schaue mich um. Hitze. Kameras. Gier.
Frenetischer Applaus: Steffi hat auf die Bühne gepisst. Ein paar Apparate sind nass geworden.

Rufe nach Zugabe. Die Tunte bedankt sich bei den Künstlern und Ausstellern.

Nachdem wir einige günstige Räucherstäbchen gekauft haben, treffen wir Steffi am Nachbarstand wieder. Man kann Filme von ihr kaufen, den 3er Pack für 99 Euro, oder DVDs wie „Wild Rape“, Electric Shock“, und „Pee And Shit On Me“. Ihr Meister lutscht an einem Eishörnchen, die Domina schaut immer noch freundlich umher, und Steffi steht umgeben von Fans vor einem Fernseher und lacht: „Icke, das bin icke!“

„Schade, dass die Fickmaschine heute nicht da war“, sagt jemand am Ausgang. Wir kratzen das Eis vom Toyota. Es hat aufgeklart, über uns nichts als tiefes Schwarz und die unzähligen Sterne, die man nur auf dem Lande sieht.
Tim hat alle restlichen Filme verknipst.
Meine Eier tun weh.
„Ob die Steffi das Glück gefunden hat?“, frage ich ihn.

 

Nun, hier die lange überfällige Überarbeitung, verbunden mit einem dicken Dankschön an alle Kritiker. Leider weiß ich nimmer genau, was ich verändert habe - sie stammt von letztem Jahr und ich habe sie gestern zufällig gefunden.
...para

 

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