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Novemberglück
Die überarbeitete Fassung auf Seite Zwei oder hier.
Man kann immer wieder neue Zwischentöne entdecken. Darum mag ich Grau. Es ist eine schöne Farbe, selten beachtet.
Wir sitzen irgendwo auf einer Hügelkuppe, in einem Durcheinander aus spätherbstlicher Dämmerung und Wolkendecke, und der Wind treibt die dunkelgrauen Schwaden weiter durch den grauen Himmel. Wir gehören nicht in diese Welt zwischen Schwarz und Weiß: Es lässt uns frösteln, der Wind greift nach uns. Doch forttragen kann er uns nicht.
„Grau“, sage ich nach einer Weile in den Augenblick hinein.
Keine Antwort.
Wir sind Glücksritter. Gralssucher. Vertriebene. Zumindest glauben wir das. Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Ich drehe den Kopf. Außer Sichtweite. Die Bäume kahlen aus, eine traurige, dunkle Phalanx.
„November“, sagt Tim.
Sonst nichts. Mir wird es zu still, und so tauche ich.
Seit drei Wochen unterwegs. Glücksritter. Gralssucher. Vertriebene. Etwas weiter im Wald steht unser roter Toyota. Er soll uns helfen, das Glück zu suchen. Vielleicht benutzen wir die falschen Straßen, aber man kann drin schlafen.
„Erotikmesse“, murmelt Tim.
Das Schwarz klärt etwas auf, weil ich die Augen wieder öffne. „Bitte was?“
„Erotikmesse“, wiederholt Tim. Er sitzt eine Armlänge entfernt zu meiner Linken, den Rücken gekrümmt, und hält einen kleinen Zettel.
„Erleben Sie Deutschlands heißeste Erotikbühne in Action!“, liest er vor.
Ich unterdrücke eine spitze Bemerkung. Der Kritiker beißt sich selbst den Kopf ab, das zumindest glaube ich gelernt zu haben, momentan. „Gerolzhofen“, fährt Tim fort, und ich habe Mühe, ihn zu verstehen, denn er spricht leise und gegen den Wind. „Sonntag 13 bis 23 Uhr.“
„Wie spät?“, frage ich und nehme ihm den Zettel weg.
„Fast Fünf.“
„Bei Schweinfurt“, grinse ich.
„Nicht weit. Woll´n wa?“
Verrückte Idee. Kurze Strecke. Erotikbühne.
„Jau“, antworte ich träge, ins Graue hinein. Mühsam stehen wir auf, schütteln uns die Wolken aus den lahmen Beinen und gehen Richtung Wald.
Wir fahren Landstraße. Der Tag stirbt mit Würde, während hinter dem abgerundeten Panorama fränkischer Provinz die Sonne verleuchtet. Die tiefhängende graue Wolkenschicht hat ihr den Tag verdorben, darum versucht sie es auf der anderen Seite.
Nach einer knappen Stunde Fahrt haben wir endlich kleine orangefarbene Schildchen entdeckt, die uns den Weg zur „Eroticmesse“ weisen.
Die „Eventhalle Gerolzhofen“ liegt etwas schüchtern mitten im örtlichen Gewerbegebiet. Eine seelenlose Dorfhalle mit der Aufschrift: „Geodrom“.
Wir finden zuerst keinen Parkplatz, und der Mann am Einlass erkennt unsere gefälschten Presseausweise nicht an. Ich will diskutieren, doch er verschanzt sich hinter Bierbauch und Dialekt.
15 Euro Eintritt für Abriss 74370. Wir ahnen, dass das Glück hier nicht zu finden sein wird, aber wir haben den Begriff weit gestreckt und mit allem möglichen angefüllt. Herleiten lässt sich eh alles.
Drei Wochen Irrfahrt im Toyota. Wir wären nicht immer noch unterwegs, wäre nicht der Weg zum Ziel verkommen. Das wissen wir beide. Und da wir nicht wissen, was wir suchen sollen, sind wir hier, inmitten unter kleingewachsenen, ergrauenden Maulwürfen, jungen Kerlen mit möglichst desinteressiertem Gesicht und vereinzelten Pärchen, fest umherschlendernd.
Zwei hübsche Frauen tanzen etwas routiniert an Stäben. Davor sitzen Leute und trinken Bier für vier Euro. Die Musik bricht ab. „Micha in den Tablebereich, Micha in den Tablebereich“, sagt eine nervöse Frauenstimme durch. Die Tänzerinnen wollen sich nichts anmerken lassen. Eine weitere Durchsage.
Die Mädchen an den Stäben erscheinen etwas unmotiviert. Vielleicht wegen der Störung. Wir gehen weiter.
Schönheit kommt aus der Parfümerie.
Eine alte Frau in weißem Netzteil, gelangweilt, vor ihr:
Loveset für Ihn: 20 Euro. Loveset für Sie: 20 Euro. 5 Euro Gutschrift beim Kauf von zwei Überraschungspaketen Er/Sie. Kleingedruckt: Keine Barauszahlung.
Unterwäsche, jede Menge, alle Farben.
Dildos, jede Größe, alle Extras.
Wollt ihr euch vielleicht ´n Tattoo oder ´n Piercing stechen lassen?
Tantramassage 50 Euro.
Sie suchen ein öl- und fettfreies, geschmacks- und geruchsneutrales Massage und Gleitmittel. Besuchen Sie uns im Internet!
Pizza Spezial für vier Euro. Wir tun viel Tabasco drauf, es schmeckt uns gut.
Eine feminisierte Männerstimme dringt aus den Boxen. Feedback. Stimme. Feedback. Die Show geht los zur vollen Stunde, Hauptbühne.
Die Stimme gehört einer Tunte, und diese wohl zur Show. Sie moderiert, macht billige Scherzchen, hat Probleme mit dem Mikrofon. Kein Feedback aus dem Publikum. Die Transe trägt ein Dirndl, Lackschuhe, eine graue hohe Perücke wie das verkleidete Alien aus „Mars Attacks“. Sie lächelt stur und erzählt plötzlich von den Baptisten, bei denen sie aufwuchs.
Vom Band kommt Gejodel. Die Transe hüpft dazu und singt Playback.
Ich gehe Bier holen.
Wer zu schlecht ist zum Clown wird Tunte, denke ich; irgendwie traurig.
Als ich wiederkomme, präsentieren Schönheiten Mode. Lack zumeist. Es sieht gut aus, aber verdammt, sie zeigen weniger Haut als in Paris.
Es sind mehr Frauen auf der Bühne als im Publikum.
Die Tänzerin vom vorhin präsentiert einen Leopardenmantel über roter Seide und heißt jetzt nicht mehr Cassy, sondern Janine.
Zwischen Strips und Tunte kleinere Pausen.
Wir stehen inzwischen in der ersten Reihe, ist fast wie am Tresen. Ich schaue mich um. Viele geben sich Mühe, wie Zuhälter auszusehen.
Überall sind die Maulwürfe. Sie bilden auch hier die Mehrheit, nicht nur in Kneipen. Verwelkte Männer. Eine ganze Horde von ihnen drängt sich neben uns um die Treppe vor der Bühnenmitte. Überall auf den beiden neben den Stufen stehenden Boxen liegen Fotoapparate. Verschränkte Arme, sie stehen hier schon länger und möchten ihren Platz nicht aufgeben.
„Alles im Griff?“, fragt unser Nebenmann mit hoher Stirn, Allerweltsgesicht und drei verschiedenen Nikons mit Blick auf Tims kleine Kamera. Er wartet keine Antwort ab, sondern wiegt sein gigantisches Objektiv in den Händen. „Ist ja auch nicht viel in der Hand zu halten“, grinst er und verwickelt Tim in ein Fachgespräch über Spiegelreflexe.
„Bist du beruflich hier?“, frage ich.
„Nein, ist nur´n Hobby“, antwortet er und zeigt mir mehrere signierte Fotoalben mit Pornodarstellern, der Feldbusch, Amateurmodellen. Interessierte Blicke von überall.
„Die Fotos sind nicht schlecht“, stelle ich fest und denke:
Prima Wichsvorlage... verdammt, seine Wichsvorlage... Du musst dir nachher die Hände waschen, unbedingt.
„Das ist hier natürlich nichts gegen die Venus in Berlin. Aber ich war gestern auf ´ner Messe in Mannheim und hab gehört, das solle hier ganz gut sein“, referiert der Maulwurf und sammelt mit gelangweiltem Gesicht die Alben wieder ein.
Ich erzähle ihm, wir würden für den „Fränkischen Beobachter“ arbeiten. Murmle etwas Unverständliches von „investigativem Voyeurismus“ und „Gonzojournalismus“.
„Und warum bist du hier?“, frage ich abschließend und nippe zufrieden mit mir selbst an meinem Bier.
„Wegen der Pisse.“
Der Höhepunkt des Abends, die letzte Show, die Tunte hatte sie grad angekündigt. Ich hatte das ganz vergessen, weil sie danach Tim ausfragen wollte, wo er für gewöhnlich hinspritzt.
Eine Pause, in der ich versuche, mein Bier hinunterzuschlucken.
Ganz interessantes Gespräch, denke ich und frage:
„Und... ähm... was machst du beruflich so?“
„Ich bin Koch.“
Sie fahren den Messen hinterher, alleine, um Bilder zu jagen. So wie Jungs früher Paninis gesammelt haben. Um die Traumfrauen auf der Bühne zu besitzen, mutmaße ich, wo man sie schon nicht anfassen darf.
Einige haben den erwartungsfrohen Blick von Kindern. Den Kopf nackt. Es werden immer mehr. Einer von ihnen scheint früher einmal Boxer gewesen zu sein, mutmaße ich. Wenn er es einmal war, hätte ich nichts auf ihn gewettet, so flach ist sein Gesicht.
Die Tunte zieht Vergleiche zu Las Vegas und moderiert den Höhepunkt des Abends an: SM-Klinik Berlin. Wolfsgeheul aus dem Publikum. Gier in den Augen. Rammstein vom Band.
Der Meister hat kurze Haare, trägt schwarze Schlaghosen und erinnert mich an die Loveparade. Die Domina ist zerlaufen wie eine Träne, hat aber das warme Gesicht einer netten Eisverkäuferin von nebenan.
Der Star jedoch ist das Mädchen, das sich zwischen sie hockt und so vorbeugt, dass man nicht viel mehr von ihr sieht als ihr dreifach gepierctes primäres Geschlechtsorgan.
Die Tunte nannte sie Gang-Bang-Steffi. Das Wolfsgeheul schwillt an. Das übliche Vorspiel, „Engel“ und Kerzenwachs. Steffi steht auf und schaut ins nirgendwo. Ihr Gesicht erinnert mich irgendwie an Jenas Plattenbauviertel.
Wäscheklammern in die Brust. Brust durchstechen. Nadeln wieder rauszeihen. Klammern nacheinander mit der Peitsche abschlagen.
Das Surren und Klicken von Kameras. Filme werden gewechselt. Offene Münder. Nur nicht überbelichten. Steffi zuckt immer mehr. Das Blitzlicht schmerzt mir in den Augen.
„Doch nur ein Tier“, schallt aus den Boxen.
Die Domina hat einen Latexhandschuh angezogen, leert eine Gleitmitteltube aus und fistet Steffi. Ich muss an Truthähne und Kuhgeburt denken. An unsere Suche nach dem Glück.
Die schmerzfreie Steffi kriecht zum Bühnenrand, setzt sich auf die obere Treppenstufe und spreizt die Beine.
Blitzlichtgewitter.
Der Meister reicht den Maulwürfen eine Saugpumpe. Der Kreis schließt sich enger, mehr Gedränge. Einige Zuschauer dürfen abwechselnd pumpen, das machen sie mit einer Hand, mit der anderen fotografieren oder filmen sie. Jeder hat jetzt Kameras. Ich verschanze mich hinter meinem Becks. Man hält Fotohandys und Wegwerfapparate über meine Schulter.
„Dein Gesicht ist mir egal“, singt Lindemann.
Der Koch darf fühlen, wie scharf die Nagelkeule ist, mit welcher der Meister über Steffis Haut fährt. Sie ist nahe vorm Höhepunkt. Der Meister zieht sie hoch, lässt sie sich bücken, Arsch zum Publikum, sie wird ausgepeitscht, onaniert dabei.
Dann hockt Gang-Bang-Steffi sich vor die Fotografen, der Meister hält sie fest, sie zuckt mit dem Unterleib. Jeder drängt näher.
Es kommt nicht. Erst nach einer Weile ergießt sich dünnes Getröpfel auf die Bühne. Ich halte mein Bier zu und schaue mich um. Gier. Kameras. Hitze.
Frenetischer Applaus. Steffi hat auf die Bühne gepisst. Ein paar Kameras sind nass geworden.
Rufe nach Zugabe. Die Tunte bedankt sich bei den Künstlern und Ausstellern.
Nachdem wir einige günstige Räucherstäbchen gekauft haben treffen wir Steffi am Nachbarstand wieder. Man kann Filme von ihr kaufen, den 3er Pack für 99 Euro oder DVDs wie „Wild Rape“, Electric Shock“, und „Pee and shit on me“. Ihr Meister lutscht an einem Eishörnchen, die Domina schaut immer noch freundlich umher, und Steffi steht umgeben von Fans vor einem Fernseher und lacht: „Icke, das bin icke!“
„Schade, dass die Fickmaschine heute nicht da war“, sagt jemand am Ausgang. Wir kratzen das Eis vom Toyota. Es hat aufgeklart, über uns nichts als tiefes Schwarz und die ungezählten Sterne, die man nur auf dem Lande sieht.
Tim hat alle restlichen Filme verknipst.
Meine Eier tun weh.
„Ob die Steffi das Glück gefunden hat?“, frage ich ihn.