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Ntokos Stimme
Als sie erwachte, umgab sie Dunkelheit, so schwarz und endlos wie die Vierte Hölle.
Sie gab ein kurzes Wimmern von sich und schlug beide Hände vors Gesicht, als wolle sie dem Anblick entfliehen.
Bitte...macht, dass es aufhört!
"Wieder die Alpträume, Hohepriesterin?" Die Stimme rechts neben ihrem Kopf klang besänftigend. "Hier, trink, mein Kind, dann wirst du dich gleich besser fühlen."
Sie spürte den Rand des Gefäßes an ihren Lippen, dann kühles Naß. Begierig nahm sie jeden Tropfen auf und spürte, wie sich Entspannung in ihren Muskeln ausbreitete, wie das Brennen in ihrer Kehle nachließ. Schluck um Schluck fielen die Reste des Alpdrucks von ihr ab, und als sie sich aufrichtete, lag ihre Kammer ins warme Licht der Kohletiegel getaucht.
"Wie lange habe ich geschlafen, Mbassu?"
"Eine Nacht lang, Hohepriesterin."
Wirklich? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. "Hat die Göttin durch mich gesprochen, Mbassu?"
"Ja, das hat sie."
"Was hat sie gesagt?"
"Dass die Zeit des Krieges bald vorbei sein wird. Schon sehr bald. Und jetzt ruhe noch ein Weilchen, mein Kind. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen."
Zu erschöpft, um zu widersprechen, ließ sie sich in die Kissen zurücksinken und fiel in einen leichten, aber traumlosen Schlummer, der Erholung versprach.
***
"Ich verstehe das nicht." Sie bemühte sich, den Worten des Medizinmanns einen Sinn abzugewinnen. "Wieso spricht sie nicht zu mir, Mbassu? Was mache ich falsch? Hat Ntoko mich nicht erwählt, damit ich ihre Stimme sei und ihre Weisheit verkünden soll?"
"Wie ich schon sagte, Hohepriesterin: Du bist die Stimme. Du machst nichts falsch."
"Aber warum bin ich als Einzige nicht in der Lage, Ntokos Weissagungen zu hören? Erkläre mir das. Bin ich nicht würdig?"
"So ist es immer gewesen, mein Kind. Die Hohepriesterin ist die Stimme. Die Göttin ist das Wort."
"Aber wieso spricht die Göttin nicht zu mir, Mbassu? Ich flehe sie an, ich sitze den ganzen Tag vor dem Eingang des Heiligtums und bitte um die Gnade, nur einmal ihre Stimme hören zu dürfen, ihre Weisheit zu vernehmen."
"Ach, Ngiri, mein Kind. Du bist die Stimme der Göttin. Ohne Stimme muss das Wort für immer stumm bleiben. So ist es schon immer gewesen, und so wird es immer sein. Und jetzt geh' und quäle dich nicht unnötig. Ist heute nicht ein wunderschöner Tag?"
***
Der Vorhang, der den Eingang zum Heiligtum verdeckte, war schwarz wie die Sonne der vierten Hölle. Ngiri hatte ihren Platz auf dem Teppich davor eingenommen, im Schatten des großen Mhanaibaums.
Seit sie aus der Hütte des Medizinmanns zurück gekommen war, hatte sie sich bemüht, die Gefühle in ihrem Innern zu besänftigen. Es stand der Hohepriesterin nicht zu, undankbar zu sein. Schließlich war sie im Schlaf für alle anderen die Stimme Ntokos - konnte ein einfaches Nossu-Mädchen höhere Ehre erlangen?
Sie erinnerte sich an den Tag ihrer Erwählung zur Hohepriesterin vor einem halben Jahr. Mit den anderen Mädchen war sie zum verborgenen Platz des Heiligtums geführt worden - mit verbundenen Augen, damit sie den Weg nicht wiederfanden. Es war Vollmond gewesen, und das Gefäß der Göttin hatte aufrecht auf dem Vorplatz gestanden. Ein schwarzer Schleier verhüllte sein oberes Ende, als die jungen Priesterinnen sich im Halbkreis aufstellten, so dass Ntoko sie alle begutachten konnte.
Dann hatte Mbassu als ranghöchster Medizinmann den Schleier gelüftet, und Ngiri hatte die Augen der Göttin zum einzigen Mal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen.
Es war ein schrecklicher Anblick gewesen, den sie nie vergessen würde. Sie hatte immer angenommen, wenn von dem Verschleierten Blick die Rede war, bezöge sich das auf den schwarzen Schleier, der bei Prozessionen und anderen öffentlichen Auftritten Ntokos Augen bedeckte und die Finsternis symbolisierte.
Als sich der Blick Ntokos schließlich auf sie richtete, hatten ihre Beine ihren Dienst versagt und sie war ohnmächtig geworden.
Sie hätte nie damit gerechnet, dass man sie danach für das höchste aller Ämter überhaupt zulassen würde. Aber die Göttin hatte sie erwählt, und das erfüllte Ngiris Herz mit Stolz und Freude. Die Furcht vor den schrecklichen Augen der Göttin verdrängte sie und gab ihrer Unerfahrenheit daran die Schuld.
Ach, große Göttin! Einmal nur ... um mir zu zeigen, dass ich deiner wirklich würdig bin!
Gegen Abend kam leichter Wind auf, und sie erhob sich von ihrem Platz. Der Zeitpunkt der Opferung war nah.
Ngiri griff nach dem kleinen Tontiegel, der neben dem Eingang zum Heiligtum an einem Haken hing, und entzündete die darin befindliche Kohle mit einer Prise Feuerwurz. Dann legte sie die abgeschnittenen Blüten und Kräuter auf die Kohlen.
Einen Moment später stieg aromatischer Rauch aus dem Topf auf und Ngiri machte sich bereit, der Göttin wie jeden Tag ihre Ehre zu erweisen.
***
Als Ngiri das Heiligtum betrat, streifte der Vorhang ihre nackte Schulter wie Geisterschwingen und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Erinnerungen an Alpträume, deren Inhalt sie längst vergessen hatte, schienen ihre klammen Finger nach ihr auszustrecken, aber sie zwang sich, sie zu mißachten.
Ist das der Grund, weshalb du zu mir stumm bleibst, große Ntoko? Weil mich deine Gegenwart noch immer ängstigt?
Aber war nicht gerade das ein Zeichen ihrer großen Ehrfurcht?
Das Heiligtum unterschied sich rein äußerlich kaum von einer gewöhnlichen Behausung, mit dem Unterschied, dass es außer dem Eingang keine Öffnungen gab, durch die Licht hätte eindringen können. Der schwarze Vorhang erwies sich von Innen als absolut lichtundurchlässig. Es dauerte eine Weile, bis Ngiri sich an das spärliche Licht des Kohletiegels gewöhnt hatte, dann trat sie mit ihrem Duftopfer ein paar Schritte nach vorn, wo das Gefäß der Göttin auf seinem Sockel lag.
Oh große Ntoko, Auge der Finsternis, vergib mir meine Anmaßung! Ich bin gekommen, um dir Ehre zu erweisen.
Ngiri machte noch einen Schritt auf die dunklen Umrisse des Gefäßes zu, das einem großen Steinsarkopharg in Menschenform glich. Mit zitternden Händen stellte sie das Opfer auf die unterste Stufe des Sockels, zu Ntokos Füßen.
Dann sah sie etwas, das sie vor Entsetzen laut aufzischen ließ.
Der schwarze Schleier, der für gewöhnlich das Kopfstück des Gefäßes und den Sehschlitz verhüllte, war verschwunden. Der Ruheplatz der Göttin war entweiht worden und - o Mächte des Lichtes und der Finsternis! - das Gefäß war leer.
Mbass... Sie kam nicht mehr dazu, zu schreien, als sich von hinten Arme um sie legten und ihr jemand ein Stück süßlich riechenden Stoffes auf Mund und Nase presste.
***
Bodenlose Schwärze in ihr und um sie herum.
Ein Hustenanfall schüttelte sie, aber sie konnte ihre Gliedmaßen nicht bewegen. Ihr Körper fühlte sich an wie etwas, das ihr nicht mehr gehörte.
Gefangen.
Sie glaubte einen Moment lang, ersticken zu müssen, aber dann klang der Hustenreiz wieder ab und ihre gierigen Lungen füllten sich mit etwas, das so ekelhaft süß wie der Atem des Todes selbst schmeckte.
Nicht.
Rauhe Hände, so roh und unbehauen wie das Gefängnis, das sie umgab.
Wehtun.
Geräusche. Ein Schaben wie von Stein auf Stein. Dann ein Knirschen und Quietschen wie von Holzrädern.
Die Mauern ihres Gefängnisses bewegten sich.
Bitte.
Es würde sie zermalmen, sie mit ihrem eigenen Gewicht erdrücken, sie -
Dann nur noch das Quietschen.
Das, und die bodenlose Schwärze.
***
Als sie wieder zu sich kam, war die Dunkelheit erfüllt von Kampfeslärm.
Trommeln dröhnten, Menschen schrien, Stein brach Holz, und in der Ferne erklang das dumpfe Grollen von Bwamas, die es nach Menschenfleisch verlangte.
Aber obwohl sie das alles mitbekam, klangen die Geräusche, als drängen sie durch dichten Nebel zu ihr. Sie vernahm Stimmen dicht neben sich, aber sie verstand nicht, was sie sagten.
Doch, ein Wort verstand sie. Es klang wie etwas, das sie einmal gekannt hatte.
Ntoko.
Sie hörte es immer wieder, wie einen langsam anschwellenden Singsang.
Das Quietschen hatte aufgehört, aber nach wie vor strömte von irgendwoher süßlicher Duft in ihr Gefängnis.
Wo bin ich?
Wer bin ich?
Was bin ich?
Ntoko schwoll es an und ab, aus tausenden rauher Kehlen.
Sie versuchte sich an irgend etwas zu erinnern, aber der süßliche Duft schien überall zu sein, selbst in ihrem Bewusstsein. Er ließ jeden Gedanken zu Rauch verschwimmen, bis nur noch Platz für das Gefühl des Eingeklemmtseins war.
Sie wollte raus hier, wo immer sie war.
In ihr schwoll etwas an, das sich fremd und vertraut zugleich anfühlte.
Zorn.
Ntoko.
***
Auf einmal fiel etwas von ihr ab, und die Dunkelheit öffnete sich einen Spalt breit, ließ beißenden Rauch in ihr Gefängnis.
Feuerschein blendete sie. Das Geschrei wurde immer lauter, wie das Summen lästiger Insekten.
Ntoko. Ntoko. Ntoko.
Sie versuchte, die zu erkennen, die sie so quälten, aber sie vermochte nicht mehr zu sehen, als ein paar Schemen im orangenen Feuerlicht. Sie blinzelte angestrengt, doch der dünne Schleier vor ihren Pupillen löste sich nicht auf. Sie war in der Lage, einzelne Gestalten zu unterscheiden, aber die Gesichter der Menschen blieben verschwommen.
Gefangen.
Ihr Zorn ballte sich in ihrem Inneren zusammen, als sei er der einzige Muskel, der sich ihrer Kontrolle nicht entzog, spannte sich bis zum Äußersten, bevor er sich blitzartig entlud und den einzig möglichen Weg nach draußen nahm.
Die Menschen und Tiere, gegen die sich Ntokos Stimme richtete, verglühten wie Grashalme in einer Feuersbrunst, und der Geruch von versengtem Haar erfüllte die Gefangene mit der einzigen Genugtuung, die ihr geblieben war.
***
Als sie erwachte, umgab sie Dunkelheit, so schwarz und endlos wie die Vierte Hölle.
Bitte...macht, dass es aufhört!
"Hier, trink, mein Kind, dann wirst du dich gleich besser fühlen."
Sie spürte den Rand eines Gefäßes an ihren Lippen, dann kühles Naß. Begierig nahm sie jeden Tropfen auf und spürte, wie sich Entspannung in ihren Muskeln ausbreitete, das Brennen in ihrer Kehle nachließ. Schluck um Schluck fielen die Reste des Alpdrucks von ihr ab, und als sie sich aufrichtete, lag ihre Kammer ins warme Licht der Kohletiegel getaucht.
"Wie lange habe ich geschlafen, Mbassu?"
"Eine Nacht lang, Hohepriesterin."
Wirklich? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. "Hat die Göttin durch mich gesprochen, Mbassu?"
"Ja, das hat sie."
"Was hat sie gesagt?"
"Dass die Zeit des Krieges bald vorbei sein wird, mein Kind. Schon sehr bald."