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Nur ein kurzer Augenblick
Die Erschöpfung in seinem Körper ließ ihn kurz anhalten, seine Hand umklammerte das Geländer. Er musste sich ausruhen, seinem alten Leib eine kurze, unumgängliche Pause gönnen. Er lächelte. Die zweiundachtzig Jahre seines Lebens forderten ihren Tribut, ließen seine Beine schmerzen, ebenso wie seine Füße, seine Schultern und seinen Arsch.
Sein Blick wanderte über die unzähligen Menschen des Einkaufszentrums. Ein hektisches Treiben schob ihre Körper in unbestimmte Richtungen, eine unsichtbare Barriere mit sich führend, die verhinderte, dass sie zusammenstießen.
Bartholomäus Richter entdeckte eine Bank neben einer gigantischen Palme in einem ebenfalls gigantischen Blumentopf.
Mein Gott, Barth, du bist so verdammt alt geworden. Sein Grinsen wurde breiter. Und ich fühle mich, verdammt noch mal, richtig gut.
Seit Annis Tod vor zwölf Jahren hatte er angefangen mit sich selbst zu reden. In seiner Wohnung sprach er laut, doch wenn er unter Menschen war, beschränkte er sich wohlweislich auf Gespräche in seinem Kopf.
Es gab ja niemanden mehr, mit dem er sonst noch hätte reden können; er war einer jener Männer, die es geschafft hatten, seine gesamte Familie zu überleben. Na ja, da war noch der Pfarrer, aber den konnte er auch noch vollschwatzen, wenn Gott der Meinung war, seine Zeit sei gekommen.
Bartholomäus hatte die Bank erreicht. Seine faltige Haut zitterte, als er die Lehne fasste und sich auf die Sitzfläche fallen ließ. Er keuchte hörbar, spürte, wie sich zäher Schleim in seinen Bronchien sammelte. Schnell kramte er nach seinem Taschentuch, hielt es sich vor den Mund und beförderte die grün-gelbe Konsistenz röchelnd in den Stoff.
Und wenn er schon dabei war, befreite er auch trompetend seine Nase. Kurz vor Annis Weggehen hatte er sich das Rauchen abgewöhnt und noch immer löste sich übelriechender Schleim aus seiner Lunge.
Egal.
Er steckte das Tuch zurück. Seine Finger berührten die Marlboroschachtel in der Tasche. Seit damals trug er sie bei sich. Barth wollte eigentlich nie ganz aufhören, irgendwann wieder anfangen. Irgendwann, wenn die Lust größer war als die Vernunft. Irgendwann würde es soweit sein. Oh ja, das würde es.
Anni und er waren früher oft in diesem Einkaufszentrum gewesen. Nie hatten sie etwas gekauft, sie waren einfach nur hindurchgeschlendert, hatten das wuselnde Treiben beobachtet, Hand in Hand wie ein frisch verliebtes Paar. Dabei kannten sie sich schon seit hundert Jahren.
Barth grinste. Er hatte sich nie merken können, in welchem Jahr er Anni kennengelernt hatte. Ebenso hatte er jedes Jahr ihren Hochzeitstag vergessen. Anni hatte dann jedes Mal gefragt, warum sie so einen unsensiblen Kerl wie ihn überhaupt geheiratet hatte. Und dann hatte er sie zum Essen eingeladen und sie hatten sich danach in ihrem großen Ehebett geliebt. Oh ja, das ging noch bis kurz vor ihrem Tod.
Heute war wieder einer jener Tage, an der die Melancholie drohte, die Oberhand zu gewinnen. Trotzdem war Bartholomäus Richter noch glücklich. Glücklich darüber, dass er hier in diesem großen Einkaufszentrum sitzen konnte, glücklich, dass er Menschen um sich herum hatte, deren Treiben er in aller Ruhe beobachten konnte.
Ein junges Mädchen saß neben ihm auf der Bank; zuerst hatte er nur ihr leises Atmen gehört. Jetzt sah er sie an. Hatte sie gerade dort auch schon gesessen? Doch eine Überlegung diesbezüglich war sowieso sinnlos, denn wenn er etwas nicht wusste, dann fiel es ihm auch nicht mehr ein, egal wie lange er sich den Kopf darüber zerbrach.
Ihre Hände lagen auf ihrer löchrigen Jeans, ihr Kopf war gesenkt und strähniges Haar hing herab.
Barth betrachtete sie, ihr gebeugter Rücken hob und senkte sich sanft unter dem Shirt. Ihrem Körper nach zu urteilen, musste sie recht jung sein. Vielleicht vierzehn oder fünfzehn.
Wieder dachte er an Anni, dachte an Sandra, seine Tochter. Sie war ebenfalls seit einer Ewigkeit tot. Auch das konnte er sich nicht merken; vielleicht wollte er es auch gar nicht. Es ist nicht angenehm über den Tod der eigenen Kinder nachzudenken.
Das Mädchen neben ihm drehte ihren Kopf, blickte durch die fettigen Strähnen ihrer Haare hindurch, sah ihn an.
Bartholomäus erschrak ein wenig. Ihr junges Gesicht war über und über mit Akne überzogen; die leuchtenden Pickel drängten sich auf engstem Platz, einige glänzten rot, andere waren kurz vorm Platzen.
Trotz allem war es ein sehr schönes Gesicht, wohl und symmetrisch geformt. Er stellte fest, dass er mit seiner Vermutung des Alters wohl richtig gelegen hatte. Sie hatte gerade mit den grausamen Auswirkungen der Pubertät zu kämpfen. Ihre Augen spiegelten einen traurigen Glanz wider.
„Ich möchte dir ganz gern etwas sagen.“ Bartholomäus erschrak über seine Stimme.
Das Mädchen runzelte die Stirn. Ihre Pickel schienen einen ausweglosen Kampf zu fechten. Die Haut glänzte.
Barth lächelte sie an, doch ihre Mundwinkel blieben starr.
„Du hast ein sehr hübsches Gesicht“, sagte er.
„Woll´n Sie mich verarschen?“ Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Barth lächelte; ihre Reaktion war durchaus nachvollziehbar. „Die Pickel werden verschwinden.“
Sie wurde rot. Ihre Augen zuckten nervös.
„Nein, ganz im Ernst. Dein Gesicht ist sehr schön. Du kannst mir glauben.“ Barth atmete hörbar aus. „Ich habe schon viele Gesichter gesehen.“
Jetzt lächelte auch sie ein wenig. „Das glaube ich Ihnen sogar.“ Sie blickte beschämt in ihren Schoß.
„Du hast ganz tolle Augen.“ Barth überlegte kurz, ob dieser Spruch inzwischen abgedroschen war.
Das Mädchen lächelte. „Danke.“
Er war es immer noch nicht. Wahrhaftig hatte er in seinem Leben viele Gesichter gesehen. Schon immer hatte ihn das weibliche Antlitz fasziniert. Es gab für ihn keinen Traumtyp, jede Frau hatte ihren eigenen Reiz, ihre ganz individuelle Schönheit. Und Barth konnte von sich behaupten, diese Schönheit immer erkannt zu haben. Um Anni tat es ihm im Nachhinein leid, doch sie hatte nie etwas davon erfahren.
Einmal hatte er ihr an ihrem Grab alles gebeichtet, und er hoffte, sie hatte ihm verziehen.
„Warum sagen Sie so was?“ Die Frage des Mädchens ließ ihn zusammenzucken. „Machen Sie sich lustig über mich?“
Eine tiefe Traurigkeit durchflutete seinen alten Körper. Er sah das Mädchen an; mit Sicherheit war es für sie nicht einfach. Mit Sicherheit hatte ihr noch niemand gesagt, dass sie schön war. Mit Sicherheit hatte sie es selbst noch nicht erkannt.
„Nein“, sagte er.
„Was nein?“
„Ich mache mich nicht lustig.“
„Aber Sie können mich noch sehen, oder?“
Barth lachte. „Du trägst ein weißes T-Shirt. Es steht …“ Jetzt musste er sich doch ein Stück näher heranbeugen. „… Zicke drauf. Deine Augen sind dunkelbraun. Sie glänzen …“ Er stockte für einen Moment. Sie hob die Brauen. „Sie glänzen einfach himmlisch.“
Sie lehnte sich zurück, blickte wieder nach unten.
„Entschuldige den Kitsch, aber ich weiß nicht, wie sich die Jugend heute auszudrücken pflegt.“
„Ist schon okay“, sagte sie leise. „Es hört sich sehr schön an. Und …“
„Und?“
Jetzt sah sie ihn wieder an, und er stellte fest, dass ihre Augen ihm für einen Moment den Atem raubten.
„Es tut gut.“
Er sah sie an. Die Menschen um ihn herum waren verschwunden, nur noch dieses picklige Mädchen saß in seinem Leben. „Wenn ich sechzig Jahre jünger wäre.“
Sie lächelte. „Ja?“
Jetzt wurde er für einen Augenblick verlegen. „Nun, ich hätte dich ins Kino eingeladen.“
„Ins Kino.“
„Geht man heute nicht mehr ins Kino?“
Sie lachte. „Ja klar. Nur vor sechzig Jahren?“
Jetzt lachten sie beide, und in diesem Moment war Barth wieder zwanzig. „Du wirst sehr schön werden“, sagte er leise. „Glaub mir das.“
Der leuchtende Glanz in ihren Augen reichte ihm als Antwort.
„Hey, alter Sack!“
Barth zuckte zusammen. Die Welt um ihn herum kehrte zurück. Das Mädchen blickte erschrocken auf.
Ein Junge mit schmierigem Haar und weiter Hose kam auf sie zu. Er steckte seine Hände in die ausgebeulten Taschen, blieb etwa einen Meter vor Barth stehen. In seinem Rücken tummelten sich zwei weitere Typen. Drei gestylte Mädchen mit auffallend blondem Haar und pickelfreiem Gesicht kicherten neben ihnen.
„Alter, was willst du von meiner Schwester?“ Seine Beine tänzelten.
Barth legte den Kopf schief. Jetzt war er wieder zweiundachtzig. Leider …
Der Junge ging auf das verpickelte Mädchen zu, legte seine sonnenbankgebräunte Hand auf ihre Schulter.
„Was wollte der geile Sack von dich?“
Dich? Barth schüttelte unmerklich den Kopf.
"Da haben sich ja die richtigen gefunden", jolte ein anderer, den Arm stolz um seine Freundin geschlungen.
"Halt die Fresse", sagte der Bruder. Der andere grinste ihn an.
„Wir haben uns nur kurz unterhalten“, sagte das Mädchen jetzt. „Lass ihn einfach in Ruhe.“
Die anderen traten heran. Alle hatten die gleichen, viel zu großen Hosen an. Einer trug sogar offene Schuhe.
„Der geile Sack hat sich an meine Schwester rangemacht“, grölte jetzt der erste wieder.
Der andere grinste. „Lass uns einfach abhauen.“
„Kinderficker!“
"Lasst den alten Mann zu Frieden", sagte eine Passantin und war im selben Moment wieder verschwunden.
Barth spürte einen harten Schmerz an seinem Schienbein, als eines der blonden Mädchen dagegen trat. "Der verwest doch schon fast."
Ihr verachtender Blick tat Barth mehr weh als der Tritt.
Einer der Jungen trat an Barth heran, nahm eine kampfbereite Stellung ein.
„Ey, du alter Kinderficker. Sollen wir die Bullen rufen?“
„Lasst die Scheiße!“ Das war das pickelige Mädchen. Sie war aufgestanden und hatte sich vor Barth gestellt.
Ihr Bruder packte sie am Arm, zog sie zu sich heran. „Lasst uns abhauen. Der Kinderficker kratzt eh bald ab.“
Er schob seine Schwester beiseite, spuckte Barth ins Gesicht, und schob sie davon.
Während Bartholomäus sein Taschentuch herausholte, blickte er ihnen nach. Die wuselnde Menschenmenge hatte sie kurz darauf verschluckt. Eine seltsame Leere breitete sich in seinem Körper aus; seine Gedanken schwirrten umher, taten es der Menge gleich.
Dann sah er das Mädchen wieder zwischen den Leibern hervortreten. Sie rannte auf ihn zu, lächelte.
„Ich wollte mich noch einmal bedanken“, sagte sie. „Sie haben mir sehr geholfen.“
Jetzt runzelte Barth seine Stirn. „Geholfen?“
Sie nahm seine Hand, umfasste sie, drückte etwas hinein. „Ja“, sagte sie. Dann rannte sie zurück.
Bartholomäus blickte ihr lange nach ohne sie zu sehen. Die Leere in seinem Innern war einer angenehmen Wärme gewichen, seine Beine kribbelten. Er schloss die Augen, sah in ihre, sah ihr Lächeln.
Er öffnete die Hand, die sie gerade geschüttelt hatte und blickte auf die Packung mit den Rasierklingen. Er stand auf, warf sie in den Mülleimer, der neben der Bank stand. Noch einmal blickte er in die Richtung, in der sie verschwunden war.