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Nur ein Lebenslauf
„Natürlich erinnere ich mich noch. Was glauben Sie denn? Es war der 07.05.1991, ein Dienstag. Ich bekam von der Schule frei, um zum Vorstellungsgespräch zu gehen. Der Tag war trüb, ziemlich kalt für Mai, sehen Sie, sogar an das Wetter kann ich mich noch erinnern. Na ja, auf jeden Fall brauchte ich an diesem Tag nicht zur Schule zu gehen. Mein Termin bei der Sparkasse war auf zehn Uhr angesetzt, dennoch war ich schon viel früher aufgestanden, weil ich vor Nervosität ohnehin nicht mehr schlafen konnte. Bis zur Abfahrt - meine Mutter hatte sich extra frei genommen, um mich zu fahren – war ich sooft auf der Toilette, wie sonst am ganzen Tag. Sie müssen wissen, normalerweise bin ziemlich cool, Druck macht mir nichts aus - überhaupt bin ich ein Prüfungstyp, aber ich muss zugegeben ich war sehr nervös. Eine viertel Stunde zu früh betrat ich die Sparkassenfilliale. In einem Ratgeber hatte ich gelesen, man solle nicht zu früh, aber vor allem nicht zu spät erscheinen. Der Ratgeber empfahl 15 Minuten vorher. Ich war also genau im Soll und betrat erleichtert das eindrucksvolle Gebäude, natürlich nicht ohne ein selbstsicheres Funkeln in den Augen, nicht zu vergessen, die entschlossene Körperhaltung. Die sei sehr entscheidend, so der Ratgeber. Die Dame am Empfang begrüßte mich herzlich und führte mich vor ein Büro. Sie bat mich, auf einem der Stühle, die links von der Türe standen, Platz zu nehmen. Dann sollte ich warten, ich würde abgeholt. Ich versuchte einigermaßen gerade zu sitzen. Nicht zu gerade, das wirkt arrogant müssen Sie wissen, aber vor allem nicht so locker, dann lieber zu gerade. Für meinen Begriff saß ich jedenfalls optimal. Ich lag in dem Stuhl, wie ein Porsche Carrera in der Kurve bei 120 km/h. Nein, natürlich lag ich nicht, nur bildlich gesprochen, das müssen Sie doch verstehen. Selbstverständlich saß ich gerade. Nach geraumer Zeit kam ein älterer Herr, der mich abholte. Ich folgte ihm und setzte mich auf den mir zugewiesenen Stuhl. Den Herrn, der sich als Herr Zemke vorstellte, ließ ich freilich zuerst Platz nehmen. So viel Anstand hatte ich auch ohne Ratgeber. Er fragte mich, warum ich mich für die Ausbildung zum Bankkaufmann bewerbe, was ich besonders gut könne und warum ich in Deutsch eine Vier habe. Die Antworten hatte ich mir schon vorher zu Recht gelegt, aber der Herr glaubte allen Ernstes, er könne mich mit seinen Fragen überraschen, aber die Fragen standen ja alle, so oder so ähnlich, in meinem Ratgeber. Auch während des privaten Teils (meine Hobbys interessierten ihn, gesellschaftliche Aufgaben, die ich übernahm usw ...) versuchte ich Haltung zu bewahren. Selbstsicher, aber vor allem entschlossen antwortete ich ihm. Nach einer Stunde war ich fertig. Beim Rausgehen traf ich noch den nächsten Bewerber. Als ich zu Hause war, erhielt ich bereits schon die Zusage per Telefon. Ich hätte den letzten freien Ausbildungsplatz erhalten. Was sagen Sie? Ja, natürlich habe ich mich gefreut, was glauben Sie denn? Aber komischerweise fragte ich mich was wohl aus dem Jungen, der nach mir das Zimmer betrat, geworden ist. Wahrscheinlich hatte er keinen Ratgeber... Mittlerweile hat er aber bestimmt seine eigene Firma.
Gleich nach dem Vorstellungsgespräch wurde ihm die Absage mitgeteilt. Er fand sich eigentlich gar nicht so schlecht. Zudem besser, als bei den vierzehn Gesprächen zuvor. Und trotzdem hatte er schon wieder eine Absage bekommen. Er ging nach Hause und traf dort auf seinen Vater und seine Mutter, die wie erwartet reagierten. Seine Mutter war stinksauer und sein Vater noch mehr. Sie beschimpften ihn als Nichtsnutz und setzten ihm ein Ultimatum, bis wann er eine Lehrstelle gefunden haben musste, ehe sie ihn zu Hause rausschmeißen würden. In den kommenden Wochen und Monaten schrieb er Bewerbungen noch und nöcher, kurz um, er bemühte sich redlich, jedoch ohne Erfolg. Nach einem halben Jahr wurde es seinen Eltern zu bunt und sie setzten ihn auf die Straße. Anfangs war er sogar ein wenig froh, zumindest erleichtert, da er sich mit seinen Eltern ohnehin nur gestritten hatte. Nach ein paar Wochen bemerkte er dann wie hart das Leben auf der Straße ist. Er trank viel, aß wenig, trank mehr, aß noch weniger, dennoch gelang es ihm nicht die Schmerzen in seiner Seele oder die Kälte in der Nacht zu betäuben. Nach zehn Jahren half ihm nicht ein Mal mehr der Alkohol, er griff zu härteren Drogen, für die ihm natürlich das Geld fehlte. Er begann zu stehlen. Hauptsächlich klaute er alten Frauen die Handtasche, so konnte er ohne großen Aufwand, eine Recht große Beute erzielen. Mit der Zeit wurde er immer geschickter und lief gar nicht mehr Gefahr erwischt zu werden. Anfangs hatte er noch Skrupel, später machte es ihm nichts mehr aus die alten Damen umzuschubsen, um sich dann mit deren Handtasche aus dem Staub zu machen. Sobald er sich das Geld zusammen hatte kaufte er sich das Heroin, das er zum Leben mittlerweile genauso benötigte wie die Luft zum Atmen. Im Drogenrausch fühlte er sich wenigstens einige Minuten wohl in seiner Haut und empfand keinen Ekel vor sich selbst. So war es nur logisch, dass er die Dosis Stück für Stück erhöhte, um den Rausch zu verlängern. Bis die Dosis zu hoch war. Fünf Jahre sind vergangen seit er sich den goldenen Schuss gesetzt hat.
Wie es nach der Ausbildung weiter ging wollen Sie wissen? Wir waren zu zehnt im Lehrjahr, aber 1994 war kein gutes Jahr. Unsere Sparkasse hatte bis dahin immer alle Auszubildenden übernommen. Bei unserem Jahrgang sollte sich die Geschichte nicht wiederholen. Bereits im Vorfeld, also vor der Abschlussprüfung, ging das Gerücht herum, dass nicht alle, besser gesagt, höchstens die Hälfte von uns übernommen werden sollte. Selbstverständlich maßen wir, wie sie sich denken können, diesem Gerücht keine Bedeutung bei. Warum sollten die Herren von der Geschäftsleitung auch nicht uns alle im Haus behalten, zumal wir noch ein ausgezeichneter Jahrgang, der beste seit langem übrigens, waren. Vier Wochen vor der Prüfung erhielten die Auszubildenden traditionell ihre Arbeitsverträge. Bei uns wurden dazu aber Einzelgespräche einberufen, etwas verwunderlich, oder wie wir damals fanden „ziemlich vertraulich“, aber wir waren ja schließlich ein seriöses Kreditinstitut, nicht wie diese Privatbanken. Fritz Wegner, mein Sitznachbar in der Berufsschule, verließ das Büro des Personalabteilungsleiters bevor ich eintrat. Ihm standen die Tränen in den Augen. Er würde nicht übernommen werden, hatte man ihm mitgeteilt. Ich versuchte ihn zu trösten, aber versuchen Sie mal, jemanden zu trösten kurz nachdem er seinen Job verloren hat. Keine Chance! Und vor allem keine Zeit. Ich musste ja als nächstes eintreten. Als ich den Türgriff herunterdrückte war ich nun doch nervös und hatte Angst meinen Job zu verlieren. Zu Unrecht natürlich. Ich bekam meinen Vertrag ausgehändigt und arbeitete fort an in der Wertpapierabteilung unserer Sparkasse. Am Ende des Tages erfuhr ich, dass nur drei von zehn weiter angestellt sein sollten. Was? Freilich tat es mir Leid für die Anderen. Bin doch kein Menschenhasser, was denken Sie von mir? Vor allem für Fritz tat es mir besonders Leid. Was aus ihm wohl geworden ist?
Weinend verließ Fritz das Bankgebäude, kaufte sich eine Flasche Wodka im benachbarten Rewe und ließ sich gnadenlos voll laufen, bis er bewusstlos war. Nach einigen Stunden erwachte er im Krankenhaus, wo man ihm den Magen ausgepumpt hatte. In den nächsten zwei Wochen sammelte er sich und sah schließlich ein, dass ein Jobverlust kein Untergang war. Er meldete sich für die Berufsoberschule an und beschloss sein Abitur nachzuholen und dann zu studieren. In der Schule hatte er sich immer leicht getan. Als das Schuljahr vergangen war, stand er aber immer noch mit leeren Händen da. Durchgefallen! Sitzen geblieben! Nicht Versetzt! Er versuchte es das nächstes Jahr erneut, mit dem selben Erfolg, besser gesagt mit dem selben Misserfolg. Mittlerweile war er zwanzig. Er bewarb sich auf eine Ausbildungsstelle zum Industriekaufmann, wurde wider erwarten genommen und schloss die Lehre sogar erfolgreich ab. Nach der Abschlussprüfung ereilte in jedoch das selbe Schicksal. Die Vergangenheit holte ihn ein. Er wurde zum zweiten Mal nicht übernommen. In den darauf folgenden Jahren bemühte er sich fast täglich um eine neue Arbeitsstelle, aber die Wirtschafslage war schlecht, zumindest in dem Land in dem er lebte. Deshalb wanderte er aus. Dort lebt er seit dem, arbeitet acht Stunden am Tag, um dann nach Hause zu kommen und festzustellen, wie einsam er ist. Seit acht Jahren lebt er in dem fernen Land und hat immer noch keine richtigen Bekannten, geschweige denn Freunde. Die Sprachbarriere hat er immer noch nicht überwunden und die Kultur ist im immer noch fremd. Seit seiner Auswanderung weint er fast jeden Tag vor Heimweh ...
Dann? Na dann arbeitete ich weiter, fünf Jahre, vielleicht waren es auch sechs. Auf jeden Fall fusionierte unsere Sparkasse mit der örtlichen Raiffeisenbank. Sie können sich ja denken, dass das Ganze nicht ohne Rationalisierungen von statten ging. Was? Ja sicher, auch in meiner Abteilung. Dieter Schuhmann, mein damaliger Vorgesetzter, war sogar betroffen. Der Abteilungsleiter von der Raiffeisenbank sei besser und solle von nun an die zusammen fusionierte Wertpapierabteilung leiten. Glaubt man es? Nach fünfzehn Jahren wurde Dieter einfach entlassen. Gekündigt! Wegen einer Fusion. Nichts hat er sich zu Schulden kommen lassen, rein gar nichts, das können Sie mir glauben. Eine Seele von Mensch! Aber was will man machen? Man muss ja froh sein, wenn es einen nicht selbst trifft. Was aus dem Dieter geworden ist? Keine Ahnung. Anfangs kam er noch ab und zu, aber was aus ihm geworden ist, da fragen Sie den Falschen.
Anfangs besuchte Dieter die Bank noch aus alter Verbundenheit mit seinen Kollegen, teilweise sogar aus Gewohnheit. Nach ein paar Monaten schaute er immer noch gelegentlich vorbei, jedoch nicht aus Gewohnheit, geschweige denn Verbundenheit. Der eigentliche Grund war, dass er es zu Hause nicht mehr aushielt. Jeden Tag stritt er sich mit seiner Frau. Beide zusammen, den ganzen Tag, das ging einfach nicht gut. Anfangs bemühte sich Dieter noch nach einem neuen Job. Irgendwann resignierte er und gab schließlich auf. Er stritt sich noch öfters mit seiner Frau, sie konnte es einfach nicht akzeptieren, dass er sich so gehen ließ, dazu kamen die finanziellen Probleme und ihr italienischer Liebhaber spielte bei der wenige Monate später folgenden Scheidung sicherlich auch eine große Rolle. Das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter bekam natürlich sie; und nur weil ihm ein Mal die Hand ausgerutscht war. Ein einziges Mal ...
Wie es nach der Fusion weiter ging? So seltsam es klingt. Es ging aufwärts, die Zeiten besserten sich. Wir schrieben seit vier Jahren das erste Mal wieder schwarze Zahlen. Ich bekam sogar wieder Urlaubsgeld ausgezahlt. Durch das 13. Gehalt rutschte ich in eine höhere Steuerklasse, wodurch ich im Vergleich zu vorher dann doch nicht mehr verdiente. Wegen der höheren Steuern, verstehen Sie? Aber es geht ja ums Prinzip, oder nicht? Wegen meiner Verdienste und meiner Firmentreue, die in der heutigen Zeit eine Seltenheit sei (so schrieb zumindest unser Vorstand in seinem Brief an mich), erhielt ich die Chance eine Weiterbildung zum Abteilungsleiter zu machen. Nein, nicht nur ich alleine. Manfred Kunz erhielt ebenfalls diese Chance. Wir wurden zu einem Test vorgeladen, ja genau, ähnlich einem Einstellungstest. Jedenfalls entschied ich den Test für mich. Herr Kunz hatte im Bereich „Allgemeinwissen“ die entscheidenden Defizite. Hätte mich auch gewundert, wenn er besser gewesen wäre, schließlich hatte ich die komplette Werksausgabe des Brockhauses zu Hause im Regal. Die Weiterbildung beendete ich drei Jahre später und wurde zum Abteilungsleiter befördert. Sie werden es nicht glauben was meine erste Tätigkeit als Abteilungsleiter war. Herr Kunze reichte mir seine Kündigung ein! Das ist jetzt zwei Jahre her. Soviel zu meinem Lebenslauf. Das mit Herrn Kunze verstehe ich bis heute immer noch nicht, aber der Kunze hat bestimmt seinen Weg gemacht, so fleißig und talentiert wie er war ...
Nachdem er seine Kündigung eingereicht hatte, ging er nach Hause. Er setzte sich vor den Fernseher und dachte nach. Wie auch die kommenden Tage, Monate. Er konnte es einfach nicht verstehen, warum nicht er befördert worden war. Er hatte sich immer für die Firma aufgeopfert, war nie krank und immer für seine Kollegen da. Er wäre der ideale Chef gewesen. Warum nicht er? Diese Fragen stellte er sich tagein tagaus, bis er an fast nichts anderes mehr denken konnte. Diese Fragen zermürbten ihn. Er konnte an fast nichts mehr anderes Denken, bekam das Fernsehprogramm meistens gar nicht einmal mit, so sehr war er mit Nachdenken beschäftigt. Sechs Monate nach seiner Kündigung verließ er nicht einmal mehr das Haus. Seine Freunde und Verwandten machten sich große Sorgen um ihm. Eines Tages schellte es an seiner Tür und ein Mann im weißen Kittel trat ein. Der Mann stellte sich als Arzt vor und fragte, ob er ihn untersuchen dürfe. Er sei von Manfreds Mutter her bestellt geworden. Der Arzt diagnostizierte schwere Depressionen und verschrieb ihm starke Tabletten, die Manfreds Leben jedoch nicht erträglicher machten. Die Stunden in denen er glücklich war wurden von Monat zu Monat weniger und er versank in eine immer tiefere Depression ...
Bitte? Nein, das war alles zu meinem Lebenslauf. Wann erscheint das Interview denn? Ja, danke, mir hat es auch Spaß gemacht. Auf Wiedersehen!