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Nur ein Schritt
Bruno schaute in die Ebene hinunter und atmete tief durch. Frischer Wind wehte aus dem Tal herauf, verfing sich in seinem dunklen Haar und trocknete den Schweiss auf seiner Stirn.
Mit der ersten Gondel des Tages schwebte er rasch auf zweitausend Meter über Meer. Inzwischen war es halb neun Uhr und er stand am Rand der steilen Bergflanke, sein Puls beruhigte sich nur langsam. Es war aber nicht die Anstrengung des letzten Aufstiegs, die seinen Atem schneller gehen liess, eher sein Vorhaben.
Hinter ihm der nackte Fels des Stockhorns, tief unter ihm die weite Flussebene, mitten drin der Thuner- und der Brienzersee. Morgenerwachen, so schön, wie es Hodler nie hätte malen können. Wann hatte er zuletzt solche Gefühle gehabt, dachte Bruno, und wieder ein Stich im Magen.
Etwas weiter gegen Westen, im morgendlichen Dunst, lag friedlich erwachend die Bundeshauptstadt. Und in der Junkerngasse, da wo ein Dach das andere berührt, stand das alte Patrizierhaus mit seinem zum Büro ausgebauten Dachstock einer Vierzimmerwohnung. An einem schönen Tag wie diesem hatte man einen herrlichen Blick auf die Alpen mit ihren schneebedeckten Spitzen. Näher in Richtung Bern erhob sich das Stockhorn mit seiner steil abfallenden Nordflanke. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, dort oben zu stehen, wenn ihn sein überfüllter Schreibtisch stumm anklagte, die letzten Zahlen der Buchhaltung wie rote Dornen auf sein Gemüt drückten und er mit Wehmut auf das Bild im schlichten Holzrahmen blickte. Wann war er zuletzt mit Karin essen gegangen? Wann hatte er überhaupt zuletzt mit seiner Familie zusammen gesessen? Zu viele Überstunden, strapazierte Geduld und Ohnmacht, eine Wende herbeizuführen. Sie redeten nicht mehr viel in den letzten Monaten, ausser wenn der Zahltag erneut ausblieb. Die Firma brauche halt Zeit, der Umschwung käme bestimmt bald, was sind schon zwei Monate Miete im Rückstand. Immer die gleichen beschwichtigenden Worte, hart geworden wie Lehmziegel in der Sonne, aufgebaut zu einer Wand des Selbstbetrugs, die ihn zu erdrücken drohte.
Er blickte nach unten. Und wie wenn der Wind sein Verbündeter zu sein schien, frischte die Brise wieder auf. Ein Geräusch wie Flüstern – auf was wartest du - lag in der Luft. Eine Bergdole flog heran und wurde vom Aufwind sofort erfasst. Mühelos schwebte sie langsam über den Abgrund, höher und immer höher liess sie sich tragen, unbeschwert und leicht. Wie ein Faustschlag erfasste Bruno der Schmerz der Erinnerung, und er füllte rasch seine Lungen mit Luft, bevor seine Augen feucht wurden. Jetzt nur nicht schlapp machen, nicht bevor die unerledigten Dinge bereinigt waren.
Er dachte an das Haus in der Junkerngasse. Er dachte an Erna, die in diesem Augenblick wohl pflichtbewusst in der kleinen, zum Büro umfunktionierten Wohnküche sass und mit bestimmter Stimme einen der zahlreichen Anrufer abwimmelte.
"Tut, mir leid, Herr Sommer ist in einer Besprechung, kann ich ihm etwas ausrichten?"
Bruno wusste, wie sie diese Notlügen satt hatte, doch Erna brauchte den Job, eine Veränderung kam im Moment nicht in Frage.
Ihr Boss, zu beschäftigt um einem Gläubiger kurz Red' und Antwort zu stehen? Ha, dass er nicht lachte. Hinter der noch existierenden Fassade eines scheinbar gut laufenden Ingenieurbüros war alles andere am Laufen, nur nicht das Geschäft.
Rainer Sommer sass eher alleine in seinem Büro, vor ihm stapelweise offener Kundendokumente und Bankauszügen, die ein etwas differenzierteres Bild auf die ach so innovative Jungfirma warf, die sie vor fünf Jahren einmal gewesen war.
Mark Pavoni, die gute Seele und Gründungsmitglied der ersten Stunde, kniete wahrscheinlich schwitzend vor den Firmenrechnern im Keller, aufrichtig bemüht, das veraltete Netzwerk wieder zum Laufen zu bringen. Bruno hatte vergeblich versucht Sommer zu überzeugen, die ganze Informatik auszulagern. Die durch die stetigen Netzausfälle erzeugten Kosten standen insgesamt weit über dem Betrag, der bei einem All-In-One Servicevertrag anfallen würde. Und die restlichen anderen Mitarbeiter taten ihr Bestes, um die serbelnde Firma am Leben zu halten. Sommer verlangte viel von ihnen, er war ein guter Redner, konnte begeistern und beschwichtigen, bis ihm wieder alle aus der Hand frassen.
Keiner wusste, dass er hier oben stand. An einem Ort, wo die Luft erfüllt war vom Duft der Alpenkräuter und das nasse Gras im ersten Sonnenlicht des Tages zu dampfen begann. Ein Kiesel löste sich und fiel immer wieder auf den Felsen aufschlagend in die Tiefe. Er musste unwillkürlich an den zynischen Spruch über den Abgrund denken, der im Büro schon fast zum Mantra geworden war.
Sein Entschluss war gefasst. Er würde nicht länger mit ansehen, wie die Firma schleichend vor die Hunde ging. Nein, er würde vorher einen Schlussstrich ziehen. Noch einmal seinen Willen durchsetzen, noch einmal etwas bewegen, und wenn es der letzte Schritt war, den er für die Firma tat. Bruno holte sein Handy aus der Tasche und drückte die Geschäftsnummer.
"Sommedia AG, Guten Tag". Erna meldete sich gewohnt freundlich, ihr war der Stress der letzten Monate nicht anzumerken, sie war halt einfach ein Profi. Bruno beschlich ein Gefühl von Mitleid.
"Hallo, wer spricht?"
"Oh, Hallo Erna, kann ich mit..."
"BRUNO, na endlich. Herr Sommer hat schon zweimal nach dir gefragt. Ist was passiert?" Die Professionalität war verschwunden. In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis.
Er durfte sie jetzt nicht beunruhigen, das gehörte nicht zu seinem Plan.
"Alles in Ordnung, Erna. Ich wurde aufgehalten. Kann ich kurz Sommer..."
"Ja klar, einen Moment." Ein Knacken in der Leitung, Erna leitete das Gespräch um.
"Hallo Bruno, was ist los?" Dieselbe Besorgnis, wie rührend.
"Hallo Rainer. Ich werde heute nicht mehr ins Büro kommen."
"Oh klasse, bist du krank? Ausgerechnet heute, wo die Zürcher kommen. Geht’s gar nicht? Vielleicht am Nachmittag für zwei Stun..."
"Ich komme gar nicht mehr, Rainer."
"Ok, dann halt morgen. Aber fax mir noch die neuen Projektunterlagen..."
"Nein, Rainer. Ich kündige, ich höre ganz auf."
Am anderen Ende wurde es still. Dann kam die Stimme von Sommer zurück, weniger geschäftsmässig, aber bestimmt.
"Nun mal langsam, Bruno. Das will wohl überlegt sein. Ich meine, wir sind alle etwas angespannt in der letzten Zeit. Ruh' dich heute aus, und morgen sehen wir dann weiter, ok? Das mit den Zürchern kriege ich schon hin, zur Not ist ja auch noch Mark..."
"Nein." Seine Stimme klang nun scharf. "Ich schaue da nicht länger zu, Rainer."
"Aber du hast Familie, hast du daran auch schon gedacht?"
"Hatte ich denn Zeit an sie zu denken? Ich arbeite doch bis in die Nacht, und was bringt es? Meine Ehe geht kaputt und die Kinder bleiben immer gleich alt auf den Fotos im Büro."
Bruno klappte sein Handy zu und schleuderte es mit einem Aufschrei in den Abgrund. Er schaute ihm nach, bis es am Fels zerschellte und in tausend Teile zersplitterte. Er war bereit. Bereit den nächsten Schritt zu tun.
Ein letzter Blick zum Abgrund, in welchen er vorhin sein Handy mit samt seinem alten Leben geschleudert hatte. Er rannte los, rannte über die kurze Wiese Richtung Tal, zog den Gleitschirm gegen den Wind, worauf sich die Kammern mit Luft füllten und er nach wenigen Metern sanft in die Luft gehoben wurde.
Stolz, Freude und ein Kribbeln im Bauch. Wie lange war es her, dass er diese Gefühle gehabt hatte. Bruno gleitete zufrieden über das Tal in eine unbestimmte, aber neue Zukunft. Er musste an Karin denken und jauchzte befreit in den schönen Sommermorgen. Weiter oben zog ein Falke majestätisch seine Kreise.