Nur eine Autofahrt entfernt
Das Auto fährt durch die Nacht. Sie sitzt auf dem Rücksitz, die Beine an den Leib gezogen. Vorne sitzen die beiden Jungen.
Sie hätte fast gelächelt, über ihre ständige Angewohnheit, ihn als einen Jungen zu bezeichnen. Dabei ist er volljährig, und älter als sie.
Es ist morgens, etwa um zwei Uhr. Ein sanfter Nebelschleier liegt über den verschlafenen Straßen der Stadt. Eigentlich ist es zu früh, um schon aus der Disco nach Hause zu fahren, aber die beiden Jungen wollen noch in einen anderen Club gehen.
Sie lehnt ihren heißen Kopf gegen die eiskalte Fensterscheibe, die beschlägt von ihrer fiebrigen Haut.
Man sollte nicht in die Disco gehen, wenn man krank ist.
Er ist so freundlich, sie auf dem Weg bei ihrem Haus rauszuwerfen. Er ist ein netter Kerl. Sie mag ihn sehr gern, und sie sind schon seit einiger Zeit gute Freunde.
Sein Freund ist mit Sicherheit genauso nett, aber ihn mag sie nicht. Wenn die beiden Jungen zusammen sind, sind sie verändert, sie sind kindisch und lachen. Sie kommt sich ausgeschlossen vor, wie sie dort auf dem Rücksitz sitzt wie das kleine Kind, das sie in ihrer beider Augen in diesem Moment wohl ist, wie sie die Regentropfen beobachtet, die auf die Windschutzscheibe prasseln und den Witzen zuhört, die die Beiden machen.
Der Fahrer schiebt eine Kassette in den Rekorder, und sofort dröhnt In Extremo aus den Boxen.
Sie würde ja darum bitten, das Ganze etwas leiser zu machen, weil ihr Kopf schon von dem Lärm in der Disco dröhnt, aber ihre Stimmbänder fühlen sich an als wären sie aus flüssigem Feuer.
Ihr steigen Tränen des Selbstmitleides in die Augen, als sie die beiden Jungen vorne scherzen und lachen hört. Sie ignorieren sie total.
Sie rutscht in die Mitte und beugt sich zwischen ihnen nach vorne. Als sie ihr Spiegelbild sieht, erschrickt sie. Sie sieht aus wie ein Gespenst.
Der Fahrer dreht den Kopf. Sieht sie an. Er flüstert, ganz leise.
Du siehst nicht gut aus, Kleines.
Sie lächelt, indem sie nur den linken Mundwinkel nach oben zieht. Ihre Lippen formen: geht schon.
Sie hört den beiden zu, lächelt, wenn sie Witze machen, betrachtet das Wasser auf der Scheibe, das von den Scheibenwischern hin und her geschoben wird, hin und her, hin und her...
Sie erinnert sich an die Nacht, in der sie neben ihm geschlafen hat, weil sie beide gefroren haben. Sein Körper war warm, sein ganzes Zimmer getränkt von seinem Geruch.
Als das Auto abrupt bremst, schreckt sie auf. Schläfst du etwa? wendet sein Freund sich an sie.
Sie lächelt matt und schüttelt den Kopf. Geht schon, sagt sie wieder.
Der Fahrer legt die Hand auf ihre Stirn. Du glühst ja, sagt er.
Sie nickt nur. Ich weiss.
Das Auto fährt durch die Nacht. Als es schließlich hält, flüstert sie ein leises Gute Nacht und steigt aus. Ihre Augen brennen und sind voller Tränen.
Sie spürt die Augen des Fahrers auf sich ruhen, als sie zur Haustür geht, als sie einmal strauchelt und sich wieder fängt, meint sie, seinen Schreck fast über die Distanz hin spüren zu können.
Würde er aussteigen und ihr helfen, wenn sie jetzt fallen würde? Oder würden sein Freund und er nur lachen...?
Sie erreicht die Tür und schließt sie auf, leise, um ihre Eltern nicht zu wecken. Kurz nachdem in ihrem Zimmer das Licht an- und wieder ausgegangen ist, fährt das Auto los.
Was war denn mit der los? wendet sich der Beifahrer an den Fahrer. Ist die immer so?
Um die Lippen des Fahrers spielt ein leichtes Lächeln. Sie... sie ist etwas Besonderes, sagt er. Für einen Moment wirken seine Augen weich, und seine Lippen beinahe zärtlich.
Aber das Mädchen, das oben in ihrem Zimmer in ihrem kalten Bett liegt, weiss nicht, dass er das gesagt hat. Sie weint sich in den Schlaf.