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Nur zugeschaut

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15.12.2020
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Nur zugeschaut

I – Der Jäger

Es war ein warmer Sonntagnachmittag im Herbst, als er im Park am Stadtrand zum ersten Mal den Impuls vernahm, die Kinder auf der silbernen Rutsche abzulichten. Kaum hatte er die Sonnenreflektionen auf dem Edelstahl in Fokus, erschienen die Kinder als Silhouetten, und die vollen Bäume im Hintergrund als lauerndes Gebirge, das jederzeit als Lawine über den Kleinen zusammenbrechen könnte.

Peter verabschiedete sich an jenem Sonntagnachmittag hektisch von seiner Freundin Gabriela, die wie jedes Wochenende zur Nachtschicht ins Krankenhaus musste. Zwei grobe Küsse verpackte er mit dem Versprechen, für ihr Abendessen, das sein Frühstück sein würde, Lasagna alla Bolognese zu kochen.
„Versuch‘ aber heute Nacht mal, ein paar Stündchen zu schlafen, ja? Du willst ja morgen früh nicht vor deinen Schülern wegnicken. Die Bolognese kann man ruhig mal für ein paar Stunden aus den Augen lassen.“
Gedanklich schon mit der Entscheidung beschäftigt, welche Objektive er später mitnehmen würde, setzte Peter ein Lächeln auf, nickte und schloss die Tür.
Es war kurz nach fünf, als er der Sonne entgegenlächelte. Das Ragout für die Lasagne war bereits am Köcheln. Die Bäume leuchteten in warmen Farben, doch der Himmel gähnte in eintönigem Azur, also packte er für seinen Streifzug zusätzlich zur Kamera mit Kit-Objektiv nur die alte 55-210mm Linse. Normalerweise trug er alle Objektive im Rucksack mit sich. Nur das altes Zoomgeschoss trug er aus Tradition stets in einer Hülle am Gürtel. Das war nach einer Weile unbequem, doch für blitzschnelle Reaktionen während der Jagd ungemein praktisch.
Diesmal also mit leerem Rucksack unterwegs, um das Zoom-Objektiv, falls es nicht gefragt war, von seinem Gürtel abzulegen, durchstreifte Peter mit wie immer wachen Augen ihren Vorort. Unter den Bekannten, die an ihm vorbeihuschten, registrierte er Eltern ehemaliger Schüler von ihm auf dem Weg zum Fußballplatz am Waldrand, sowie einen benachbarten Polizisten, den er besonders wenig ausstehen konnte. Keiner von ihnen sättigte den Hunger seiner Augen.
Einmal mehr erreichte er den Park am Stadtrand. Er hatte ihn schon oft passiert, ohne jemals etwas Interessantes zu finden. Heute ließ er sich dennoch zu einem Blick durch den Sucher hinreißen.
„Ist das denn eine spezielle Kamera?“
Der beißende Duft zu viel billigen Parfums. Patschuli und Jasmin?
Weiterhin mit Blick durch sein Objektiv, wandte sich Peter zur Seite. Eine ältere Frau mit jungen Augen hatte sich dermaßen dicht vor ihn gestellt, dass er selbst mit 16mm-Blick jede einzelne ihrer Furchen abfahren konnte.
„Früher habe ich auch gern fotografiert“, sprach die Dame weiter, „auf Jamaica habe ich echt ein paar tolle, tolle Bilder gemacht…aber dann kamen irgendwann immer mehr Leute in den Weg, das wurde ja gerade in der Zeit ein ganz beliebter Urlaubsort. Wer weiß, wo solche Bilder überall landen könnten, dachte ich mir dann. Wo die heutzutage landen könnten, darüber will ich gar nicht erst nachdenken.“
Peter senkte seine Kamera und lächelte.
„Sie haben recht. Man muss vorsichtig sein.“
Die alte Dame zögerte, dann erzählte sie weiter von Jamaica. Peter nahm eine Detailaufnahme von ihrem linken Auge und ließ sie wortlos stehen. Ihr panischer, finaler Blick in Richtung seines Lichtgewehrs ließ ihn schmunzeln.
Ein paar Minuten später am inneren Rand des Parks, wehten ihm Kinderstimmen entgegen. Sie schienen fern, doch er wusste sofort, dass sie von dem Hügel zu seiner Linken kamen, der in wenigen schnellen Schritten zu erreichen war. Durch sein fleischliches Auge kaum eines Blickes würdig, zückte er das Zoom-Geschoss. Mit einem Kribbeln im Bauch ging er durch den Sucher spähend in Richtung Hügel. Gleich der erste Anblick ließ ihn stocken: Inmitten der Kinderköpfe klaffte ein abscheulicher, schwarzer Fleck.
Fluchend entfernte er das Zoom-Objektiv. Beim Versuch, die Quelle des Flecks unter der Linse auszumachen, durchkreuzten ein paar verirrte Sonnenbündel sein Vorhaben – dann aber lenkten sie seinen Blick zurück in Richtung des Spielplatzes. Das Schimmern auf der silbernen Rutsche ließ seine Knie weich werden.
Peter sah sich um, dann pirschte er sich Stück für Stück näher an den Spielplatz heran. Erst als er den Spielplatz schon betreten hatte, merkte er, dass er das Zoom-Objektiv noch immer in der Hand hielt. Aus den Augenwinkeln spähte er nach argwöhnischen Eltern. Niemand weit und breit.
Sein Blick auf die kleinen Gestalten auf der Rutsche fixiert, öffnete Peter langsam seinen Gürtel. Er entfernte die Hülle des Zoomobjektivs, ließ das Geschoss hineingleiten, und verstaute beides hinter seinem Rücken. Trotz seiner Nähe nahmen die Kinder keine Notiz von ihm. Ein letztes Mal überprüfte er die Lichteinstellungen, dann setzte er zum Schuss an.
Alles andere verstummte und verschwamm. Jedes störende Geräusch, jeder heimliche Zeuge.
Einmal mehr gab es nur ihn und die Schatten und das Licht.
Peter schoss.
Einmal, zweimal, dreimal.
So oft, bis er jedes Lachen, jeden Sprung und jede Drehung der kleinen Silhoutetten eingefangen hatte. Erst, als er schon dabei war, den Spielplatz zu verlassen, wehte ihm neben dem Duft bevorstehenden Regens eine neuerliche Welle aus Paschuli und Jasmin hinterher, von der er gehofft hatte, sie in Zukunft meiden zu können.


II – Die Mutter

„Wir sind doch beide geimpft, Mäuschen, was willst du denn noch?“
Petra betrachtete ihre alte Mutter. Sie war schon wieder außer Atem.
„Eine Spritze, und du fühlst dich sicher? Weißt du, wie viele trotz Doppelimpfung schon verreckt sind?“
„‘Verreckt‘? Und ich dachte, du bist Autorin.“
Petra lachte kopfschüttelnd und ließ ihre Mutter ins Haus.
„Redakteurin, Mama. Redakteurin. Und verrecken ist, finde ich, ein gutes Wort dafür, was bald mit uns allen passieren wird, wenn wir nicht auf uns und unsere Geliebten aufpassen.“
Ihre Mutter betrachte sie mit Sorge.
„Du bist ja ganz bleich, Kind. Wann warst du denn das letzte Mal draußen?“
„Die ganze Pandemie nicht ein einziges Mal!“, preschte der mittlere Sohn, Luis, ins Wohnzimmer und umarmte grinsend seine Großmutter. Petra hielt die Luft an. Ihre Augen weitere sich.
„Luis, sofort lässt du Oma los! Dein letzter Test ist schon drei Tage her!“
Luis sah hoch zu seiner Großmutter, diese zuckte mit den Schultern, lächelte und nickte in Richtung Küche. Luis drehte sich zu Petra, streckte ihr die Zunge heraus, und verschwand die Treppe hoch nach oben. Petra seufzte. Nur noch ein paar Stunden bis zum nächsten Montag. Der Blick von Herrn Maibe, der aus dem Klassenzimmer abgeführt wird, schwirrten ihr nach über dreißig Jahren noch immer einmal wöchentlich im Kopf herum.
„Du übertreibst mit dem Virus-Zeugs, aber trotzdem würde ich mir das von dem kleinen Scheißer nicht gefallen lassen. Du warst schon immer zu locker mit ihnen. Einerseits hast du immer Angst um sie, dass ihnen irgendwas passiert, falls du sie mal drei Sekunden aus den Augen lässt. Anderseits lässt du sie so mit dir umgehen. Wenn die das Mal bei jemand falschem machen, kann ihnen das Lachen aber ganz schnell vergehen…“
Petra kehrte zurück in die Gegenwart.
Du willst mir mal wieder sagen, wie ich meine Kinder zu erziehen habe? Du hattest Glück, dass ich nicht misshandelt wurde, während du auf Jamaica tagsüber schöne Männer abgelichtet hast, und abends mit ihnen herumgevögelt.“
„Wie redest du schon wieder mit deiner armen, alten Mutter? Dich müsste man erziehen, Mädchen, dich…“
„Dafür ist es leider zu spät, Mama.“
Sie schwiegen für ein paar Sekunden, dann setzte sich Petras Mutter auf den Sessel am anderen Wohnzimmerende und seufzte.
„Ich hätte es besser machen können, klar…aber dich will ich mal sehen, wenn dein ach so toller Ehemann die Fliege macht“ –
„Das wird er nicht, Mama, keine Sorge.“
Petras Mutter nickte vor sich hin.
„Hoffen wir‘s, wir wollen‘s hoffen…“
„Was hat dich eigentlich hergebracht, Mama, hm? Du warst schon wieder ganz schön außer Atem. Sag bloß, du bist her gejoggt?“
Ihre Mutter sah verdutzt auf.
„Was mich hergebracht hat? Muss man jetzt schon einen Grund haben, sein Kind und seine Enkelkinder sehen zu wollen? Diese blöde Pandemie macht euch echt alle gaga.“
Petra lachte. Wärme floss in ihre Burst. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal aufrichtig gelacht hatte. Wahrscheinlich bei dem letzten Besuch ihrer Mutter.
„Obwohl, Moment – ich glaube, es gab doch irgendetwas, das ich dir erzählen wollte…“
Petras Antennen registrierten sofort, dass dieser Tonfall nichts Gutes verheißen konnte. Unter ihren Schläfen begann es zu Sticheln und zu Stochern.
„Dieser Kinderschänder in der Nachbarschaft…nein, nein, das war gestern in den Nachrichten, heute war irgendetwas anderes…“
Ein kalter Schauer ergoss sich über Petras Nacken.
„Ah ja, genau, eben im Park“, fuhr ihre Mutter fort, „da war…da war ein merkwürdiger Mann.“
„Ein merkwürdiger Mann?“
„Ja, ein merkwürdiger Mann. Ein Mann mit Kamera.“
Petra fuhr hoch.
„W – wer?!“
Ihre Mutter gestikulierte.
„Woher soll ich das wissen? Ich, ich weiß nicht, ich habe ihn bestimmt schon mal gesehen, du wahrscheinlich auch, aber du kennst mich: ich vergesse die Namen, und, weißt du, immer mehr auch die Gesichter…der Mann, er war höflich, aber – irgendwas an ihm war…komisch.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat er gemacht?“
„Nichts. Zumindest erstmal…“
„Und dann?“
„Na was wohl?“
„Was?!“
„Ich bin ihm gefolgt.“

III – Das Lamm


Pauls Lieblingsfach in der Schule war Deutsch, sein Lieblingslehrer Herr Ebian, der sich während der Stillarbeit immer hinter seinen großen Büchern versteckte, um zu schlafen.
Herr Ebian dachte, niemand wusste davon, doch Paul und seine Klassenkameraden hatten es durch Herr Ebians Schnarchen schnell herausgefunden, kurz nachdem Herr Ebian Herr Faust ersetzt hatte, der man wegen Elternbeschwerden von der Schule geschmissen hatte.
Über Herrn Ebian gab es nie Beschwerden. Die Schüler liebten ihn nicht nur wegen seiner Nickerchen im Unterricht, sondern auch, weil er nie übers Wochenende Hausaufgaben gab; und vor allem deshalb, weil die Geschichten, die er aussuchte, immer solche waren, die den Kindern von den Eltern verboten wurden – weshalb sie im Unterricht immer zwei Geschichten parallel lasen, und Herr Ebian mit den Kindern einen Pakt geschlossen hatte, zu Hause nur von der harmloseren zu erzählen.
Paul lag an einem stürmischen Samstagabend im Herbst in seinem Hochbett und las heimlich eine von Herr Ebians ‚verbotenen‘ Geschichten. Die ausgedruckten Seiten der harmloseren Alibigeschichte griffbereit unterm Kopfkissen, lauschte er zwischen den Zeilen abwechselnd dem Unwetter, das auf seine Dachschräge einschlug, und den Schritten seines Vaters im Erdgeschoss, die am Abend vor einem wichtigen Fußballspiel immer besonders unruhig waren. Sein Vater war Trainer, und Paul der Kapitän des Teams. Paul dachte am Vorabend eines Spiels nie an bevorstehende Taktiken oder die Stärken und Schwächen des nächsten Gegners. Stattdessen wurmte er sich durch dieselben vertrackten Labyrinthe aus rissigem Asphalt, verdächtigen Gesichtern und Spiegelbildern schöner femmes fatales in Neonlicht-getränkten Regenpfützen, wie die lässig-zynischen Privatdetektive aus Herr Ebians verbotenen Noir-Geschichten.
Auch an diesem Abend einmal mehr in schwarzem Parker und mit wachen Augen unterm Hut auf der Jagd nach Unterweltlern, zuckte Paul zusammen, als die Treppenstufen unter seinen Zimmerdielen knarrten.
„Du musst schlafen, Capitano“, kam der Trainer zu ihm.
„Ich brauche dich morgen früh topfit, okay? Wir müssen echt mal wieder gewinnen.“
Er wollte Paul einen Kuss auf die Stirn geben, Paul aber drehte sich schnell weg und versuchte, die Augen fest genug zuzudrücken, um die glänzenden, eingefrorenen Augen seiner Mutter zu zersplittern.
Der Trainer stand noch eine Weile am Bett seines Sohnes, seines Capitanos, seines einzigen verbliebenen Ankers. Dann ging er nach unten und begann ein weiteres Mal von vorne, an der Taktik für das morgige Spiel zu tüfteln.

Anpfiff.
Zuckende, sonnengeblendete Gesichter. Gliedmaßen, die verkrampfen und sich strecken. Paul, verbissen wie noch nie auf der Jagd, nach dem Gegner, nach dem Sieg. Ein versteckter Tritt vom von hinten – eine Sense von Grätsche zur Revanche. Wild maulende Väter; ihre Frauen, die sie davon abhalten, den Platz zu stürmen. Freistoß. Ein Anlauf, ein Schuss – Tor. Kollektiver Jubel. Der Trainer schreit vor Freude und hält seinen Sohn gen Himmel, bis er merkt, dass er besser auch den anderen Spielern gratulieren sollte, um nicht unfreiwillig seinem Ruf gerecht zu werden.

Gegen siebzehn Uhr an jenem schönen Sonntagnachmittag im Herbst brachen die ersten, frisch geduschten Jungs vom Sportplatz am Waldrand auf in Richtung Spielplatz im Park. Paul, noch im Trikot, ging zu seinem Vater, um zu fragen, ob er mitkönne – sein Vater war mitten im Gespräch mit den Eltern von Timmie, der während des Spiels mehrmals ohne Ball in der Nähe den Gegner geschubst und getreten hatte.
„Warte kurz, wir sind gleich fertig“, speiste der Trainer seinen Capitano ab, bevor dieser sprechen konnte.
„Wir haben Timmie noch nie so wütend gesehen“, erklärte Timmies Vater dem Trainer, „aber ich glaube, es war vielleicht sogar ganz gut für ihn. In letzter Zeit ist er echt komisch drauf, er…“
„Er hat uns schon mehrmals von einem merkwürdigen Mann erzählt“, fuhr Timmies Mutter ihm dazwischen.
„Der Mann hat Timmie schon mehrmals beobachtet: In der Nähe der Schule, beim Warten auf dem Bus, auch schon einmal beim Fußballtraining, als ich Timmie ein bisschen zu früh beim Sportplatz abgeliefert hab‘, weil ich am Abend noch ein Meeting hatte.“
„Wir müssen ihn jeden Morgen zwingen, in die Schule zu gehen“, fügte Timmies Vater hinzu. „Nur das Training und das Spiel am Sonntag wecken ihn aktuell aus seiner Paralyse – du solltest also ab und zu ein Auge zudrücken, wenn er mal ein bisschen aggressiv ist. Klar, wenn der Schiri im Spiel keine Lust mehr hat, wie heute, ist es das eine – aber solange er niemandem wehtut, gib ihm nicht das Gefühl, dass er seine aufgestaute Energie nicht rauslassen kann. Kannst du uns den Gefallen tun, Olli?“
Olli nickte.
„Klar, Olaf. Ich werde tun, was ich kann.“
„Wir sind schon in Kontakt mit der Schulleitung“, erklärte Timmies Mutter.
„In der nächsten Konferenz steht die Sache ganz oben auf der Tagesordnung, das hat man uns versichert. Und schon vorher wird einzeln mit allen Lehrkräften gesprochen. Vielleicht weiß jemand was, hat was gesehen oder gehört, vielleicht ist sogar einer der Lehrer“ –
„Dass einer der Lehrer, ehm…involviert ist, davon wollen wir an dieser Stelle natürlich nicht sprechen“, schnitt Timmies Vater, ein Lokalpolitiker, ihr das Wort ab.
„Aber die Schule ist ein vulnerabler Ort – die Gerüchte allein hätte man noch ignorieren können, aber dann die Sache mit Timmie…wir haben sogar schon überlegt, ihn untersuchen zu lassen. Ob er – du weißt schon. Es geht uns einfach nicht in den Kopf, wie nur beobachtet zu werden, so etwas auslösen kann. Wir können nicht mehr ausschließen, dass mehr passiert ist. Aber uns lässt er einfach nicht mehr an sich heran.“
Olli spürte, wie ein Anflug von Schwindel in seinen Kopf stieg und langsam begann, sich darin auszubreiten. Er nickte so verständnisvoll er konnte, und schweifte mit den Augen nervös zwischen Olaf und Tina hin- und her, bis sich der fluktuierende Fokus seiner Linsen endlich auf einen fernen Fleck zerpflügten Rasens in der Leere zwischen den beiden fixieren konnte.
„Habt ihr eigentlich…“, begann er, doch er musste abbrechen und zweimal tief durchatmen. Tina öffnete vorsichtig den Mund, um zur Frage nach seinem Befinden anzusetzen, als ein plötzlicher Impuls Olli herumfahren ließ – mit suchendem Auge blickte er zum Ende des Sportplatzes.
„Wo…wo sind denn alle hin…“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Olaf und Tina, als habe er vergessen, dass die beiden noch immer vor ihm standen. Dann eilte er in Richtung Kabine.
Ich habe dir gesagt, du sollst warten, Junge.
Wehe, du bist wieder weggelaufen.
Nächstes Training: da kannst du laufen, keine Sorge. Zwei Runden für jede verdammte Minute, die ich dir jetzt schon wieder hinterherjagen muss.

IV – Die Jagd

Auf dem Hügel am Rande des Spielplatzes wollte Peter gerade der Jasmin-Patschuli-Fahne hinterherschnüffeln, als die zweite perfekte Harmonie des Nachmittags sich wie von selbst zu komponieren begann: dem fast heimlichen Auftakt der Percussion in der Form flüchtiger Regenfussel, folgte das Erscheinen einer kleinen Silhouette unter einem Baum im Tal, sowie der erste Atemzug eines Regenbogens, der sich über der Baumkrone andeutete. Vom Zoom-Objekt verlassen, bemühte sich Peter, mit den eigenen Augen das Schauspiel in der Ferne zu schärfen. Der feine Sprühregen, illuminiert von den wenigen Sonnenstrahlen, die es schafften, sich zwischen den Wolken hindurchzustehlen, erschien ihm nun wie eine dünne Schicht Filterglas vor der Silhouette, deren ungefilterte Erscheinung die Natur vor ihm bewahren wollte. Es war dieser Gedanke, der ihm den nächsten, entscheidenden Impuls gab.

Knapp zwei Kilometer zurück in Richtung ihres kleinen, ruhigen Vororts, rannte Petra, so schnell sie nur konnte. Zu dieser Zeit, wusste sie, waren viele der Kinder und Eltern aus der Nachbarschaft auf dem Sportplatz versammelt, also war es die perfekte Gelegenheit, die verstörende Erzählung ihrer Mutter als Warnung in die Welt zu setzen. Während Petras Beine schwer wurden, ihr Atem sich zu überschlagen begann, und sie sich dafür verfluchte, sich während des Lockdowns so wenig bewegt zu haben, blitze vor ihrem inneren Auge immer wieder diese eine Szene auf: Die Kinder spielen unbekümmert auf den glänzenden Geräten. Ihr Mittlerer, Luis, im Alter von fünf oder sechs, mit einem breiten Grinsen, erwidert vom schüchternen Lächeln der Nachbarstochter. Die Schulter des Fremden ohne Gesicht, der in Wahrheit womöglich ein Bekannter war. Ein schwarzer Lederhandschuh, der zu seinem Gürtel fährt, und dessen Schnalle langsam öffnet.

Seine Beute fest im Blick, stürmte Peter in das Tal.
Die Symphonie aus Licht und die Umgebung speisenden Schatten, begleitet vom Rhythmus seiner Schritte und Atemzüge, ließ das Blut in seinen Adern bis an die Poren seiner Haut überquellen. Ein warmes Kribbeln durchfloss seinen Körper, schärfte seine Sinne, beflügelte die Füße. In vollem Lauf, ließ sein motorisches Gedächtnis wie von allein die Finger die Rädchen an der Kamera streicheln, als sein fleischliches Augenpaar einen Riss registrierte: Als habe sie Peters Kommen längst bemerkt, kehrte die Silhouette ihm den Rücken zu und riss das Bild entzwei, sodass auch etwas in Peter irreparabel riss. Mit rasendem Herzen und einem Pochen unter den Schläfen hetzte er der Silhouette hinterher – er musste sie zurückholen, das perfekte Bild wiederherstellen, solange die Sonne und die Schatten und die Leere für ihn sangen; solange der Regenbogen sich nur für ihn wölbte, um alle Farben in sich zu bannen und sie allein nach seinem Belieben zu brechen.

Die Kinder.
Wo sind die Kinder?

Petra hielt die Luft an. Der Sportplatz war verwaist.
Allein die Spuren der kleinen Füße auf dem Rasen hatte das Monster von ihnen übriggelassen.
Unsinn. Reiß dich zusammen.
Petra fuhr um sich, schnüffelte. Wonach sie roch, war ihr selbst nicht klar. Die Ausdünstungen ihrer eigenen Angst hinterließen einen Brechreiz in ihrer Kehle. Hinter ihr erklangen Schritte.
„Das Spiel ist vorbei, Petra.“
Tina, Mutter von Timmie, einem Freund von Petras Jüngstem, Oliver. Daneben ihr Ehemann Olaf, dem Petra sofort ansah, dass er Tina erst kürzlich einmal mehr betrogen hatte.
„Wo – wo sind denn alle so schnell hin? Das Spiel ist doch gerade erst fertig geworden!“
Olaf zuckte mit den Schultern. Petra spürte einen Stich in der Brust. Von jetzt auf gleich erhob sie ihre Stimme und raste in Richtung Olaf.
„Kapiert ihr eigentlich, was hier momentan abgeht?! Herr Ebian misshandelt unsere Kinder, und ihr zuckt mit den Schultern?!“
Olaf runzelte die Stirn.
„Herr Ebian?“
Tina nahm eine Hand vors Gesicht und schaute durch ihre zitternden, knochigen Finger.
„Du willst doch nicht…das heißt – es sind wirklich nicht nur Gerüchte? Es könnte wirklich mehr passiert sein, als nur stalken?“
Petra, nun mit lodernden Augen, nickte.
„Aber, er…er wohnt so nah, von mir sind es nicht einmal“ –
„Das ist der Punkt, Tina, verdammt, genau das ist der Punkt!“
Petras Stimme überschlug sich.
„Ich kann von unserem verdammten Balkon aus fast in seine Küche schauen!“
Erneut roch Petra ihre Angst, und sah vor sich ihre Haustür, die von einer schwarz vermummten Hand geöffnet wird. Auf der blanken Leinwand Tinas nun leichenähnlichen Gesichts erblickte sie den blutigen Hinterkopf ihrer Mutter auf dem Boden vor der Haustür – sie wollte schreien, mit ihren Stimmbändern die Bilder zerreißen, doch der überschnelle Ansatz zum nächsten Atemzug schnürte ihr den Hals zu.
Beruhige dich. Sie sind sicher.
Sie sind sicher.
Lass die Angst nicht gewinnen. Du die Nachricht verbreiten.
Lass die Angst nicht gewinnen.
Atme.

Nur ein paar hundert Meter entfernt: Kinderrufe.
„Papa, Papa! Hilfe!“
Paul rannte weiter, so schnell er konnte, indem er sich vorstellte, in der letzten Minute eines Spiels dem Ball hinterherzujagen. Im nächsten Wimpernschlag erblickte er tatsächlich den Sportplatz.
Papa ist bestimmt noch da. Papa wird den komischen Mann stoppen.
„Papa, er holt mich ein!“
Das Spiel war anstrengend genug, ich kann nicht mehr! Papa, meine Beine werden müde!

Der Sportplatz, erhellt von den sterbenden Sonnenstrahlen, rückte näher; dieses weite, vertraute Energiefeld, auf dem er uneinholbar war, unverwundbar.
Papa – warum ist er immer noch so schnell? Warum wird er nicht auch müde?

Peter stoppte abrupt und stolperte und fing sich und schnappte nach Luft und hievte seine schweren Beine weiter der Silhouette hinterher.
Treib sie in Richtung Wald. Auf dem Sportplatz wimmelt es von neugierigen Augen, die nur das sehen werden, was sie sehen wollen, ohne zu verstehen.
Tina, Olaf und Petra erreichten mit böser Vorahnung den Sportplatz. Die Kinder auf den Wippen und Schaukeln, auf den Gerüsten und im Karussell, waren unbeirrt in ihre kleine Welt vertieft.
„Petra, dort drüben, schau!“ – Tina zeigte auf die andere Seite des Spielplatzes, von der aus ein Mann in Richtung der spielenden Kinder blickte, ohne sich zu regen. Petra preschte los.
„Hey, Sie da, lassen Sie verdammt noch mal ihre dreckigen Finger von“ –
Der Mann drehte sich so plötzlich um, das Petra zusammenfuhr. Das von Sorgen zerfahrene Gesicht, das sie erblickte, ließ sie erleichtert seufzen. Es war nur Pauls Vater, Olli.
„Er…er ist nicht hier.“
Unsicher, ob sie Ollis Murmeln richtig verstanden hatte, kam Petra ihm langsam näher. Nun war es seine Angst, die sie roch, nicht ihre. Seine Angst war nicht die tollwütige Panik, die ihr so vertraut war; vielmehr roch Olli nach Resignation, nach der Furcht vor der Schuld der Zukunft, dem ewigen Leugnen der eigenen Fehler, die ihn erst die Frau gekostet hatten, und vielleicht schon das einzige Kind.
„Er ist nicht hier.“
Petra nahm Ollis Hand und sah ihm in die müden Augen.
„Keine Sorge, er ist bestimmt nicht weit weg. Wir werden ihn finden.“
Kaum hatte sie ihren Blick von Ollis gelöst, verpuffte jegliche innere Ruhe, und die Panik floss zurück in ihre Adern.
„Hey, ihr da!“, eilte sie in Richtung der Kinder auf der Wippe.
„Wo ist Paul? Habt ihr Paul gesehen? War jemand hier, der komisch war?“
„Paul ist blöd, er will nie passen, nur selbst schießen!“, beschwerte sich ein kleiner Junge, der noch Fußballerde im Gesicht hatte. Petra ging weiter zur Rutsche, zur Schaukel, zum Karussell.
„Da war ein komischer Mann“, meinte schließlich ein kleines Mädchen, dass ihr bekannt vorkam, ohne dass sie sich an ihren Namen erinnern konnte.
„Er hat Bilder gemacht, aber nur ganz kurz, dann ist er ganz schnell weggerannt.“
„Wie sah der Mann aus?“
„Ehm – also er hatte glaube ich schwarze Klamotten gesehen, aber, aber, er war ganz schnell wieder weg, und vor dem Gesicht war die Kamera, alsooo“ –
„Danke, Kleine, das hilft uns schon mal weiter.“
Petra kehrte um, packte den weiter starren Olli am Arm und schleifte ihn mit sich. Dann wandte sich an Olaf, der mit Tina in ein heikles Gespräch vertieft schien, während Timmie neben ihnen mit gesenktem Blick mit dem Fuß in den Holzschnitzeln auf dem Boden herumstocherte.
„Wenn du ein Kind misshandeln würdest, wo würdest du es tun?“
Olaf schnaubte empört auf.
„Was zum – was denkst du eigentlich, wer du bist, hm? Du spinnst doch! Hast seit Monaten nicht das Haus verlassen, und denkst, du könntest jetzt wie eine Gestörte herumrennen, und alle mit deinem Wahnsinn anstecken!“
Petras Augen zuckten manisch. Ein Grinsen verzog ihre Lippen zur Grimasse.
„Ich bin also die Verrückte, klar, klar...“, murmelte sie leise vor sich hin. Olaf begann erneut, über sie herzuziehen, doch seine Worte rückten für Petra in die unhörbare Ferne. Stattdessen wandte sie sich Tina zu, die mit traurigem, abwesendem Blick zu Timmie schaute, als bekomme sie vom Streit ihres Mannes direkt neben ihr rein gar nichts mit.
Was ist das für eine Frau, dass sie einfach so
„Im Wald.“
Petras Kopf schnellte zur Seite. Olli, scheinbar aus seiner Trance erwacht, wartete mit bohrendem Blick auf ihre Antwort.
„Wenn“ –
Er zögerte, atmete tief durch, versuchte es erneut.
„Wenn ich ein Kind misshandeln würde, würde ich in den Wald gehen.“
Petra nickte, packte Olli erneut am Arm und eilte mit ihm los. Olaf, der sich noch immer über Petra beschwerte, spürte einen Tritt auf den Fuß.
„Hey, was soll das – hat die Spinnerin dich jetzt auch angesteckt?!“
Tinas Augen funkelten. Sie nickte, wandte sich von ihrem Mann ab und folgte mit entschlossenen Schritten Olli und Petra.
Olaf, kurz verblüfft von seiner Tina, deren Blick er soeben nicht wiedererkannt hatte, brauchte noch einen Moment, dann nahm er seinen Sohn an die Hand und schloss sich widerwillig der Jagd nach Herrn Ebian an, wohlwissend, dass es abgesehen von den Erzählungen zweier verrückter alter Frauen keinerlei Beweise dafür gab, dass wirklich irgendjemand misshandelt worden war – auch nicht Timmie, den vielleicht jemand beobachtet hatte, aber mehr als das war nicht passiert, zumindest nicht seinem Timmie, da war er sich mit einem Mal ganz sicher.

Kurz vorm Wald war Peter seiner Beute so nah, dass ein verirrter, fahler Lichtstrahl ihn mit einem Mal erkennen ließ, wen er seit Minuten wie ein Wahnsinniger jagte – es war Paul Kleinmann, einer seiner besten Schüler. Paul Kleinmann, den er erst vor ein paar Wochen gegenüber seinem Vater im Elterngespräch so hoch gelobt hatte…
Von einem Kälteschauer überwältigt, musste Peter innehalten.
Was tust du hier?
Er ließ Paul davonrennen.
Du benimmst dich nicht normal. Du benimmst dich wie ein
Die Luft roch plötzlich anders. Peter sah auf. Der Regen war davongezogen. Ohnehin längst weit entfernt vom Baum, vom Regenbogen, von jeglichen Puzzleteilen des perfekten Bildes, machte er sich enttäuscht auf den Weg nach Hause. Erst, als er wieder den Park passierte, erinnerte er sich, dass er beim Soffritto für das Ragout den Sellerie vergessen hatte. Fluchend kehrte er um und eilte in Richtung Innenstadt.

Petra und Olli, ein paar Meter dahinter Tina, Olaf und Timmie, erreichten mit Einbruch der Dämmerung den Waldrand. Auf dem nassen Waldboden unter einer alten Kastanie entdeckte Olli vor den anderen eine in sich eingesunkene Gestalt. Es war sein Paul, sein Starspieler, sein ein und alles.
„Paul, verdammt, was machst du denn für Sachen?!“
Er ging vor Paul auf die Knie, rüttelte ihn an den Schultern, wartete mit flehendem Blick darauf, dass sein Sohn endlich zu ihm aufsah. Paul reagierte nicht. Erst als Olli mit beiden Händen sein Gesicht umfasste, hob Paul seinen Blick. Alles, was Olli in den Augen seines Sohnes finden konnte, war eine stille Abwesenheit; der Rückzug in sich selbst, vor sich selbst und allen anderen.
Es war der Anblick der Ohnmacht dieses Vaters gegenüber seinem eigenen Sohn, welcher Petra sofort umkehren ließ. Sie brauchte keine Beweise, um zu wissen, warum Paul nicht sprach; warum er durch seinen Vater hindurchsah, in Richtung eines Ortes, der nicht existierte, an dem er sicher war; an dem man alles Geschehene umkehren konnte. Mit pochendem Herzen und einem trockenen Ekel in der Kehle eilte sie nach Hause. Bei jedem Schritt flackerte ihr Küchenfenster vor ihr auf, welches viel zu viel des Innenlebens ihrer heimischen vier Wände preisgab.
Olli sah Petra eine Weile hinterher. Dann versuchte er aufs Neue, auf seinen Paul einzureden, irgendetwas aus ihm herauszubekommen, das seine schlimmsten Ängste beschwichtigen könnte – Paul aber blieb verriegelt, blieb weiterhin nicht wiederzuerkennen. In die Lehre starrend, spürte Olli eine Hand auf seiner Schulter. Gereizt fuhr er herum. Tina erschrak, doch riss sich schnell zusammen.
„Du bist nicht allein, Olli“, erklärte sie ihm sanft.
„Wir alle müssen jetzt zusammenhalten, damit die Kinder heilen können.“
Olli wimmelte sie ab.
„Was erzählst du da, du Spinnerin?!“
Olaf hob drohend den Zeigefinger, Olli ignorierte ihn.
„Paul ist einfach müde, vom Spiel – stimmt’s, Kumpel?“
Er klopfte Paul auf die Schulter. Paul sah mechanisch zu ihm auf und nickte benommen. Dann starrte er zurück in das schwarze Loch im Waldboden.
Olli grinste gezwungen zu Tina.
„Siehst du? Alles wie immer.“
Olaf schüttelte den Kopf, Tina lächelte traurig.
„Olli, ich weiß, es ist hart zu akzeptieren, aber bei Timmie war es genauso – erst die Gerüchte, dann Timmies Erzählung, das kann nicht einfach“ –
„Kümmere du dich um dein Kind und lass meins verdammt nochmal in Ruhe.“
Olli zerrte Paul nach oben.
„Komm, wir gehen.“
Tina und Olaf sahen einander wortlos an. Gemeinsam blickten sie nach unten zu ihrem Timmie, der in der Zwischenzeit unbemerkt Pauls Platz auf dem Waldboden eingenommen hatte. Von dort sprach Timmie seinen ersten Satz des Tages:
„Vielleicht hat Paul auch den komischen Mann getroffen.“
Olaf winkte ab.
„Unsinn. Den komischen Mann hast du dir eingebildet.“
Er reichte seinem Sohn die Hand, ignorierte den perplexen Blick seiner Frau und meinte in plötzlich fast jovialem Tonfall:
„Ich geh noch schnell mal pinkeln, dann geht’s nach Hause und gibt’s heiße Schokolade. Ja?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ er Frau und Kind allein. Seit einer halben Stunde mit voller Blase, erleichterte er sich mit geschlossenen Augen zwischen zwei Tannen. Als er seine Augen wieder öffnete, starrten ihm aus einer schwarzen Maske zwei leuchtende Augapfel entgegen. Olaf hielt kurz inne, dann verwies er den maskierten Mann nur mit seinem Blick in die Untiefen des Waldes. Er begann zu pfeifen, schüttelte lässig die verbliebenen Tropfen Urin von seinem Glied, und kehrte zurück zu seiner Familie, um in der warmen Obhut ihres Heims diesen missratenen Sonntag versöhnlich ausklingen zu lassen.


V – Hinterlassene Spuren

Der nächste Morgen.
Petra sitzt in der Dämmerung allein am reich gedeckten Frühstückstisch.
Ein weiterer Montag. Nach über dreißig Jahren wird dieser graue Herbsttag dem Montag endlich eine neue Bedeutung geben. Montag wird ab sofort der Tag sein, an dem dank ihrer Hilfe eines der vielen Monster dort draußen gefasst und für immer weggesperrt wurde.
Ein paar Häuser weiter verabschiedet sich Timmies Vater von Frau und Sohn. Auf dem Weg zur Arbeit stoppt er an einer Müllhalde und lässt eine kleine, desinfizierte Handkamera inmitten der Millionen Einzelteile eines Abfallbergs verschwinden.
In ihrer Wohnung nahe des Sportplatzes, welche Olli nach dem Verrat seiner Frau mit seinem Paul bezogen hat, frühstücken die beiden stumm. Nach dem Spülen versucht der Vater aufs Neue, mit seinem verstörten Sohn zu sprechen. Paul bleibt verriegelt.
Der Trainer rollt einen Ball in Richtung des Fußes seines Capitanos, der Fuß zeigt keine Regung, der Ball prallt ab.
Beobachtet von Petra auf dem gegenüberliegenden Balkon, klingelt Gabriela, die länger als sonst im Krankenhaus bleiben musste, an der Tür ihrer und Peters Wohnung. Peter erwacht aus seinem Halbschlaf, öffnet ihr verträumt. Sie riecht die Lasagne, grinst, küsst ihn liebevoll.
„Du bist der Beste.“
„Ich gebe mein Bestes.“
„Ich weiß.“
Die Polizei fährt vor. Peters Augen füllen sich mit Panik. Gabriela dreht sich um zum blaugelben Auto, wendet sich zurück an ihren Partner, ihren Liebhaber, ihren besten Freund, den Vater ihrer ungeborenen Kinder. Sie schüttelt den Kopf, Peters Lippe erbebt. Er wendet sich von ihr ab und eilt ins Haus.
Überall sucht er seine Kamera.
Die Bilder sind privat.
Während zwei Polizisten aus dem Auto steigen – einer davon der protzige Nachbar, den Peter besonders wenig ausstehen kann – jagt Gabriela Peter hinterher. Was ist los, fragt sie, was ist passiert, was hast du getan, wieso tust du mir das an – Peter hört die Worte, doch versteht sie nicht. Sie sind weit entfernt.
Du musst nur die Kamera finden, dann wird alles gut. Dann bleibt alles wie es ist.
Als sei gegenüber nichts Besonderes in Gange: Petra und ihre Familie seelenruhig beim Frühstück. Es ist der erste Tag nach all den Monaten, an dem der Mittlere und die Älteste wieder Präsenzunterricht haben. Petras Mann steht auf, um die beiden zur Schule zu bringen, als Petra niesen muss.
„Corona, Corona!“, schreien die Kinder, ihr Vater weist sie zurecht, dass sie über so etwas keine Witze machen sollten.
Petra schnüffelt, muss erneut niesen. Sie steht auf, geht zu ihrem Mann, schnüffelt an seinem Haar.
„Schatz, du riechst – nach Kastanien…“
Ihr Mann runzelt die Stirn.
„Kastanien?“
Ein paar Sekunden lang starren sei einander wortlos an. Petra sucht in seinen Augen eine Antwort, doch findet nur eine weiß-braun-schwarze Mauer.
„Da fällt mir ein, das Meeting heute wurde eine halbe Stunde nach vorne geschoben – Luis, Anna, kommt – ich kann wirklich nicht zu spät sein.“
Zu spät. Zu spät.
„Ach so, jetzt fällt es mir wieder ein“, wendet ihr Mann sich wieder an Petra, „ich habe beim Spaziergang gestern Kastanien gefunden – im Ofen mit ein bisschen Honig sind die bestimmt superlecker.“
Er gibt ihr einen Kuss, und spürt, wie dieser nicht erwidert wird.
„Tom – wie lange sind wir jetzt verheiratet?“
„Neunzehn – was meinst du?“
„Du weist genau, dass ich gegen Kastanien allergisch bin.“
Das Lächeln ihres Mannes weicht. Sein Blick verändert sich. Petra sieht die weiß-braun-schwarze Mauer fallen, und erkennt das rohe, nackte Fleisch unter der Maske.
Peter, in Handschellen, wird von den Polizisten ins Auto gepfercht.
Wieso hast du nicht alle Bilder auf die Festplatte verschoben. Wieso nur die, die dir am besten gefallen…
Gabriela steht kopfschüttelnd auf der Türschwelle und starrt zum blaugelben Auto. Tränen bilden sich auf ihrer Netzhaut, doch weigern sich, zu fließen. Ihr verschwommener Blick schaut durch alles hindurch, irgendwo hin, wo alles still ist, alles körperlos schwebt, ohne morgen, ohne gestern.
Der protzige Polizist am Steuer will gerade losfahren, als ein Anruf reinkommt.
Gabriela beobachtet, ohne zu sehen, wie der Blick des Polizisten von ihrer und Peters Wohnung hin zum Haus mit dem Balkon gegenüber schweift. Sie versucht, sich zu erinnern, wer in diesem Haus wohnt, doch im Ordner Unser Zuhause auf ihrer Festplatte sind schon alle Daten endgültig gelöscht, auch die der Nachbarn.
Der Polizist auf dem Beifahrersitz betrachtet Peter hin- und hergerissen.
Peter schaut fragend. Die beiden Polizisten geleiten ihn aus dem Auto und zurück zu seiner Wohnungstür.
„Entschuldigen Sie. Sie waren wohl der Falsche.“
Gabriela beginnt starr und still zu weinen. Peter will ihr um den Hals fallen, sie weicht zurück und schiebt ihn durch den Türrahmen hinein ins Haus. Ein verächtlicher Blick in Richtung der Bullenschweine, dann wendet sie sich von ihnen ab.
„Kennt ihr die Familie dort drüben?“, hakt einer der Polizisten hastig nach. Gabriela schlägt die Tür zu.
Peter, mit Teller im Schoß zitternd auf der Couch im Wohnzimmer, neben sich seine Kamera. Gabriela geht in die Küche, um die Lasagne zu holen.
Peter beruhigt seinen Atem.
Du hast nur die Bilder gemacht. Gesichter, Lichter, Schatten. Dieselben Bilder wie immer.
Gabriela, mit der dampfenden Lasagne in der Hand, hält auf der Schwelle zum Wohnzimmer inne. Peter sieht verwundert zu ihr auf.
Während sie zum ersten Mal das rohe, nackte Fleisch unter seine Maske zu erblicken glaubt, registrieren seine Augen das grelle Morgenlicht, das durch das große Wohnzimmerfenster zu ihnen hinein fällt. Nur Gabrielas linke Gesichtshälfte erhellt sich, umspielt vom heißen Dampf, der von der Lasagneform aufsteigt.
Peters rechte Hand greift wie von allein nach seiner Kamera, führt sie nach oben, richtet sie auf die nur für ihn zusammengesetzte Komposition aus Licht und Schatten und Dampf und den zarten Zügen seiner Liebhaberin und Muse, seiner besten Freundin und zukünftigen Ehefrau, der Mutter seiner ungeborenen Kinder. Plötzlich von Schwindel befallen, wagt Gabriela wankend den nächsten Schritt hinein ins Wohnzimmer. All ihre Sinne auf das Halten der schweren, heißen Lasagnenform zentriert, sieht sie verschwommen durch den Dampf hindurch, wie Peter seine freie Hand erhebt – mehr zu sich als zu ihr, meint er mit einer Stimme, die sie noch nie gehört hat:
„Halte still, mein Kind. Halte still.“

 

Ich mache das gar nicht bewusst, @paulhoban98, es ist tatsächlich so, dass ich eine bestimmte Sprache physisch nicht ertrage. Und oft ist das die Sprache, die ich Schreibanfängern zuschreibe. Ich denke, dass hat mit einer Angst zu tun, sich erneut mit dieser Sprache zu infizieren.
Dann lies bloß kein Christan Kracht!
Oh Gott, was für ein billiger Abklatsch von... das doch war!
Klar, die Gefahr besteht leider immer...deshalb versuche ich zumindest, immer sehr verschiedene Autoren hintereinander zu lesen. Und zum Beispiel Kendrick Lamar hört gar kein anderen Hip Hop, wenn er ein Album aufnimmt - ähnlich wie du sagst, um sich nicht mit äußerem Einfluss zu infizieren. Ist schon ein interessanter Ansatz.

Aber pass auf, wie wärs denn mit Folgendem: 1. Schreib doch mal testweise selbst die ersten beiden Sätze neu, sodass sie die Kritik aus den Kommentaren beherzigen. Musst du dann ja nicht übernehmen. Nur, um mal zu sehen, wie zum Beispiel eine lebendigere Sprache bei dir klingt.
Das werde ich auf jeden Fall tun. Muss gucken, ob ich noch in diesem Jahr dazu komme.
2. Mach doch mal konkret Werbung für deinen Text. Was hat der Leser konkret von der Lektüre? Was soll ihm ganz konkret geboten werden, was soll er lernen, worüber soll er sich wundern, was ganz genau soll ihm Genuss bereiten usw.? Ich denke, diese beiden "Aufgaben" würden die Diskussion hier weiterbringen, denn dann haben wir Schwarz auf Weiss:
1. Wie steht es um deine lebendige Sprache, mit der du bewusst zu brechen behauptest.
2. Deine Meinung, was dein Text ganz konkret leistet.
Zu beidem kann man dann als Kommentator wieder etwas sagen.
Das lass ich mir nochmal durch den Kopf gehen. Ist ansich sehr counterintuitive, weil man dann ja die Geschichte nicht mehr lesen muss, wenn der Autor schon alles toterklärt. Und nachher kann man ja theoretisch alles irgendwie rechrfertigen, auch wenn es gar nicht so intendiert wad bzw. rauskam. Aber vielleicht werde ich später versuchen, diese Fragen als Test erstmal für mich zu beantworten, und dann danach eventuell auch hier.

Grüße,
Paul

 

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