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O Tannenbaum
O Tannenbaum, o Tannenbaum!
Dein Kleid will mich was lehren …
„Hey, Sarah, werd wach.“
Prompt schlug seine kleine Schwester die Augen auf und setzte sich aufrecht hin.
Paul war wie immer fasziniert, wie schnell sie doch wach wurde. Wenn Mutter ihn weckte, hatte er jedesmal das Gefühl, er müsse sich selbst aus einem schleimigen Sumpf befreien, der ihn mit jedem Versuch immer tiefer in sich hineinzog. Ganz anders hingegen war es bei seiner Schwester; hier wirkte es jedesmal, als wäre sie nie zu Bett gegangen.
Sarah griff nach Mister Puh, ihrem Teddy, drückte ihn an ihr Nachthemd und sah Paul mit großen Augen an. „Ist der Weihnachtsmann gekommen, Paul?“
Er streckte ihr die Hand entgegen. „Los, wir sehen nach.“
Für heute Nacht hatte er sich extra den Wecker gestellt und ihn behutsam unter seinem Kopfkissen verstaut, damit wirklich nur er ihn hören würde. Er und Sarah hatten sich nämlich für dieses Jahr vorgenommen, den Weihnachtsmann auf frischer Tat zu ertappen. Natürlich war Paul bewusst, dass es den roten Mann mit dem weißen Bart in Wirklichkeit gar nicht gab, dafür verhielten sich seine Eltern immer viel zu auffällig. „So, Kinder, heute müsst ihr früh zu Bett gehen, damit der Weihnachtsmann auch wirklich kommt.“ – „So, Kinder, denkt daran, nicht noch einmal aufzustehen, damit der Weihnachtsmann nicht gestört wird.“ – „Es gibt keine Geschenke, wenn der Weihnachtsmann merkt, dass man ihn beobachtet, Kinder.“ – „Nein, nicht in den Kleiderschrank gucken, da hat Mama was gegen Motten reingesprüht, und das ist giftig für Kinder.“ Und so weiter. Ausreden um Ausreden. Paul grinste breit, während Sarah aus dem Bett stieg.
„Darf Mister Puh auch mitkommen?“, fragte sie leise.
„Na klar“, antwortete Paul.
Es freute ihn, dass sie an den Weihnachtsmann glaubte; mit vier Jahren sollte man das auch noch tun, fand er. Und Paul hatte auch keinesfalls vor, seiner Schwester diese Illusion zu nehmen; er würde sie zur Wohnzimmertür führen, und dort würden sie heimlich lauschen. Vielleicht würde er sie auch auf das seltsame Hufgeräusch auf dem Dach aufmerksam machen, das mit Sicherheit von den wartenden Rentieren stammte.
„Nun komm schon, Paul. Sonst isser gleich weg.“
Wieder lächelte Paul, während er seiner Schwester zur Tür folgte.
*
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die quietschende Treppe hinunter in das Erdgeschoss überwunden hatten. Sarah hatte jedes Mal gekichert, wenn die Stufen unter Pauls Füßen so laute Geräusche von sich gaben, dass sie der Weihnachtsmann wohl schon am Nordpol hätte hören müssen. Und jedes Mal, wenn Paul daraufhin seinen Finger vor den Mund hielt und ein lautes Pscht über seine Lippen kam, hatte sie ihren Teddy vors Gesicht gedrückt und in ihn hineingegluckst. In solchen Momenten fühlte sich Paul immer richtig groß, schließlich war er auch schon fünf Jahre älter. Insgeheim war er mächtig stolz darauf, ein großer Bruder zu sein.
Sie hatten die vorletzte Stufe erreicht. Der Vorraum am Fuße der Treppe wurde von einer kleinen Lampe, die sich auf einem ebenfalls kleinen Tisch neben der Treppe befand, schemenhaft beleuchtet.
Paul blieb stehen und lauschte. Er spürte, wie sich Sarahs kleine Finger in seinen Schlafpulli krallten. „Was, wenn er uns sieht, Paul?“
Er blickte ihr ins Gesicht. „Wir müssen halt aufpassen.“ Als ihre Augen erschrocken größer wurden, fügte er lächelnd hinzu: „Hey, keine Angst. Er wird uns nicht sehen. Versprochen.“
„Ganz großes, ehrliches Versprochen?“
Paul legte die Hand auf sein Herz. „Ganz großes, ehrliches Versprechen.“
Jetzt lächelte sie ebenfalls.
Als sie um die Ecke herum in den Flur blickten, erkannten sie an dessen Ende die Tür zum Wohnzimmer. Der Lichtschein, der unter ihr hindurchfiel, erhellte die Dielenbretter bis etwa einen Meter in den Flur hinein.
Wieder krallte sich Sarah an Pauls Arm, diesmal so fest, dass es ihm weh tat. Doch er sagte nichts.
Hinter der dunklen Kommode, auf der Vater immer die Autoschlüssel ablegte, gingen sie in Deckung und verharrten dort. Keiner traute sich, etwas zu sagen, und Paul war bemüht, nicht allzu laut zu atmen. Irgendwie war alles doch ein wenig unheimlicher, als er vermutet hatte.
Nach einer Weile lugte er vorsichtig um die Ecke des Schrankes herum und blickte den Flur entlang. Bis zur Wohnzimmertür waren es gut zehn Meter, schätzte er. Ein Weg, der normalerweise kein Problem darstellte, allerdings jetzt, so ganz ohne Deckung …
Ein schneller Schatten hinter der Tür durchbrach den Lichtkegel auf dem Boden, und blitzartig wich Paul wieder zurück hinter die Kommode.
„Hast du ihn gesehen?“, fragte Sarah aufgeregt. Ihre Stimme klang unsicher.
Pauls Herz raste. „Ich … ich weiß nicht genau.“ In Wahrheit wusste er natürlich, dass er lediglich den Schatten seines Vaters oder seiner Mutter gesehen hatte. Natürlich, wen denn sonst? Paul grinste nervös, doch bewirkte das keinerlei Änderung in Sarahs ängstlichem Gesichtsausdruck.
„Vielleicht sollten wir doch lieber wieder ins Bett gehen. Was meinst du, Paul?“
Er überlegte kurz, spürte, wie sein Herz begann, wieder ruhiger zu schlagen. Er fror, ließ sich allerdings nichts anmerken. Als großer Bruder zeigte man keine Schwächen. „Lass uns ein Stückchen näher ran gehen“, flüsterte er. „Aber keinen Mucks, hörst du?“
Sarah nickte hastig.
Als sie sich gut fünf Minuten später neben der Wohnzimmertür befanden, schlug Pauls Herz wieder dermaßen heftig, dass er es sogar in dem schummrigen Flurlicht durch seinen Pulli hindurch sehen konnte. Sein Grinsen, das er extra aufgesetzt hatte, um Sarah zu beruhigen, wirkte hölzern, und jedes Mal, wenn er seine kleine Schwester ansah, wurde ihr Blick ängstlicher. Also versuchte er es gar nicht mehr.
Sie hatten sich rechts neben der Tür an die Wand gekauert, und noch immer fiel der Lichtstrahl unter ihr hindurch auf die polierten Bodenbretter. Einen Schatten konnte Paul allerdings nicht mehr ausmachen. Sarah zupfte an seinem Ärmel, und er war kurz davor, laut aufzuschreien.
„Was ist?“, zischte er.
Sarahs Augen wurden glasig, sofort bereute Paul seine übertriebene Reaktion und nahm seine Schwester in den Arm.
„Paul, ich hab ein bisschen Angst“, wimmerte sie leise. „Ein bisschen viel sogar.“
„Ich glaube, er ist schon wieder weg“, sagte er. „Ich guck mal durchs Schlüsselloch, okay?“
Nur mühsam gelang es ihm, Sarahs zitternden Arm von seinem zu lösen. Er stand auf und sah noch einmal zu ihr hinunter. Sie hatte Mister Puh fest gegen ihre Brust gedrückt, und zum ersten Mal tat sie ihm ein wenig leid. Was, wenn sie wegen dieser Sache hier Albträume bekäme? Naja, er würde dann in den sauren Apfel beißen, und sie bei sich im Bett schlafen lassen. Da bekam sie seltsamerweise nie Albträume, drehte sich aber immer dermaßen in seine Decke ein, dass er mehrmals pro Nacht aufwachte und am ganzen Leib schlotterte. Er wandte seinen Blick ab und guckte durchs Schlüsselloch.
Das Wohnzimmer war schemenhaft beleuchtet, doch konnte Paul nicht ausmachen, von welcher Quelle das Licht stammte. Die Deckenbeleuchtung war es nicht, soviel stand fest. Dafür war es zu dunkel.
In der hinteren Ecke konnte er den Fernseher erkennen, daneben einen Teil des Sofas, auf dem Mutters gelbes Kissen lag. Auf der anderen Seite sah er einige Äste des Weihnachtsbaumes. Er lauschte, doch hinter der Tür rührte sich nichts.
Irgendwie konnte das nicht sein. Noch vor wenigen Minuten hatte er doch diesen Schatten gesehen. Und eine weitere Tür, über die seine Eltern den Raum hätten verlassen können, gab es nicht.
„Siehst du was?“
Erneut erschrak Paul, als die Stimme seiner Schwester unmittelbar neben seinem Ohr ertönte.
„Erschreck mich bitte nicht so“, sagte er leise und unterstrich das Ganze mit seinem freundlichstem Lächeln, das ihm zurzeit möglich war, um nicht wieder böse zu klingen. „Ich glaube, da ist keiner mehr drin.“
Genau, der Schatten muss irgendetwas anderes gewesen sein. Ja genau. Paul wusste im Augenblick zwar nicht was, aber irgendeine logische Erklärung würde es schon geben.
„Was meinst du, sollen wir mal hinein gehen?“, fragte er.
- „Es gibt keine Geschenke, wenn der Weihnachtsmann merkt, dass man ihn beobachtet, Kinder.“ – Mutters Stimme schien ihn zu verhöhnen.
Sarah drückte ihre Wange an die von Mister Puh. „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Denkst du denn, dass er wirklich nicht mehr da drin ist?“
„Bestimmt nicht.“ Mit Sicherheit saßen Mama und Papa auf dem Sofa, so dass er sie nicht durch das Schlüsselloch hatte sehen können, und mit Sicherheit würde er ordentlich Ärger bekommen. Aber um nichts in der Welt konnte er jetzt einfach so wieder nach oben gehen. Was denn, wenn ihnen irgendwas passiert war?
- „Es gibt keine Geschenke, wenn der Weihnachtsmann merkt, dass man ihn beobachtet, Kinder.“ -
Langsam öffnete er die Tür, und sie traten ein.
*
Sanfter Duft nach Zimt umfing sie, gepaart mit etwas anderem, das Paul im Augenblick noch nicht zuordnen konnte. Er rümpfte die Nase. War es der Geruch nach Walderde?
Er ließ seinen Blick wandern; über die vertrauten Möbel, dem Sofa, auf dem sie abends immer noch kuscheln durften, während Spongebob lief, dem Beistelltisch mit der Schüssel und den Süßigkeiten darin, dem flauschigen Teppich. Jetzt war Paul auf einmal alles so fremd. Eindeutig spürte er, dass hier etwas nicht stimmte, und das lag nicht nur an diesem undefinierbaren Geruch. Ihre Eltern waren nicht im Zimmer. Niemand war im Zimmer, niemand außer ihm und dem kleinen Mädchen, das ihren Teddy fest im Arm hielt.
Er starrte auf die gewaltige Tanne, deren Spitze abgeschnitten war, damit sie überhaupt in diesen Raum passte, starrte auf die roten Kugeln, die seiner Meinung nach irgendwie unecht wirkten. Unecht von der Farbe her, denn so ein intensives Rot hatte er noch nie zuvor gesehen. Er starrte auf die Lichterkette, durch deren sanften Schein die roten Kugeln noch roter wirkten.
„Wow“, hörte er Sarah neben sich. „Da hat sich der Weihnachtsmann ja richtig ins Zeug gelegt. Findest du nicht, Paul?“
Paul nickte nur und konnte den Blick nicht von diesen Kugeln abwenden. Nach einer Weile stellte er zudem fest, dass unter dem Baum keine Geschenke lagen. Die hellen Fliesen waren leer, abgesehen von einigen Tannennadeln. Und gerade die waren es, die Pauls Aufmerksamkeit nun vollends in Anspruch nahmen. Er blinzelte, doch an dem Bild, das sich ihm bot, änderte es nichts. Was er da sah, konnte einfach nicht sein.
Er blickte neben sich und erkannte, dass auch Sarah dieses seltsame Phänomen entdeckt haben musste. „Was ist das, Paul?“
„Keine Ahnung“, sagte er leise. „Ich meine: Es sind Tannennadeln.“
„Das weiß ich doch selbst, du Doofkopf. Aber warum liegen sie so komisch?“
Darauf hatte auch Paul keine Antwort. Sie lagen nicht wirr, wie zufällig herabgerieselt da, nein, sie hatten eine strenge Anordnung. Beinahe wie eine Reihe liegender Soldaten waren sie positioniert, ihre winzigen Spitzen genau in Richtung …
Paul folgte ihrer Verlängerung und endete am roten Zehennagel seiner Schwester. Er lächelte, als er kurz daran dachte, wie Mutter ihr gestern die winzigen Fußnägel lackiert hatte, nachdem Sarah ihr mit ernster Miene und fest umklammertem Mister Puh erklärte, dass eine Prinzessin so was schließlich habe.
„Das ist aber komisch, Paul.“ Sarah riss ihn aus seinen Gedanken.
Wieder fixierte er die Nadeln. Waren es mehr geworden? Auch wenn, sie hatten ihre Position beibehalten. Paul wich einen Schritt zurück. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass hier etwas ganz und gar nicht richtig war. Und ebenso klar wurde ihm, dass er mit Sarah schnellstens hier abhauen sollte.
In dem Moment, als Paul sich die Frage stellte, wo ihre Eltern waren, begann das Licht der Kette am Baum zu flackern. Blitzartig schossen die am Boden liegenden Nadeln nach vorn, verschwanden aus Pauls Blickfeld, und als er schreiend zu Sarah starrte, sah er die grünen Spitzen unter ihrem roten Zehennagel stecken. Immer mehr Nadeln schossen heran und bohrten sich dorthin, wo eigentlich gar kein Platz mehr war. Warum schrie sie nicht?
Paul sah, wie der winzige, rot lackierte Nagel nach oben klappte, als immer mehr Nadeln sich in das zarte Fleisch darunter bohrten. Sarahs Mund stand weit offen, ebenso ihre Augen, doch sie schrie einfach nicht.
Ein harziger Geruch durchdrang den Raum, penetrant und beißend. Pauls Beine bewegten sich mechanisch. Schritt für Schritt zurück. Er sah, wie Sarahs Knie zu zittern begannen, sah Mister Puh, den sie so fest umklammerte, dass sie ihm dabei einen Arm ausriss. Immer mehr Nadeln lösten sich vom Baum, prasselten wie winzige Hagelkörner zu Boden, richteten sich aus und schossen blitzartig in den Zeh seiner Schwester.
Paul sah, wie sich die Haut ihres Fußes an den Seiten dehnte und Sekunden später aufplatzte, wie eine zu lang gekochte Kartoffel. Hunderte mit winzigen Fleischstücken beschmierte Nadeln quollen heraus, um sich kurz darauf wieder hineinzubohren, wie Maden in einen toten Kadaver.
Sarah ließ Mister Puh fallen, ihre Knie knickten ein, und sie schlug hart am Boden auf. Paul schrie weiter. Warum konnte er ihr nicht helfen? Seine Beine waren wie aus Eisen. Gingen nur rückwärts, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. „Mama!“, kreischte er.
Sarahs Fuß war nicht mehr zu sehen; über und über war er mit zuckenden Nadeln bedeckt, die einen scheinbar ausweglosen Kampf fochten, in ihr Fleisch einzudringen. Ihr Körper wurde gedreht, und Paul erkannte, wie er sich langsam in Richtung des Baumes bewegte; den aufgeplatzten Fuß voran, gezogen von einer unsichtbaren Kraft.
Ein ohrenbetäubendes Raunen ging durch den Raum, und Paul meinte, der Baum hätte sich bewegt. Als er nach oben blickte, sah er die abgeschnittene Spitze, die genau in seine Richtung wies und ihn, einem dämonischen Auge gleich, anstarrte.
Jetzt war Sarahs Bein unter den Ästen verschwunden. Paul kreischte weiter, als seine Schwester genau zu ihm herüber blickte und leise „Paul“ sagte. Er konnte es nicht hören, doch erkannte er es an ihrer Mundbewegung. Er hörte ihre kleine Stimme in seinem Kopf: „Warum mussten wir denn hier runter gehen?“ – „Es tut doch so weh, Paul.“
Ein grauenvolles Knirschen, gefolgt von einem Knacken, das sich anhörte, als bräche ein dicker, trockener Ast, platzte durch den Raum. Sarah dreht die Augen so weit nach oben, dass Paul nur noch das Weiße erkennen konnte. Etwas spritzte aus ihrem Mund bis zum herausgerissenen Arm von Mister Puh.
Noch einmal knackte es, kurz darauf ein weiteres Mal. Dann war Sarah unter dem Baum verschwunden.
Die daraufhin folgende Stille wurde nur durch Pauls abgehacktes Wimmern durchdrungen. Er stieß mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür, ließ den Baum nicht aus den Augen. Die abgeschnittene Spitze endete wieder kurz unterhalb der Zimmerdecke. Die unnatürlich roten Kugeln wirkten jetzt noch roter.
Da lag Mister Puh, sein kleiner Arm etwas abseits. Etwas glänzte auf den Fliesen ganz in der Nähe des Baumes. Es war der goldene Ehering seines Vaters. Mutters Halskette lag daneben.
Seine zitternden Finger griffen nach dem Türgriff. Wieder fiel sein Blick auf diese Kugeln, und jetzt erkannte Paul, dass sich darin etwas bewegte. Er wollte nicht wissen, was es war, schrie innerlich, als er es erkannte. „Es gibt keine Geschenke, wenn der Weihnachtsmann merkt, dass man ihn beobachtet, Kinder.“ In der Kugel schwamm ein Auge; in einer der anderen ein winziger Finger ...
Erneut rieselten einige Nadeln vom Baum.