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Oberflächen
Ein Verwirrspiel. Und ich dazwischen. Verwirrt. Um eine Wahl komme ich nicht herum.
Sie haben mich in diesen Raum gesteckt, damit ich Klarheit schaffe. Haben mir gesagt, dass ich es nur alleine schaffen kann. Links der Spiegel, rechts das Fenster. Ich glaube, es ist ein Test. Einer von diesen psychologischen Sezierversuchen, den die Leute an der Universität lernen. Man trifft eine Entscheidung und dann nicken sie und murmeln Sachen und schreiben unleserliche Notizen auf ihre Klemmbretter. Ich habe ein mulmiges Gefühl. Keine Ahnung, was dieser Test über mich aussagen soll. Wenn ich es wüsste, würde mir die Entscheidung sicher leichter fallen. Nun ja, wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie mir den Sinn des Tests nicht verraten. Ich sehe sie an dem runden Fenster neben der Tür stehen. Sie beobachten mich.
"Hey, keine Panik", rufe ich zu ihnen herüber. "Noch passiert hier gar nichts, ok? Ich stehe hier und schaue mir den Raum an, also weitergehen, weitergehen, es gibt hier nichts zu sehen."
Ich weiß nicht, ob sie mich hören können, aber vermutlich schon. Die Tür ist sehr dick gepolstert. In weiß. Wahrscheinlich Polyester-Schaum. Die Leute an dem runden Fenster in der Tür fangen sofort an zu nicken, zu murmeln und sich Notizen zu machen. Ich lache verächtlich. Natürlich hören sie mich. Ich beachte sie nicht weiter und wende mich dem Raum zu. Er ist weiß gekachelt. Die Kacheln glänzen. Sind wohl frisch geputzt. Ich strecke die Hand aus und mache einen dicken Fingerabdruck mit dem rechten Daumen in die Mitte einer Kachel in Augenhöhe. Auf die Kachel daneben mache ich noch einen. Sicherheitshalber. Wer weiß, wie aufmerksam das Reinigungspersonal hier ist. Einen einzelnen Fingerabdruck kann man leicht übersehen. Kalt sind die Kacheln. Ein kühler Kachelwind streift mir um die nackten Beine und macht mir eine Gänsehaut.
Der Raum ist rechteckig. Lang und schmal. Wie ein Korridor. Allerdings viel kürzer. Ein kurzer Korridor mit langen Seiten. Blöde Beschreibung. Aber wie sonst will man einen rechteckigen Raum, der sehr klein ist, beschreiben? Die Seiten, an die Spiegel und Fenster eingelassen sind, sind länger als Kopf- und Türseite.
Ich schaue über die Schulter zur Tür. Die Leute sind noch da. "Okay, dann lasst uns sehen, welchen Idiotentest Ihr Euch für mich ausgedacht habt", rufe ich und mache das Daumen-hoch-Zeichen zu ihnen. Dabei grinse ich. Warum ich das tue, weiß ich nicht.
Gut, also links der Spiegel und rechts das Fenster. Draußen ist es dunkel und ich kann mich in dem Fenster beinahe ebenso gut spiegeln wie in dem Spiegel. Die beiden Oberflächen befinden sich exakt auf gleicher Höhe und sind exakt gleich groß. Eine glatte Oberfläche spiegelt eine glatte Oberfläche. Ein ausgesprochen guter Effekt. Leider steht man selber immer im Weg, wenn man ihn beobachten will. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, einmal die unendliche Spiegelung zweier gegenüber liegender Oberflächen ungestört betrachten zu können. Ohne dass jemand oder etwas das Blickfeld stört. Vielleicht würde man auch verrückt werden dadurch. Auf der anderen Seite – ich bin ja schon verrückt. Warum sonst wäre ich hier? Andererseits lägen in dieser Unendlichkeit vielleicht der Frieden und die Stille, die ich so dringend benötige. Lauter Vielleichts. Solche Fragen wird man nie klären, wenn man es nicht ausprobiert.
Die Oberflächen sind einander so ähnlich und doch sind sie vollkommen unterschiedlich. Und vollkommen vollkommen.
Ich wende mich der linken zu und mein alter ego, das sie wiedergibt, wendet sich rechts herum. Aus seiner Sicht gesehen. Eine glatte Oberfläche - alles, was Recht ist. Augen schauen mich an. Meine Augen. Die Augen seien der Spiegel der Seele, heißt es. Ich habe das immer wieder überprüft. Stundenlang saß ich vor dem Spiegel und habe meine Spiegel betrachtet. Habe versucht, sie losgelöst von allem zu sehen. Losgelöst von dem, was ich bin. Habe versucht herauszufinden, ob sie irgendwie traurig aussehen. Oder ängstlich. Oder verbittert. Und auch jetzt versuche ich es. In diesem kalten Raum, in dem ich ein Kaninchen bin. Aber sie bleiben, was sie sind. Zwei Augäpfel. Angeschlossen an eine aberwitzige Kabelage von Nervenzellen und Blutgefäßen. Gefüllt mit – mit was eigentlich? Augenwasser? Zwei leidlich funktionierende Sensoren in einem funktionalen Komplex aus Zellen und Blut. Viele Dinge haben sie gesehen. Und viele Dinge nicht. Manchmal denke ich, dass meine Augen uralt aussehen müssten. Irgendjemand hatte einmal gesagt, die Hölle sei die Abwesenheit von Vernunft. Manchmal ist in mir die Hölle. Ich bin dann die Hölle. Und meine Augen werden zu Fenstern. Manchmal denke ich, die Flammen müssten aus meinen Augen lodern. Die Flammen der Hölle. Abwesenheit von Vernunft.
So ein trickreiches, durchtriebenes Ding! "Stop", sage ich laut, zu dem Spiegel gewandt. "So geht das nicht. Ich habe mich noch nicht für Dich entschieden, also lass die Spielchen." Meine Augen blicken dabei an dem Spiegel vorbei. Noch einmal will ich mich von ihm nicht aufs Glatteis führen lassen. Der Blick in die linke Oberfläche wirkt schon.
Mit Spiegeln muss man vorsichtig sein. Abrutschen kann man an ihnen. Und nach einer Rutschpartie in einem Höllentempo landet man plötzlich unsanft in sich selber. Oder in der Hölle, passend zum Tempo. "Ich habe mich noch nicht für Dich entschieden, Spiegel. Lass mich in Ruhe. Nimm mir nicht weg, was Dir nicht gehört."
Ich trete ein paar Schritte zurück und habe das kalte Glas der Fensterscheibe im Rücken. Drehe mich um. Unter mir liegt die Stadt mit ihren Lichtern.
Wir sind hoch hier. Achtundneunzigster Stock oder so.
Ob die Menschen unten wissen, dass es hier oben einen Raum gibt, in dem Menschen zu Kaninchen werden? Nein, vermutlich nicht. Die Menschen wissen gar nichts. Sie gehen zu ihren Anlageberatern, fahren in ihre Büros, küssen ihre Ehepartner und ficken ihre Geliebten. Vorbei die Zeit, in der die Partner die Geliebten waren. Das Einzige, das ihnen schlaflose Nächte bereitet, ist die Hypothekenzahlung für das nette kleine Vorstadthäuschen. Heiraten mit zwanzig, das erste Balg mit dreiundzwanzig, das Haus mit fünfundzwanzig. Akkurat, ich muss schon sagen.
Dieses Fenster. Ich stehe über den Menschen. Symbolisch und wörtlich. Ich könnte das Fenster öffnen und über ihren Durchschnitt davonfliegen. Könnte ihren grapschenden Fingern entkommen, mit denen sie mich holen wollen.
Ich habe mich immer gefragt, warum ich so anders bin. Warum will ich keine Kinder, warum will ich kein Haus bauen, warum will ich immer frei sein? Warum macht mich das Schreien eines Säuglings im Supermarkt aggressiv, während ich beim Heulen eines Motors im oberen Drehzahlbereich fast körperliche Lust empfinde? Warum will ich keinen Kuschelsex und warum fasziniert mich körperliche Gewalt so sehr? Warum erfüllt es mich mit Grimm, wenn ich aus Höflichkeit Einladungen aussprechen oder annehmen soll? Warum hasse ich Happyends in Filmen so sehr und warum bereitet mir Belanglosigkeit körperliches Unwohlsein? Warum gebe ich immer Kontra?
Wie konnte das passieren? Warum bin ich nicht angepasst wie die anderen? Das war keine verdammte Entscheidung! Vielleicht wäre ich auch gerne angepasst. Vielleicht hätte ich auch gerne mal geheiratet und Kinder bekommen. Aber ich konnte mich nicht entscheiden. Irgendwann lag es auf der Hand: mein Leben ist nicht wie das der anderen. Ich konnte es nicht mehr leugnen. Irgendwann war er einfach da, dieser unbändige Hass auf alles Massenhafte. Heute kann ich nicht mehr zurück. Ich kann mich nicht mehr umentscheiden und mit dreiundzwanzig heiraten. Jedes Mal, wenn ich versuche, mich normal zu verhalten, geht es böse aus. Und tut mir weh.
Und ich begann, diese Kluft zwischen ihnen und mir aufzuziehen. Oh ja, wie großartig war diese Kluft.
Jetzt, in diesem Moment stehe ich an ihrem Abgrund. Ich stehe in diesem Raum im achtundneunzigsten Stock und lache über die Menschen. Wie emsig und armselig sie in ihrem vorhersehbaren Leben herumwuseln. Ich hasse sie so sehr mit ihren spießigen Traditionen, dass es weh tut. Ich schließe die Augen. Beinahe ersticke ich an meiner Verachtung, so groß ist sie.
Die Verachtung ist nicht gut. Der Hass auch nicht. Ich muss mich immer wehren. Immer kämpfen. Und je stärker ich mich wehre, desto größer wird die Kluft. Desto unmöglicher wird eine Überquerung. Ich habe sie unmöglich gemacht. Und dafür bestrafe ich mich jeden Tag. Das Blut. Es versöhnt mich immer. Ein bisschen zumindest. Versöhnt mich mit meiner Unzulänglichkeit. Der Schmerz. Er erinnert mich daran, dass ich die Sache verbockt habe. Die Erschöpfung, mit der ich jeden Tag meinen Frieden bezahle, ist ein unermesslich hoher Preis. Meine Kraft ist doch nicht unendlich.
Ich öffne das Fenster. Kalte Nachtluft weht mir ins Gesicht. Es nieselt. Ein feuchter Mantel legt sich über mich. Ich öffne die Augen. Die Geräusche so fern. Die Geräusche, die mir tagsüber Schmerzen bereiten. Motoren, Hupen, Hunde, Sirenen, Presslufthämmer. Und Menschen, die immerzu reden. Immerzu.
Oh, jetzt weiß ich, was dieser Test bedeutet. Spiegel oder Fenster. Wahnsinn oder Tod. Kerker oder Freiheit.
Aber in Wirklichkeit ist es keine Entscheidung. Wenn ich mich für den Spiegel entscheide, bleibe ich hier. Sie werden mich mit Drogen voll stopfen und eines Tages zu Tode therapieren. Und wenn ich mich für das Fenster entscheide, werden sie rechtzeitig in den Raum stürzen und zwei Pfleger werden mich auf einer Pritsche festschnallen. Und dann bleibe ich auch hier. Kommt also alles auf das Selbe raus.
Oder doch nicht?
Ich blicke verstohlen zur Tür. Da stehen die Leute immer noch und nicken und murmeln und notieren Dinge auf ihren Klemmbrettern. Sie sehen konzentriert aus, aber ruhig. Okay, probieren wir es aus. Ich klettere auf das Fensterbrett und kauere mich darauf. Noch ein Blick. Nein, sie machen nicht den Eindruck, als würden sie gleich hereinstürzen und mich vom Freitod abhalten.
'Freitod' – was für ein gutes Wort.
Ich werfe einen Blick zurück in den Spiegel. Sehe die zierliche Frau mit dem wirren Haar und dem flatternden Nachthemd auf dem Fensterbrett sitzen. Ihre Wangen sind eingefallen und die Armvenen zerstochen. Ihre Beine hängen nach draußen.
Doch in ihren Augen brennt ein Feuer. Und für einen Moment sehe ich wieder die Flammen, die aus ihnen lodern.