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Olivers Schwester

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25.06.2006
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Olivers Schwester

Ich rase in Windeseile durch die Stadt. Mein Gott, hoffentlich geht das nicht im Auto los. Vor einer Viertelstunde klingelte meine Nachbarin, Frau Schneider, an meiner Haustür.
„Frau Kramer, ich glaube, es geht los“, sagte sie und deutete auf ihren fülligen Bauch. Ich weiß, dass ihr Mann auf einer Geschäftsreise in London ist.
„Aber ist das nicht zu früh?“ frage ich.
„Ja, siebter Monat“, sagt sie. „Können Sie mich ins Krankenhaus begleiten?“
Natürlich kann ich. Die Ampel schaltet auf gelb, dann rot. Egal, ich muss noch drüber. Ich habe keine Ahnung von Geburtshilfe.

Im Krankenhaus angekommen, fällt mir ein Stein vom Herzen. Das wäre geschafft! Ein junger Arzt kümmert sich sofort um die werdende Mutter, leitet alle nötigen Untersuchungen ein und bittet mich, noch zu warten bis alle Formalitäten erledigt sind. Erschöpft lasse ich mich auf einen der Stühle im Gang fallen.

Auf dem Flur herrscht reges Treiben. Leibhaftig habe ich nun die Männer vom Typ „werdender Vater“ vor mir. Eigentlich kannte ich sie bisher nur von den Witzzeichnungen. Einer zündet sich gleich zwei Zigaretten auf einmal an, der andere wird gerade wieder in den Kreissaal gerufen, den er vor einigen Minuten kreidebleich verlassen hatte. Er streicht sich die Schweißperlen von der Stirn. Irgendwie steht die Frage auf seinem Gesicht: Wie lange dauert denn das ganze Theater noch?

Gegenüber ist eine sehr geistreiche Unterhaltung im Gange.
„Das wievielte ist es bei Ihnen?“
„Das Erste.“
„Na ja, beim Vierten, wie bei mir, hat man Routine“. Im gleichen Atemzug verschüttet er allerdings die Hälfte seines Kaffees, als sein Name aufgerufen wird.

In einer Ecke sitzen zwei weinende Frauen. Für eine Geburtsstation eine eher ungewöhnliche Szene. Irgendwie sehen sie sich ähnlich. Vielleicht Schwestern? Die Ältere hält die Jüngere bei der Hand und redet leise mit ihr. Hat sie ein Kind bekommen und der Mann hat sie verlassen? Weinen sie vor Glück? Ist das Kind womöglich tot?

Der Aufzug hält am anderen Ende des Flurs. Ein Mann mit einem Strauß roter Rosen steigt aus. An der Hand führt er einen hübschen Blondschopf, etwa fünf Jahre alt.
„Mama, ich freue mich so auf Isabel. Im Kindergarten habe ich es schon allen erzählt“, sprudelt es aus ihm heraus. Die Frau streichelt dem Jungen über die Haare.
„Oliver, ach Oliver“, seufzt sie und ein wehmütiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Der Mann beugt sich über sie, küsst sie und hält sie fest. Es sieht fast so aus, als klammere er sich an sie. Verlassen wurde sie also nicht. Aber ein glückliches Elternpaar sieht anders aus. Vielleicht doch eine Totgeburt? Oder möglicherweise ein ungewolltes drittes oder viertes Kind, eine zu kleine Wohnung und kein Geld?

Der Junge hopst fröhlich im Gang auf und ab.
„Ich habe eine Schwester, ich habe eine Schwester“.
Er scheint der einzige zu sein, der sich über diese Tatsache aus vollem Herzen freut.

Eine Krankenschwester tritt zu der Gruppe. „Der Herr Professor kann jetzt mit Ihnen sprechen, bitte kommen Sie mit mir.“

Auf dem Flur zurück bleibt der Junge mit der anderen Frau. Sie umfasst ihn zärtlich, zieht ihn auf ihren Schoß. Sie scheinen ein sehr vertrautes Verhältnis zu haben. Er rutscht ungeduldig hin und her und kann es offensichtlich kaum erwarten, seine neue Schwester zu begutachten.

„Frau Kramer?“ eine Krankenschwester reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ja, das bin ich.“
„Können Sie Herrn Schneider verständigen? Zur Geburt wird er es nicht mehr schaffen, aus London zu kommen, aber in Gedanken sollte er schon dabei sein."
Sie gibt mir einen Zettel, auf den Frau Schneider die Telefonnummer in London gekritzelt hat.
Ich eile den Flur entlang auf der Suche nach einem Telefon.

Als ich an der wartenden Frau mit dem netten Blondschopf vorbei komme, höre ich ihn unbekümmert fragen: „Tante Moni, was heißt eigentlich mongoloid?“

 

Hallo ellis,

sauber erzählt, dramaturgisch geschickt aufbereitet. Die Pointe kommt ohne Ansatz, die Überlegungen der Prot vorher decken sich mit meiner Gedankenwelt, die Story entwickelt sich leise, um dann im letzten Satz eine Wucht zu entwickeln, die diese Alltagsbegebenheit in mein Gedächtnis brennt.

Beeindruckend !

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo Ellis,

diese Situation vor dem Kreißsaal ist sehr gut beobachtet und wiedergegeben. Die verschiedenen Typen sind glaubhaft. Man ist mittendrin und kann alles nachfühlen. Sehr gut geschrieben.
Ciao,
Jurewa

 

Hallo Seltsem und Jurewa,
danke für die Komplimente. Tut gut, nachdem meine erste Geschichte (die wirklich auch nicht so gut war) nicht ganz solch einen Zuspruch gefunden hatte.

 

Hallo Ellis!
ich muss den anderen zustimmen. mir gefällt die Geschichte auch super, aber ich hab zwei verständnisprobleme.
1) es fehlt irgendwie ein Übergang von dem Jungen der aus dem fahrstuhl kommt und den weinenden Frauen. er geht nicht auf sie zu. erst verspätet kommt die einsicht wo er hin gegangen ist.
2) Das "mongoloid" versteht nicht jeder. ich hab ein paar minuten gebraucht bis es klick gemacht hat, da man es nur als Down Syndrom oder trisomie 21 kennt. es war schwer zu erkennen, dass da Mongole drinnensteckt, was ja als Vergleich des Aussehens der Menschen angegeben wird.

Also schreib weiter so schöne Geschichten.
Grüßchen Enola

 

Hallo Enola,
erst mal danke fürs Lesen der Geschichte und die Ratschläge.

1) es fehlt irgendwie ein Übergang von dem Jungen der aus dem fahrstuhl kommt und den weinenden Frauen. er geht nicht auf sie zu. erst verspätet kommt die einsicht wo er hin gegangen ist.

Da hast Du recht. Das könnte ich noch ausführlicher darstellen.

2) Das "mongoloid" versteht nicht jeder. ich hab ein paar minuten gebraucht bis es klick gemacht hat, da man es nur als Down Syndrom oder trisomie 21 kennt.

Ich dachte eher, dass das Down Syndrom oder gar Trisomie 21 weniger bekannt ist. Bei uns spricht man nur von einem mongoloiden Kind. Wie sehen es die anderen?

Also schreib weiter so schöne Geschichten.
Ich werde es versuchen.
Danke und schönen Gruß
ellis

 

Hi ellis,

bei mir hat das "mongoloid" eingeschlagen, weil bekannt und ebenso deswegen, weil es zum kleinen Oliver als Vokabel besser passt als die medizinisch korrekteren Fachtermini.

Grüße,
C. Seltsem

 

Danke Seltsem für die Rückmeldung.

weil es zum kleinen Oliver als Vokabel besser passt als die medizinisch korrekteren Fachtermini.
Da hast Du recht. Gut, wenn man es genau nehmen will, hat Oliver dieses Wort ja irgendwann von den Erwachsenen aufgeschnappt. Ich finde auch, dass allein das Wort mehr Schlagkraft hat als der medizinische Begriff.
Schönen Abend noch.
Gruss Ellis

 

Diese Wort hat seine Wirkung keines falls verfehlt, aber wäre es nicht möglich das Wort mit einer Fussnote zu versehen an der du dann die Krankheitsbezeichnung anfügst? Also ich bin auch der Meinung, dass dieses Wort als Vokabel ziemlich gut passt, aber nicht jedem ist deren Bedeutung klar.
Manno, ich verhasbele mich schon wieder.
Ich hoffe du weißt was ich meine.

Grüßchen Enola

 

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