Olivers Schwester
Ich rase in Windeseile durch die Stadt. Mein Gott, hoffentlich geht das nicht im Auto los. Vor einer Viertelstunde klingelte meine Nachbarin, Frau Schneider, an meiner Haustür.
„Frau Kramer, ich glaube, es geht los“, sagte sie und deutete auf ihren fülligen Bauch. Ich weiß, dass ihr Mann auf einer Geschäftsreise in London ist.
„Aber ist das nicht zu früh?“ frage ich.
„Ja, siebter Monat“, sagt sie. „Können Sie mich ins Krankenhaus begleiten?“
Natürlich kann ich. Die Ampel schaltet auf gelb, dann rot. Egal, ich muss noch drüber. Ich habe keine Ahnung von Geburtshilfe.
Im Krankenhaus angekommen, fällt mir ein Stein vom Herzen. Das wäre geschafft! Ein junger Arzt kümmert sich sofort um die werdende Mutter, leitet alle nötigen Untersuchungen ein und bittet mich, noch zu warten bis alle Formalitäten erledigt sind. Erschöpft lasse ich mich auf einen der Stühle im Gang fallen.
Auf dem Flur herrscht reges Treiben. Leibhaftig habe ich nun die Männer vom Typ „werdender Vater“ vor mir. Eigentlich kannte ich sie bisher nur von den Witzzeichnungen. Einer zündet sich gleich zwei Zigaretten auf einmal an, der andere wird gerade wieder in den Kreissaal gerufen, den er vor einigen Minuten kreidebleich verlassen hatte. Er streicht sich die Schweißperlen von der Stirn. Irgendwie steht die Frage auf seinem Gesicht: Wie lange dauert denn das ganze Theater noch?
Gegenüber ist eine sehr geistreiche Unterhaltung im Gange.
„Das wievielte ist es bei Ihnen?“
„Das Erste.“
„Na ja, beim Vierten, wie bei mir, hat man Routine“. Im gleichen Atemzug verschüttet er allerdings die Hälfte seines Kaffees, als sein Name aufgerufen wird.
In einer Ecke sitzen zwei weinende Frauen. Für eine Geburtsstation eine eher ungewöhnliche Szene. Irgendwie sehen sie sich ähnlich. Vielleicht Schwestern? Die Ältere hält die Jüngere bei der Hand und redet leise mit ihr. Hat sie ein Kind bekommen und der Mann hat sie verlassen? Weinen sie vor Glück? Ist das Kind womöglich tot?
Der Aufzug hält am anderen Ende des Flurs. Ein Mann mit einem Strauß roter Rosen steigt aus. An der Hand führt er einen hübschen Blondschopf, etwa fünf Jahre alt.
„Mama, ich freue mich so auf Isabel. Im Kindergarten habe ich es schon allen erzählt“, sprudelt es aus ihm heraus. Die Frau streichelt dem Jungen über die Haare.
„Oliver, ach Oliver“, seufzt sie und ein wehmütiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Der Mann beugt sich über sie, küsst sie und hält sie fest. Es sieht fast so aus, als klammere er sich an sie. Verlassen wurde sie also nicht. Aber ein glückliches Elternpaar sieht anders aus. Vielleicht doch eine Totgeburt? Oder möglicherweise ein ungewolltes drittes oder viertes Kind, eine zu kleine Wohnung und kein Geld?
Der Junge hopst fröhlich im Gang auf und ab.
„Ich habe eine Schwester, ich habe eine Schwester“.
Er scheint der einzige zu sein, der sich über diese Tatsache aus vollem Herzen freut.
Eine Krankenschwester tritt zu der Gruppe. „Der Herr Professor kann jetzt mit Ihnen sprechen, bitte kommen Sie mit mir.“
Auf dem Flur zurück bleibt der Junge mit der anderen Frau. Sie umfasst ihn zärtlich, zieht ihn auf ihren Schoß. Sie scheinen ein sehr vertrautes Verhältnis zu haben. Er rutscht ungeduldig hin und her und kann es offensichtlich kaum erwarten, seine neue Schwester zu begutachten.
„Frau Kramer?“ eine Krankenschwester reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ja, das bin ich.“
„Können Sie Herrn Schneider verständigen? Zur Geburt wird er es nicht mehr schaffen, aus London zu kommen, aber in Gedanken sollte er schon dabei sein."
Sie gibt mir einen Zettel, auf den Frau Schneider die Telefonnummer in London gekritzelt hat.
Ich eile den Flur entlang auf der Suche nach einem Telefon.
Als ich an der wartenden Frau mit dem netten Blondschopf vorbei komme, höre ich ihn unbekümmert fragen: „Tante Moni, was heißt eigentlich mongoloid?“