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Opa Hanns
Mein Großvater mütterlicherseits hieß Hanns mit Doppel „N“. Wann immer ich ihn als Junge besuchte, saß er in der Küche. Er saß immer in der Küche, Tag für Tag, von morgens bis abends. Trotzdem war er ständig unterwegs.
Die wirklichen, die wahren Reisen unternehme man vom Küchentisch aus, hat er immer gesagt. Die wirklichen, die wahren Reisen seien nämlich Gedankenreisen, und nur wer in der Lage sei Gedankenreisen zu unternehmen, könne Urlaub von den Erinnerungen machen. Und nur wer regelmäßig Urlaub von seinen Erinnerungen mache, könne gesunden an Geist und Seele und Bronchitis.
Und so hat er es auch selbst gehalten, der Opa Hanns. Die letzten Jahre seines Lebens saß er gebeugt auf seinem Stuhl in der Küche zwischen gusseisernen Pfannen, Porzellanbechern und altem Geschirr. Er sah aus dem Fenster, das im Sommer meist geöffnet war, auf die schmale Dorfstraße und lauschte der Musik aus dem Kofferradio. Ab und zu, wenn draußen jemand vorbei ging, den er zu kennen glaubte, hob er die Hand zum Gruß und rief: „Mahlzeit Kamerad, besser ihr kehret um, denn zerschmetterte Knie sind kein Zuckerschlecken!“
Gingen aber mehrere Personen vorbei, dann rief er: "Wollsocken, edle Damen und Herren nebst Gefolge, Wollsocken sind ein gewaltiger Missgriff. Drum kehret heim arme Sünder und setzet keine Socke mehr vor die andere – niemals!“
Und Oma Irma, die um diese Zeit das Mittagessen zubereitete und diese Sätze seit Jahren tagtäglich hörte, musste doch immer wieder kichern, wenn sie die verdutzten Gesichter der Leute auf der Straße sah. Nach dem Mittagessen bekam Opa Hanns oft diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, der sich durch eine Träne ankündigte, die über seine linke Wange lief. Immer nur über die linke Wange, nie über die rechte, ganz so, als sei die Seite ausgetrocknet. Dann kniff er die Augen zusammen, machte sie zu schmalen Schlitzen und begann zu lächeln. So verharrte er oft stundenlang regungslos auf seinem Stuhl.
„Jetzt ist er wieder unterwegs“, sagte Oma Irma dann. „Jetzt ist er wieder weit weg. Ich bin gespannt, wo er sich dieses Mal herumtreibt.“
Ich ging dann meist spielen, da mit meinem Opa war nun nichts mehr anzufangen war, kehrte aber am Nachmittag in die Küche zurück. Bei Marmeladenbrot und Kaffee erzählte er nämlich gerne, wohin seine Reise gegangen war. Mal behauptete er, er sei in Amerika gewesen und habe in einem Indianerreservat mit einem hundertvierzigjährigen Häuptling die Friedenspfeife geraucht. Ein anderes Mal berichtete er von Haiti, wo er mit jungen, hübschen Blumenmädchen herum schäkerte. Dann sagte Oma Irma immer, er solle sich nicht von ihr erwischen lassen mit den jungen Dingern, und Opa Hanns zwinkerte mir schelmisch zu. Manchmal war er aber auch nur in Bielefeld, wo er sich von seiner Tante Rosi, die bereits vor dreißig Jahren gestorben war, ein Butterbrot schmieren ließ. Meistens aber sagte er, er sei in Oslo gewesen, wo Tristan und Isolde gegeben wurde.
„Eine grässliche Inszenierung“, rief er dann, „eine grässliche Vorstellung“, und zitierte seinen Lieblingsdichter August von Platen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Dann fügte er hinzu, Oslo sei keine Reise wert. Und alle täten ihm leid, die nach Oslo reisten, um Tristan und Isolde zu sehen und am schlimmsten seien jene, die das in Wollsocken täten. Und überhaupt, habe er schon gesagt, dass Wollsocken ein ganz gewaltiger...?
„Ja, das hast du schon gesagt“, unterbrach ihn Oma Irma dann immer und Opa Hanns war beruhigt und sagte, dann mögen sie jetzt kommen, die Götter, er sei zur Diskussion bereit.
War er aber nicht. Jahre später fragte ich ihn einmal, wie er es schaffe, stundenlang regungslos auf dem Stuhl zu sitzen. Er sagte, das habe er als junger Mann gelernt. Bei einem Wettbewerb, der jedes Jahr stattgefunden habe. Die Aufgabe bestand darin, einen etwa drei Meter hohen Baumstumpf zu erklimmen und so lange wie möglich darauf sitzen zu bleiben. Alle jungen Männer des Ortes hätten daran teilgenommen. Und da habe er seine Fähigkeit, Gedankenreisen zu unternehmen, entdeckt. Fast drei Wochen habe er bei Wind und Wetter auf dem Stumpf gehockt, und es sei ein Kinderspiel gewesen, weil er sich ständig in Singapur, Ägypten oder im Schwarzwald befunden habe. Am Ende der dritten Woche jedoch habe die Müdigkeit gesiegt und er sei heruntergefallen. Glücklicherweise habe er sich nur ein Handgelenk gestaucht, weil die damals ebenso junge wie besorgte Irma vorsorglich um seinen Pfahl herum massenweise Laub angehäuft hatte. Den damaligen Wettbewerb habe er zwar gewonnen, aber dann nie wieder daran teilgenommen.
Die bis zur Perfektion ausgereifte Fähigkeit habe sich später im Krieg als außerordentlich nützlich und trostbringend erwiesen. Wenn während der Luftangriffe die Einschläge näher kamen, die Angst im Luftschutzkeller unerträglich wurde und die Menschen um ihn herum klagten, wimmerten und beteten, habe er Gedankenreisen unternommen. Dann sei er an einem friedlichen, sonnigen Ort herumspaziert und erst Stunden später zurückgekehrt, um den Stand der Dinge zu überprüfen. Dann, eines Tages, sei es passiert. Der Keller war getroffen worden und sein geliebter Bruder Karl habe mit zertrümmerten Knien und offenem Schädel dagelegen. Das Gehirn sei zu sehen gewesen, aber kein Blut nur Wasser. Blut sei aus dem Loch im Bauch gesickert, wo jemand Wollsocken hineingestopft hatte. Ein Bild, das noch unerträglicher gewesen sei als das freigelegte Gehirn, wären diese Socken im Bauch seines Bruders gewesen, sagte Opa Hanns. Tage lang habe er bei ihm gesessen und seine Hand gehalten. Und Karl habe ununterbrochen sinnlose Befehle geschrieen, die von den Kellerwänden widerhallten. Allmählich wären die Schreie abgeebbt. Sie wurden erst zu einem Röcheln, dann zu einem Flüstern. Schließlich sei Karl gänzlich verstummt und einige Stunden später gestorben. Und weil er, Opa Hanns, das Sterben seines Bruders nie habe vergessen können, habe er begonnen tagtäglich Urlaub von seinen Erinnerungen zu machen.
Nachdem er mir das erzählt hatte, lief eine Träne über seine linke Wange, und er machte sich auf den Weg nach Amerika, Haiti, Bielefeld oder Oslo.
Das alles ist lange her. Mein Opa Hanns ist schon vor vielen Jahren gestorben. Aber manchmal, wenn ich mich auf Gedankenreisen begebe, dann sehe ich ihn auf seinem Stuhl in der Küche sitzen, die Passanten auf der Straße grüßen und seinen Lieblingsdichter zitieren:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen.