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Palms Sonntag
Palms Laster mühte sich mit den Straßen ab. Wie Palm selbst war er alt, ein Fremdkörper im Organismus der Stadt; die Straßen wussten das, einfach hatten sie es ihm nie gemacht.
Palm hatte die Augen zusammengekniffen und steuerte den Laster durch den Regen. Er prasselte auf die Fahrerkabine, schlug gegen die Frontscheibe und rann als Erinnerung seine Kehle hinab.
Palm hatte dreißig Jahre lang von einem Wintergarten geträumt, in dem er warm liegen würde, nackt wie er auf die Welt gekommen war, von künstlichen Sonnen gestreichelt, während der Regen auf das Dach trommelte. Palm hatte davon geträumt, seit er wusste, was Hitzestrahler waren und Wintergärten. Früher hatte es in der Stadt einige Wintergärten gegeben. Er hatte auf zahllosen Touren vor ihnen gehalten, sie sich angeschaut und ab und an, wenn es gerade zufällig geregnet hatte, da war Palm aus seinem Laster gestiegen, unter einem Zaun hindurchgeklettert und hatte sich die Nase an der Scheibe plattgedrückt. Aber er war nie hineingegangen, es hätte nichts genutzt, Wintergärten hatten keine Hitzestrahler, nur seiner hätte einen gehabt. Und den hatte sich Palm nie leisten können. Die Lebenshaltungskosten waren zu hoch, Fleisch wurde Jahr um Jahr teurer, und Palm besetzte nur eine winzige Nische. Kaum jemand kannte sie, und wenn er gegangen war, würde auch niemand die Nische vermissen. Und außer ihm und dem Laster wusste keiner von seinem Traum. Mit Palm würde einiges sterben. Der Gedanke gefiel ihm.
Nick fiel die Decke auf den Kopf, besser: Die Wände um Nick kamen immer näher, noch genauer: Seine Freundin hatte die Wohnung derart mit Firlefanz zugestellt, dass ihm jede Luft zum Atmen fehlte. Nick schwamm auf dem Trockenen.
Ungefähr dreißig Zentimeter waren noch Platz zwischen Couch und Couchtisch. Letzte Woche waren es wahrscheinlich noch mehr gewesen, bis sie den Stuhl entdeckt hatte. Ein ockerfarbenes Ding, mit einer rückenschonenden Lehne. Sah aus wie die Phantasie eines kranken Gynäkologen. Hieß wahrscheinlich Olaf.
Nick kratzte sich über den Kinnbart und sah auf die Uhr. Sogar um sie herum hingen Bilder. Kunterbunte Gemälde, irgendwelche Kuben, Zylinder und Obst; man musste Angst haben, dass der Zeiger auf seinem Rundweg irgendwo gegenstoßen könnte.
Und sie beschwerte sich nicht einmal. Statt offen zu sagen: „Du bist ein Versager. Wenn du dich nur ein bisschen anstrengen würdest, könnten wir uns eine größere Wohnung leisten!“, kaufte sie ein und ein und ein.
Er brauchte den neuen Job, sonst würde er in zwei Wochen von einer Tischkante durchbohrt werden, ein splitternder, ockerfarbener Stuhl würde ihm durch die Bauchdecke wachsen, die Wohnung würde ihn auffressen.
„Schatz?“ Ihre Stimme, Nick rollte sich auf der Couch zusammen, doch die acht Kissen, die unter, neben, auf ihm, einfach überall waren, ließen ihn zu hoch liegen und sein Hintern schaute wohl raus wie ein Quietscheentchen in der Badewanne.
„Da steckst du also!“, sagte sie. Sagte es so, dass er sofort ein Bild im Kopf hatte. Sie: Ausbrechender Vulkan, Hände in den Hüften, mit diesem dichten Haar.
„Was machst du denn da auf Otto?“
„Ich hab die Fernsehzeitung gesucht“, murmelte Nick gegen ein oder zwei Kissen in seinem Mund. Er drehte sich unter Ächzen auf den Rücken und grinste sie an.
Sie betrachtete ihn misstrauisch, kniff sogar ein Auge zu, lächelte dann – Nick konnte ihre Zahnlücke sehen – und trommelte ihm mit zwei Fingern einen sanften Rhythmus auf den Bauch. Ihre Haare streichelten die Rückenlehne der Couch.
„Die Couch heißt Otto?“, fragte Nick.
Sie nickte, ihr Haar geriet in Wallung. Nick auch.
„Wie heißt er mit Nachnamen? Polyester?“
„Du! Scheusal!“, keifte sie und zwickte ihn in die Seite.
Nick rollte beim Versuch zu entkommen, nach rechts weg, wo er allerdings mit dem Kopf gegen den Couchtisch stieß.
„Hab ich dich!“, sagte sie und bohrte ihm die Fänge in den Rücken.
Palm hatte es nicht eilig. Man würde auf ihn warten, aber so wie man auf den Tod wartet. Geduldig und bar jeder Freude. Palm und sein Laster sahen sich in der Stadt um, kurvten alte Beuteplätze ab, doch die Wintergärten waren ausgestorben. Ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Das was einem Wintergarten heute noch am ähnlichsten kam, waren Gewächshäuser, doch die hatte Palm nie leiden mögen. Er schätzte Wintergärten und Regen, so etwas gab es heute nicht mehr.
Es war gar nicht so leicht gewesen, ein freies Stück Wand zu finden, gegen das Nick sie pressen konnte. Irgendwo zwischen Ben, dem Sideboard, und Linda, der Minibar, hatte er dann doch Platz gefunden. Sie, mit dem Rücken zu ihm, links auf Ben, rechts auf Linda gestützt, hatte ihren prallen Arsch dargeboten, Nick sich in ihren Haaren verloren.
Es hatte nicht lange gedauert. Sie ließ ihm keine Chance, wenn er „Stopp! Langsam, bitte langsam!“ flehte, presste sie sich noch härter um ihn, bis er sich vergoss.
Sie keuchte schwer unter ihm, Ben wackelte, Linda klirrte. Die Luft war drückend, wie beim Monsun, und als er sich die Unterhose hochzog, fühlte sich sein Schwanz glitschig und schwach an.
„Ich liebe das“, sagte sie. Ihre Wangen waren rot, sie stieg aus ihrer Hose, die er nur nach unten gezerrt hatte. „Puuuh“, machte sie. „Und jetzt koch ich dir was, ja? Meinem starken Torero.“ Sie strich mit ihren Krallen über sein Hemd. Er mochte es nicht, wenn sie ihn Torero nannte.
„Ich muss noch mal weg“, sagte Nick.
„Ach ja? Am Sonntag?“, fragte sie und zog sich ein Stück von ihm zurück, und ein Stück bedeutete, zurück zur Wand.
„Es muss sein“, sagte Nick. „Es kann doch so nicht weiter gehen, es muss sich was ändern.“
„Du machst mir Angst“, sagte sie. „Was hast du denn? Du bist so anders.“
Nick sagte: „Ist schon okay. Mach dir keine Sorge. Ich liebe dich.“
Er sah ihr noch einmal aufs Haar, dieses dichte, wirre Gestrüpp, dann drehte er sich um und ging.
„Es muss sich nichts ändern“, hörte er ihre Stimme. „Wir sind doch glücklich.“
Nick umkurvte zwei Hocker, eine Vase und drei Topfpflanzen auf dem Weg zur Tür, öffnete sie und stieg die Stufen hinab. Er machte das jetzt. Die Entscheidung war gefallen. Kein Zweifel, er war auf dem Weg nach oben.
Palm stieg die Treppen hinauf. Eine Hand am Geländer, Treppensteigen gefiel ihm, immer eine nach der anderen. Mit dem Ende vor Augen. Es war kein endloser Kampf gegen etwas, das man nicht sehen konnte. Man sah die Treppen, das Geländer, den Treppenabsatz. Das Ziel war immer da, man konnte mit Stolz den Kopf wenden, nach unten blicken und sagen: „Das habe ich schon geschafft.“ Ein Ende war abzusehen.
Nick wartete in einem Hausflur auf den Mann. Er tropfte, der Regen hatte ihn erwischt. Nick schob sich einen Kaugummi mit Zimtgeschmack in den Mund, fand dann aber, dass es keinen guten Eindruck machen würde. Vielleicht hätte er doch noch mit dem Rauchen anfangen sollen. Er bewegte seine Zehen in den Stiefeln, das sollte den Kreislauf auf Vordermann bringen. An viel mehr Bewegungsspielraum war er ohnehin nicht mehr gewöhnt.
Die Tür öffnete sich, Nick stockte der Atem, doch es war nur eine junge Frau, die schwer an ihrem Einkauf trug. Nicks Herz raste, als er ihr die Tür aufhielt und einen „Guten Tag noch“ wünschte.
„Hehe“, Nick fuhr herum, es roch nach Pergament. Unter ihm: Ein alter Mann, er ging ihm bis zum Kinn.
„Hehe, Sie sind wohl mein Sonntagstermin, hehe.“
Nick beschloss nichts zu sagen und nickte nur knapp, machte drei Schritte zurück und besah sich den Greis. Der war in einen grauen Mantel gehüllt, die Schultern hingen schlaff herab, das Gesicht war kalkig und zäh, die Augen blau, die Nase spitz.
„Lassen Sie mich ruhig vorgehen, falls ich falle, hehe, dann fall ich wenigstens weich“, sagte er und röchelte an ihm vorbei. Gebrechlich nahm er die Stufen, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, die so viele Adern hatte, dass man meinen konnte, eine Karte des Dreistromslands wäre dort tätowiert. Mit der anderen Hand umklammerte er einen Gehstock, ein pechschwarzes, dünnes Ding, den Knauf konnte Nick nicht sehen, der Alte hielt ihn umklammert. Statt zu atmen, lachte der Alte.
„Hehe“ - Tocktock, „Hehe“ – Tocktock. Damit stieg Nick die Stufen hinauf.
Palm war genug Stufen gelaufen, um sich etwas zu gönnen. Er griff in eine Tasche seines Mantels, nestelte drei Packungen Bifi heraus und strich die Verpackung ab. Das Abstreifen der Hülle war ein viel zu rituell-obszöner Vorgang für das Produkt. Palm saugte die drei Stangen in sich hinein. Das jodierte Salz trocknete seinen Mund aus, aber das Gefühl, wie die Brocken Fleisch seine Speiseröhre hinabglitten, machte das wieder wett.
„Hehe“ – Tocktock. „Hehe, was für Schlüsse haben Sie aus der Observation gezogen, junger, hehe, Freund?“
Nick wäre fast mit der Stirn gegen den Rücken des Alten gestoßen, so hypnotisch war der Rhythmus gewesen. „Nun“, sagte Nick, „er führt ein beschauliches Leben, er besucht niemanden und empfängt auch keinen. Die einzige Auffälligkeit ist sein Fleischkonsum, er isst ausschließlich Fleisch. Ohne Brot, ohne Sauce, ohne Beilage. Und auch kein Obst und Gemüse. Ich wundere mich, wie er so alt geworden ist.“ In seinem Kopf hatte das alles viel professioneller geklungen.
„Hehehehe“, machte der Alte. „Ja, wie er so alt geworden ist, hehe, aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Hehe. Was haben Sie sich dabei gedacht?“
„Am Anfang dachte ich, es wäre Ihr Bruder.“
Der Alte hielt inne, seine Hand verkrampfte sich ums Geländer. „Es ist ein Monster.“
Eine junge Frau öffnete Palm die Tür. Ihre Augen waren riesig, wie die einer saftigen Kuh. Das Salz hatte ihre Wangen aufgeraut.
„Palm, Tierverwertung“, sagte Palm, weil er die Erfahrung hatte, dass so etwas half.
„Oh Gott!“ Die Frau schluchzte und wurde zur Seite geschoben. Ein Mann, etwa in ihrem Alter, tauchte nun vor Palm im Türrahmen auf. Er verdrehte die Augen und flüsterte: „Sie hat ganz schön an dem Viech gehangen.“
„Er wird es doch gut haben?“, schluchzte die Frau.
Palm nickte.
„Wird es verbrannt?“, fragte der Mann.
Palm nickte.
„Ist nicht zu teuer, oder?“
„Oh Gott!“, schrie die Frau.
„Ein Monster?“, fragte Nick.
„Oh, hehe, nicht im übertragenen Sinne. Ein Monster wirklich. Das letzte Monster, möchte ich, hehe, meinen.“
„Was hat er getan?“
„Gegessen, hehe, gegessen vor allem.“ Tocktock. „Sie haben, möchte ich annehmen, hehehe, noch nie etwas von der Thule-Gesellschaft gehört, oder?“
„Nein“, sagte Nick.
„Ein Geheimbund, hehe, im dritten, hehe, ewigen Reich. Jeder kennt die Geschichten von der dicken Berta, hehe, und von Atomraketen, hehe. Aber der Endsieg sollte, hehe, noch durch ganz andere Dinge erreicht werden, hehe.“
„Dann ist er ein Nazi?“
Der Alte drehte sich zu Nick um, seine Augen füllten sich mit Flüssigkeit.
„Hehe“, machte er, drehte sich um und stieg die Stufen hinauf.
Palm folgte dem ungleichen Paar in ein Zimmer. Dort stand gegenüber einer blauen Rechenmaschine ein Terrarium, mit einer kleinen Burg und einem Schatzkistchen. Kies bedeckte den Boden, eine Schildkröte lag dort auf dem Panzer, hatte alle Viere von sich gestreckt und auch den keilförmigen Kopf.
„Ich wollte es abdecken“, sagte der Mann, „aber sie …“
„Du wolltest ihn das Klo runterspülen!“
„Unsinn, viel zu groß dafür. Hätte noch alles verstopft.“
„Wie kannst du nur!“
Palm lächelte matt, als er sich über das Terrarium beugte und mit einem Fingernagel über die Bauchdecke der Schildkröte ritzte. Du hast es überstanden.
„Verstehe“, sagte Nick. „Und sie bringen ihn zur Strecke.“
„Jaja“, antwortete der Alte. „Das ist meine Pflicht.“
„Und man verdient gut.“
„Hehehe“, sagte der Alte. „Man verdient, was einem zusteht.“
Nick hatte die Beträge gesehen, ein Konto war für ihn eingerichtet worden. Zwanzigtausend Euro, für die Arbeit von drei Wochen.
„Wer bezahlt Sie?“
„Hehe, junger Mann.“
Das war absurd, er war alt, uralt. Wie lange konnte er das noch machen?
„Haben Sie schon mal über einen Nachfolger nachgedacht?“
„Noch nie“, sagte der Alte.
„Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass Sie sich zur Ruhe setzen.“
Der Alte erklomm die letzten Stufe und zeigte auf Palms Wohnungstür. „Ja, meine Zeit ist bald vorbei, aber seine auch, hehe. Die Zeit für Monster ist vorbei. Hehehehe.“
„Es ist nur eine Schildkröte! Schon das Wort. Kröte!“
Dann die Stimme der Frau: „Da denkt man, so ein Tier überlebt einen und dann.“
Geht man ein, dachte Palm und leckte den Finger ab, mit dem er den Bauch berührte hatte. Er sah aus dem Fenster und danach in das Terrarium. Wahrscheinlich zu wenig Sonne. Oder deine Zeit war einfach gekommen. Das Terrarium zu klein. Vielleicht an Einsamkeit gestorben.
„Sie werden nicht nach Stunden bezahlt, oder?“, fragte der junge Mann.
Palm hob das Tier hoch. „Sie bekommen eine Rechnung.“
„Kann ich mich noch von ihm verabschieden?“, fragte die Frau.
Der Mann schnaufte durch die Nase und ging.
Palm griff dem Tier unter den Kopf und schob ihn etwas nach oben.
Die Frau streichelte den rechten Hinterfuß der Schildkröte.
Einfach weiterexistieren zu müssen, ohne Sinn und Zweck. In einer Welt zu leben, die keine Verwendung mehr für dich hat, außer einer jungen Frau das Herz zu brechen.
„Es gibt eine Geschichte“, sagte Palm. „Ein Adler trug einmal eine Schildkröte in den Fängen und suchte nach einem Stein, so jagen Adler Schildkröten. Sie fangen sie, fliegen mit ihnen hoch und lassen sie dann aus größer Höhe auf einen Stein fallen.“
„Ich weiß“, sagte die Frau und lächelte. „Danke.“
Palm ging.
Nick schob den Nachschlüssel ins Schloss und öffnete die Tür zu Palms Wohnung. „Nach Ihnen“, sagte er.
Sogar die Spartaner hatten mehr Luxus gehabt. Ein Kühlschrank war das einzige elektrische Gerät, ansonsten nur Linoleumboden. Zwei Zimmer – leer, in der Küche der Kühlschrank und im Bad nur Zahnpflegeprodukte. Ein Paradies!
Der Alte legte den Kopf in den Nacken. Es knackte bedrohlich. Dann schnüffelte er und verwelkte friedlich vor sich hin. Seine Nase krächzte, als er die muffige Luft einsaugte.
„So nah war ich ihm noch nie“, sagte der Alte.
„Hören Sie“, sagte Nick. „Ich will das wirklich.“
„Was denn?“, fragte der Alte.
„Na, das was Sie machen. Ich will so werden wie Sie.“
Der Alte lachte, diesmal und zum ersten Mal aus dem Bauch heraus. Ein dürres Lachen, ganz ohne „E“s. „Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“
Der Alte nahm den Gehstock hoch und zog mit einem Griff das schwarze Holz ab. Ein Degen bohrte sich in Nicks Brust. Nick taumelte nach vorne, fasste dem Alten an die Schulter. Hart wie Stein.
„Es freut mich immer, wenn ich zu Diensten sein kann.“
Es regnete noch immer, Palm sah an jeder Ampel und bei jedem Stoppschild auf die tote Schildkröte am Beifahrersitz. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Bei einer besonders langen Rotphase, riss er sich das rechte Vorderbein ab und schlang es hinunter. Zwei Kreuzungen später war das linke dran und als er schließlich, drei Zwischenmahlzeiten später, vor seiner Wohnung hielt, schoben sich Palms Kieferknochen auseinander und nadelspitze Zähne kamen zum Vorschein. Palm biss dem Tier den Kopf ab, wetzte die Zähne am Panzer scharf, riss die Bauchdecke auf und saugte die Innereien in sich. Als sich sein Kiefer zurückgebildet hatte, lächelte er dem leeren Panzer zu. Du hattest doch einen Zweck. Du hast ihn nur nicht gekannt.
Müde schlich Palm die Stufen zu seiner Wohnung hoch.
Der Alte schritt unruhig auf und ab, stieg dabei immer wieder über Nicks Leichnam.
„Trottel“, sagte er und stieß der Leiche den Fuß in die Rippen.
„Hehehe“, machte er und strich seinen Stockdegen an Nicks Jacke sauber.
Der Alte sah aus dem Fenster in den Regen. Der Alte stellte sich vor Palms Spiegel und öffnete die Augen weit.
Draußen regnete es. Wie damals, als seine Brut entkam. Es hatte auch geregnet, als er den ersten getötet hatte. Über eine Frauenleiche hatte sich das Monster gebeugt, in die porzellanfarbene Kehle verbissen, war in eine Fressstarre gefallen. Das rote Haar der Frau war nass geworden im Regen. Triefnass. Und es hatte geregnet, als ihm der Lastwagen entgegenkommen war. Damals an dem Tag, als er gestorben war.
„Hehehe“, machte der Alte, als er den Schlüssel im Schloss hörte.
Palm öffnete die Tür und sah die Leiche des Mannes, der ihn die letzten drei Wochen beschattet hatte.
„Vater?“, fragte Palm.
„Nenn mich nicht so!“, hörte er aus dem Badezimmer.
Palm schloss die Tür hinter sich.
Der Alte stand mit einem funkelnden Degen vor ihm. „Verwandel dich, los!“
„Es tut mir leid, ich hab das seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht.“
„Wandel dich, Untier!“
Palm schwieg.
„Kein Feuer wärmt mich“, sagte der Alte. „Keine Speise nährt mich. Ich habe geschworen, euch zu finden und ich habe euch gesucht. Seit 60 Jahren such ich Euch, seit 50 bin ich tot. Autounfall, hehe, ’58 bei Kiel.“
„Ich hab mich nie versteckt“, sagte Palm.
„Ich dachte, es sei vorbei, aber es fing erst an!“
Palm schwieg.
„Ich habe geschworen, euch aufzuspüren und die Schuld zu tilgen, die ich auf mich geladen habe!“
„Ich werde nicht kämpfen“, sagte Palm.
„Wandel dich! Was warst du? Ein Alligator, nicht wahr, hehe?“
Der Alte tänzelte näher, sein Degen bohrte sich in Palms Schulter. Blut sickerte aus der Wunde.
„Ich will endlich meinen Frieden! Wandel dich!“
Der nächste Streich durchtrennte einige Muskeln an Palms Oberschenkel. Der nachfolgende erwischte ihn am Bauch. Palm ging auf die Knie, er spürte den Alten jetzt in seinem Rücken, der Degen drückte in seinen Nacken.
„Wandel dich! Lass es uns beenden!“, schrie der Alte.
Palm sagte: „Ich hab mich seit 20 Jahren nicht mehr gewandelt, nicht mehr seit ich bei den Weibchen lag und meinen Samen verströmte.“
„Was?“, schrie der Alte, doch Palm ruckte den Kopf nach hinten und der Stahl bohrte sich durch seinen Hals.
„Du lügst! Du warst der Letzte!“
Als Palm nach vorne sank, dachte er an Wintergärten und dass man eine Bestimmung haben konnte, ohne von ihr zu wissen.
„Der Allerletzte! Meine Schuld ist getilgt! Es ist vorbei.“
Und als Palms Kiefer auf den Boden schlug und als er die Stimme des Alten hinter ihm hörte, da dachte er noch, wie schlimm es sein musste, in einer Welt zu sein, ganz ohne Sinn und Zweck. Wenn man Monstern nachjagt, die es nicht mehr gibt.
„Du warst der Letzte!“, schrie der Alte Palms kalten Körper an. Lange, sehr lange, bis er sich aufrappelte, seinen Stockdegen nahm und nach draußen ging, in eine fremde Welt.