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Panikattacke
Es war kein Tag wie jeder andere. Im Gegenteil, er war schlimmer als jeder andere. Der Hund hatte in der Nacht gewinselt und Sarah war davon mehrere Male aufgewacht. Am Morgen hatte sie deshalb Streit mit Martin. Normalerweise regte sie sich über so etwas nicht auf. Sie liebte Tiere. Aber ein Wort gab das andere und sie verließ wütend die Wohnung. Wütend auf Spot und wütend auf Martin, der ihn ihr gegenüber verteidigt hatte.
Irgendwie fühlte sie sich heute so aufgewühlt und gleichzeitig so verletzlich. Die Stadt setzte ihr zu. Das Gefühl, als würden die hohen Gebäude sie erdrücken, war übermächtig.
Die Gespräche mit ihrer Kollegin und Freundin, schienen nur noch aus einseitigem Gelaber zu bestehen. War Sabine denn nicht klar, dass das, was sie sagte völlig belanglos war? Alles schien Sarah heute so unbedeutend. Arbeit, Freunde, Beziehung.
Ihre Stimmung besserte sich für kurze Zeit, als Martin anrief und sie Abends zu einer Büroparty einlud. Zumindest hatte sie jetzt etwas, auf das sie sich freuen konnte.
"Bis zum Abend durchhalten", ermahnte sie sich ständig selbst.
Auf der Party würde sie ihre Beklemmung wegtanzen. Sie würde sich mit Martin versöhnen, ein paar Häppchen für Spot einpacken und alles würde wieder seinen normalen Gang gehen.
So hatte sie gedacht. Aber sie täuschte sich.
Auf der Party war sie unfähig, sich zu amüsieren, im Gegensatz zu allen anderen. Die schienen heute betrunkener, fröhlicher, lauter und vulgärer zu sein, als sie das jemals zuvor erlebt hatte. Vielleicht kam ihr das auch nur so vor, da sie selbst unfähig war, in diese Stimmungen einzutauchen. Sarah tanzte nicht und zerstritt sich nur noch heftiger mit Martin, als der versuchte sie aufzumuntern. "Du bist einfach zu sensibel", waren seine letzten Worte, bevor er sie alleine sitzen ließ um sich zu amüsieren.
Um Mitternacht verließ sie die Party. Kein "bleib doch da" von Martin, kein Versuch, sie aufzuhalten. Dabei war sie sich sicher, er hatte sie gesehen, als sie ging.
Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr einfach los.
Weg, einfach weg. Ganz egal wohin, raus aus der Stadt. Frische Luft, offene Flächen, das war es, was sie jetzt brauchte. Ihr konnte alles gestohlen bleiben. Martin und sein Hund, genauso wie ihr Job. Die schlecht beleuchteten Viertel am Rande der Stadt mit ihren grauen Wohnsilos machten ihr Angst. Wie bedrohliche Schatten ragten sie auf. Bereit, sich auf sie zu stürzen.
Nachdem sie endlich die letzten Gebäude hinter sich gelassen hatte, befand sie sich in dem Niemandsland zwischen dem Stadtrand und den Vorstädten. Niemand baute hier Häuser. Nur Felder und vereinzelte Wälder gab es hier, auf die sich die Ausdünstungen der Stadt legten.
Es begann zu nieseln und die feinen Wassertropfen vermischten sich mit dem Staub der Straßen auf ihrem Wagen. Als sie den Scheibenwischer einschaltete, schmierte er den feinen Schlamm über die Windschutzscheibe.
"Zum Glück führt die Straße hier geradeaus", dachte Sarah noch, während sie die Scheibenwaschanlage betätigte und schrak in dem Moment auf, als das schaumige Wasser ihr wieder klare Sicht verschaffte.
Rehe sprangen auf die Straße. Nicht nur eines oder zwei. Dutzende überquerten die Fahrbahn gleichzeitig. Fünfzig Meter voraus konnte sie noch erkennen, wie die Tiere mit langen Sätzen aus dem Wald auf der rechten Seite gesprungen kamen, um gleich darauf in dem Maisfeld gegenüber zu verschwinden und Sarah befand sich mitten unter ihnen.
In der Schrecksekunde, die es dauerte bis sie auf die Bremse treten konnte, fühlte sie eine Erschütterung. Eines der Tiere musste gegen den Wagen gesprungen sein. Gleich darauf schlug der Körper eines anderen auf der Windschutzscheibe ein. Das Glas zersprang und die Splitter bildeten ein weißes Spinnennetz, das ihr die Sicht nahm.
Sarah fühlte, wie ihr das Lenkrad aus den Händen glitt, als der Wagen von der Straße abkam.
Sie wurde hin und hergeschleudert. Eine weiße Explosion vor ihren Augen war das letzte, was sie sah, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Als Sarah wieder zu sich kam, dauerte es eine Weile, bis ihr der Schmerz bewusst wurde und noch länger, bis sie ihn bestimmten Regionen ihres Körpers zuordnen konnte. Ihr war kalt und irgendetwas tropfte ihre Stirn herunter. Blut. Im Rückspiegel erkannte sie, dass es zwischen ihren Haaren hervorsickerte.
Sarah öffnete die Autotür, blieb aber sitzen und versuchte zunächst, die Situation einzuschätzen. Wenigstens einer der Scheinwerfer funktionierte noch und erhellte die Szenerie mäßig.
Feiner Nieselregen fiel durch das Scheinwerferlicht. Sie bemerkte das verletzte Reh sofort. Es lag auf der Seite und seine Beine zuckten. Zwei andere lagen reglos.
"Hilfe!", dachte sie, "Ich muss Hilfe holen."
Sarah suchte nach ihrer Tasche und fand sie vor dem Beifahrersitz. Als sie ihr Handy daraus hervorkramte, machte ein stechender Schmerz ihr bewusst, dass sie sich wohl den Daumen der rechten Hand gebrochen hatte. Sie trug Martins Ring daran. Ein schlichter Silberring mit eingraviertem Muster. Er hatte auf keinen anderen Finger gepasst, als er ihn ihr geschenkt hatte. Damals hatte sie das romantisch gefunden.
Plötzlich wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt und begann zu weinen. Warum? Warum musste sie gerade jetzt an die schönen Zeiten denken? Warum war sie nicht bei ihm geblieben? Warum hatte sie nicht einfach nachgegeben, den Streit beendet. Es war nicht seine Schuld, dass er ihre Gefühle nicht verstand. Sie konnte das ja selbst nicht. Martin hatte recht gehabt. Sie war zu sensibel. Sensibel und eigensinnig. Das hier war alles ihre Schuld.
Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte, wählte sie die Notrufnummer. Während sie auf die Verbindung wartete, blickte sie hinüber zu dem Reh, bis es ein weiteres mal zuckte. Sarah hasste sich selbst für das Leid dieses Tieres, sie konnte nicht länger hinsehen.
"Zur Zeit ist es uns leider nicht möglich, ihren Anruf durchzustellen, alle Leitungen sind besetzt, bitte versuchen sie es in wenigen Minuten erneut... Zur Zeit..."
Sarah probierte es wieder und wieder, versuchte Martin anzurufen und Sabine, sogar ihre Eltern, die in einer anderen Stadt wohnten. Aber sie erreichte niemanden. Am Ende warf sie das Handy wütend in die Dunkelheit der zerstörten Wagenseite. Wie zum Teufel konnten um diese Zeit alle Leitungen belegt sein?
Das Reh zuckte und Sarah weinte. "Entschuldige bitte", schluchzte sie. Sie saß noch immer angeschnallt im Auto. Wäre sie ausgestiegen, hätte sie nach dem Reh gesehen und das wollte sie nicht. Sie hatte Angst davor, aus der Nähe zu betrachten was sie angerichtet hatte. Sie ertrug es auch nicht länger, hinzusehen. Sie wollte lieber hier sitzen bleiben und auf Hilfe warten. Wenn sie doch endlich jemanden erreichen würde!
Ohne darüber nachzudenken, drehte sie am Radio. Erst, als sie die Stimme eines Sprechers hörte, wurde sie sich dieser Handlung bewusst und der Tatsache, dass es noch funktionierte. Es war eine Verkehrsmeldung. Der Sprecher warnte nächtliche Autofahrer auf Landstraßen und Autobahnen. Anscheinend hatte es im ganzen Kreis Wildunfälle gegeben. Fünfunddreißig davon in der letzten Stunde. Was war bloß los? War das der Grund, warum sie niemanden erreichen konnte?
Sarah wurde klar, dass sie in nächster Zeit nicht mit Hilfe rechnen konnte. Damit hatte sie keinen Vorwand mehr, im Wagen zu bleiben. Sie musste sich aufraffen und aussteigen.
Sie öffnete ihren Gurt, drehte sich seitlich und schwang ihre Beine hinaus. Ihr linkes Knie schmerzte als sie auftrat und sie konnte nur humpeln.
Sie betrachtete das Auto. Anscheinend war es seitlich gegen einen Betonmasten geprallt, der sich jetzt schräg gegen das Dach lehnte und nur noch von den Kabeln, die er eigentlich tragen sollte, aufrecht gehalten wurde.
Die Heckklappe war aufgesprungen. Der Kofferraum war leer, bis auf den Bolzenschlüssel für den Reifenwechsel. Sarah sah hinüber zu dem Reh. Es zuckte noch immer.
War das ein Zeichen des Schicksals? Sie nahm den Schlüssel und humpelte langsam darauf zu. Sie wusste, was sie tun musste. Aber würde sie es auch können?
Der Bauch des Tieres war aufgerissen. Blut und Gedärme quollen daraus hervor. Mit offenen Augen starrte es Sarah an, versuchte den Kopf zu heben, aufzustehen. Wie konnte ein Tier solche Schmerzen ertragen, ohne einen Laut von sich zu geben?
Sarah ertrug den Anblick nicht länger. Sie wandte sich ab. Hinter ihr war die hell erleuchtete Skyline der Stadt zu sehen. Ihre Augen suchten das hoch aufragende Bürogebäude in dem Martin noch immer feierte. "Mein kleines Reh", so hatte er sie anfangs oft genannt. Sarah weinte wieder. Wäre sie nur bei ihm geblieben.
Sie hatte alles falsch gemacht. Sie war geflüchtet, anstatt sich den Tatsachen zu stellen und jetzt hatte sie die Folgen zu tragen. Nichts als grundlose Emotionen hatten sie hier heraus gebracht. Die Tatsache, dass sie am Leben war, empfand sie mehr als Strafe denn Glück. Auf diese Weise wurde ihr vor Augen geführt, wie dumm sie gehandelt hatte.
Was war bloß los in dieser Nacht? Mit ihr und mit all den Tieren?
Sie war ein Nichts alleine. Sie war ja nicht einmal fähig dieses Reh von seinen Leiden zu erlösen. Sie drehte sich wieder herum und versuchte, sich zu überwinden. Es musste sein.
Sarah entschied, dass das ihre Prüfung wäre. Eine Prüfung die festlegen sollte, ob sie bereit war, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Schon zu oft hatten ähnliche Ausbrüche ihre Beziehungen zerstört. Sarah hatte schon seit längerem an ihrem Verstand gezweifelt und nun schien sie die Bestätigung bekommen zu haben. Was blieb ihr noch, wenn sie unfähig war sich Selbst zu kontrollieren? Wenn es ihr jetzt nicht gelang, ihre Emotionen zu bezwingen, hatte es dann Sinn noch weiterzuleben? Nur, wenn sie sich überwand das notwendige zu tun, war sie auch fähig wieder zurückzukehren. Wenn es ihr gelang, dieses Tier zu töten, dann konnte sie auch ihre Gefühle besiegen und sich mit Martin versöhnen. Er hatte mit allem recht gehabt. Sie war einfach zu sensibel.
Langsam hob sie den Bolzenschlüssel über ihren Kopf. Ihre Hand zitterte.
"Jetzt,... Jetzt,... Jetzt,..." flüsterte sie sich selbst zu und Tränen rannen über ihr Gesicht.
Sarah schrie plötzlich auf, verlor ihren Halt und fiel nach hinten. Der über ihr hängende Mast schwankte. Die Kabel, die ihn noch hielten, rissen und er zerdrückte den Wagen vollständig. Die Spitze verfehlte Sarah nur knapp und traf das Reh zu ihren Füßen. Die heftigen Erdstöße dauerten kaum eine Minute. Aus dem Wald hörte sie das Geräusch berstenden Holzes. Weiter vorne stürzten Bäume auf die Straße.
Die Tiere mussten durch das Erdbeben in solche Aufregung versetzt worden sein. Sarah selbst sie hatte es gespürt. Diese Vorahnung hatte sie aus der Stadt getrieben, wie die Rehe aus dem Wald. Sie war schon immer sehr sensibel gewesen.
Von hinten drang der Lärm einstürzender Hochhäuser an ihre Ohren.