Papa
Papa
Es war einer von diesen Tagen, die nicht richtig warm werden. Zwischen Sommer und Herbst. Mir war es egal, denn seit dem ich aufgestanden war, war es zu kalt. Ich trug nur T-Shirt und Boxershorts und hatte Kristin liegen lassen. Ich schritt durch den kahlen Flur und öffnete die Haustür. Ich fror.
Ob der Wind von Norden, Süden, Osten oder Westen kam wusste ich nicht. Zudem wusste ich auch nicht, ob es nun bedeutete, dass der Tag schön, warm, kalt, bedeckt, regnerisch oder aschfahl würde, wenn der Wind nun aus Westen käme, was ich vermutete. Es war zu früh für mich und die Welt, wir beschnupperten uns ein wenig und wussten, dass wir etwas Besseres als den, der uns da gegenüberstand verdienten.
Vater hätte gewusst, aus welcher Richtung der Wind kam. Er hätte gewusst, ob es schön oder regnerisch werden würde. Er sah schließlich immer den Wetterdienst und hasste es, wenn man währenddessen zu laut war. Er hätte auch gewusst, welche Uhrzeit war. Seine innere Uhr stellte sich nach dem Tag und ich bewunderte ihn dafür. Ob er mich liebte? Ich kann es nicht richtig sagen, da er einfach zuwenig sprach. Er war kein Mann großer Worte.
Kristin stand plötzlich hinter mir und schlang ihre schlanken Arme um mich und ich spürte den Rest Bettwärme an dem wenig Stoff und ihrer weichen Haut.
„Alles klar bei dir, Schatz?“, fragte sie.
Obwohl natürlich nicht alles klar war, antworte ich knapp: „Ja, alles klar.“
„Kannst nicht mehr schlafen, ne?“
Ich nahm es ihr nicht für übel, dass sie nicht wirklich wusste, was sie sagen sollte, es reichte an diesem Tag, dass sie mich liebte und für mich da war. Ich schaute auf meine Armbanduhr, bemerkte, dass ich sie mal wieder nicht vor dem zu Bett gehen abgelegt hatte und sah, dass es 8 Uhr war. Vater hätte sich um höchstens fünfzehn Minuten vertan, wenn man ihn gefragt hätte. Ich hätte ihn gerne gefragt.
Wir frühstückten. Wie immer war mein Appetit nicht besonders und mein Redebedarf genauso groß wie meine Lust auf Kaffee. Ich hasse Kaffee. Kristin versuchte mich aufzuheitern. Erzählte zu viel und ich hörte nicht zu, streute hier und da ein „ja“ ein und versuchte gequält zu lächeln.
„Hast du Angst vor heute?“
Ich hatte keine Angst vor dem Heute, ich hatte vor Nichts Angst. Ich war ein Lügner. Ich hatte verschissene Angst.
„Du schaffst das...ich bin bei dir!“, flüsterte sie fast.
So schön diese Worte sein mögen und so sehr ich auch weiß, dass mir selbst nichts Besseres und Schlaueres einfallen würde, sind sie doch nur ein verwehender Rauch im Nichts.
Wenn man in der fehlenden Orientierung nach sich selbst sucht, findet man meist nur das, was man am ehesten verstecken möchte. Man kehrt sein Leben lang so viele seiner Sehnsüchte, Gedanken und Ängste unter den Hautteppich, dass dieser brennt, juckt und rot auf sich aufmerksam macht und gebieterisch befiehlt, sich zu häuten. Leider können wir uns nicht häuten, das abgetragene alte Ding in die Ecke des Zimmers legen und sich Draußen neue und frische Wunden einfangen. Mit Anlauf, versteht sich.
Duschen ging zu schnell und die Uhr vertickte die Zeit wie falsche Armani-Hemden. Es war zu schnell Mittag, es gab weniger Appetit als am Morgen und noch spärlichere Worte. Vielleicht war ich meinem Vater doch näher als ich dachte. Seine Gene. Sein Sohn. Seine Fußstapfen. Ich ertrank in der Vorstellung so zu sein und doch wünschte ich mir insgeheim ein bisschen mehr von ihm zu haben.
Als wir losfuhren und ich die Krawatte wieder mal nicht binden konnte, war er da. Plötzlich und doch nicht wirklich unerwartet traf er ein und setzte sich zu mir, ganz nah. Er sah mir fest in die Augen und packte mich fest am Arm. Er flüsterte eindringlich in seiner Art Sprache die uns die Tränen in die Augen treibt.
Als wir ausstiegen, klammerte er sich an mich und ich spürte seinen Atem in meinem Genick. Als ich saß und auf Vater blickte, kam er immer kurz an mein Ohr und flüsterte schnell. Als ich Vater folgte, folgte er mir. Als ich Vater in den Boden versinken sah, da brach er wie nach einem Dammbruch über mich hinein: Der Schmerz.
Schmerz braucht keine großen Worte. Mein Papa brauchte keine großen Worte. Jetzt wo ich vor seinem Grab stehe, fallen mir tausend Worte ein, die ich in allen den Jahren ungesagt vorbeiziehen ließ.