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Parallele Geschichten
Die alte Frau hatte sich in Rage geredet: "Ignoranten, Stümper, Pfuscher, Dilettanten. Dieser von Doderer oder die Spiel, die alte Zicke. Neidisch war die, sonst nix. Und dann dieser Torberg, der war der Schlimmste von allen. Intrigantes, missgünstiges Schreiberpack, allesamt." Sie keuchte vor Anstrengung.
Rudolfine Burger hatte ihren Wortschatz in den letzten fünfzig Jahren erheblich erweitert, eine solche Tirade war in ihrem ersten und einzigen Roman "Die wunderbaren Abenteuer des Leutnant Johann Beimpold" nicht zu finden. An keiner Stelle. Ich konnte das beurteilen, denn ich hatte das Buch mehr als dreißig Mal gelesen. Die Protagonisten dieses Romans, allen voran der Titelheld, artikulierten sich wesentlich gewählter als Frau Burger dies im Moment tat. Das mag daran liegen, dass die Handlung in der sogenannten guten alten Zeit angesiedelt war, eine Zeit, die vielleicht alt, aber natürlich niemals gut gewesen war.
Der säuselnde Kitsch, der durch dieses Machwerk waberte, war Rudolfine Burgers Welt nicht mehr. Das hatte sie mir deutlich gezeigt. Meine Frage, warum sie denn nur dieses eine Buch geschrieben habe, war wie der Funke an der berühmten Zündschnur gewesen. Rudolfine Burger war mit einer Geschwindigkeit von ihrem Sofa hochgeschnellt, die ich dieser alten Frau beleibe nicht zugetraut hätte. Nun stolzierte sie in ihrem kleinen Wohnzimmer umher und ließ eine Tirade nach der anderen los. Kein einziger österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts blieb ungeschoren.
"Des Gardeoffiziers mit viel Liebe gewachster und gen Himmel gezwirbelter Schnurrbart zitterte vor Aufregung, hatte doch soeben die weit über die Donaumetropole hinaus bekannte Schauspielerin Lola Ingrisch das Hawelka betreten. Leutnant Beimpold konnte sich von dem Anblick der Actrice, die einem Engel gleich durch das Kaffeehaus schwebte, nicht lösen und bemerkte mit errötendem Gesicht, dass er dieser göttergleichen Gestalt tatsächlich hinterher stierte. Verlegen verbarg er sein Antlitz hinter einer Zeitung, nur um diese Sekunden später wieder sinken zu lassen. Sein Herz holperte und setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, als das Objekt seiner Begierde seinen Blick erwiderte. Und ihn anlächelte.
Kitsch as Kitsch can. Schlimmer geht's nimmer, waren meine ersten Gedanken, als ich diese Zeilen las. Keine Ahnung, warum ich ein Buch mit dem dämlichen Titel "Die wunderbaren Abenteuer des Leutnant Johann Beimpold" überhaupt in die Finger genommen hatte. Überarbeitung wahrscheinlich, Stress vielleicht, eventuell die ersten Anzeichen eines Burn-Out-Syndroms. Die monatelange Beschäftigung mit Charles Dickens im Allgemeinen und den Pickwick Papers im Besonderen hatte meiner geistigen Gesundheit vielleicht mehr geschadet, als ich dachte. Nur so ist zu erklären, warum ich diesen Schundroman zwischen all den literarischen Kostbarkeiten der Unibibliothek überhaupt "entdecken" konnte. Was noch verblüffender war: Statt diesen Kitschroman nach der Lektüre der ersten Sätze wegzulegen oder besser noch dem Müll anzuvertrauen, las ich weiter. Und das allerverblüffenste: Jede neue Zeile, die ich las, jede neue Seite brachte etwas in mir zum Schwingen, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ein Flüstern, ein zarter Hauch, der meine Gedanken streifte, mir Gänsehaut verursachte und mich dazu brachte, genau diesen Kitsch zu denken. Furchtbar. Grauslig. Ich stellte das Buch zurück. Und fand mich anderntags wieder in der Bibliothek, das nächste Kapitel dieses Schauerstücks lesend. Aus Angst, meine Kollegen könnten mich mit einem solchen Stück Schund erwischen, bestellte ich den Roman bei Amazon und las ihn nur noch heimlich.
Der Leutnant erhob sich und richtete die Orden an seinem Waffenrock. Leider waren es nicht so viele, wie er es sich gewünscht hätte, aber immerhin hatte er vor wenigen Tagen ein Bronzenes Ehrenkreuz der Vaterländischen Front verliehen bekommen. Beimpold holte noch einmal tief Luft, dann begab er sich, zwar etwas wackelig in den Knien, aber mit ansonstem sicherem Schritt, zu dem Tisch der Schauspielerin, die dies mit niedergeschlagenen Augen und höchst amüsiert beobachtete.
"Meine Gnädigste, ich kam nicht umhin, ihr Erscheinen zu bemerken, was sage ich, zu bewundern", begann Beimpold seine Rede. "Sie könnten einem staunenden Verehrer ihrer Künste keine größere Freude machen, als wenn sie ihm gestatten, an ihrem Tische Platz nehmen zu dürfen."
Die Imrisch spielte mit dem Gedanken, den jungen Narren zu necken, entschied sich jedoch anders. Wer weiß, ob sie ihn mit einer Narretei nicht vertrieb. Und das wäre doch schade um diesen stattlichen jungen Offizier. Also bat sie ihn, Platz zu nehmen.
Dies war die Stelle, an der ich jedesmal aufhören musste. Es ging gar nicht anders, ich konnte nicht mehr weiterlesen. Was für ein hanebüchener Unsinn. Noch nach dem zwanzigsten, dreißigsten Lesen dieser Zeilen musste ich laut loslachen, so albern fand ich diese Stelle. So auch gestern, als ich in eben jenem Cafe Hawelka in Wien saß. Was für ein Kitsch, was für ein Volltrottel - wobei ich nicht wusste, wem dieses in Sekundenbruchteilen durch mein Hirn eilende Attribut galt, mir oder dem Leutnant Beimpold. Denn mal ganz ehrlich, und das gestehe ich mir in stillen Stunden ein - kein normal denkender Mensch würde so einen Schmarrn lesen. Geschweige denn ein Assistent der Literaturwissenschaften. Zumindest nicht freiwillig. Ich jedoch konnte inzwischen keinen Tag mehr verbringen, ohne darin zu lesen. Schon jetzt freute ich mich wie ein kleines Kind auf die nächste Szene, in der Beimpold feststellen würde, dass diese Schauspielerin, diese Lola Ingrisch, ein männerverschlingender Vamp war. Dieser Jungspund in Leutnantsuniform hätte sich gar nicht so sehr anstrengen müssen - die Ingrisch stand auf Frischfleisch und hätte ihn wahrscheinlich von sich aus abgeschleppt, wenn diese Memme sie nicht angesprochen hätte.
"Peter Handke, ha! Ingeborg Bachmann, da lach ich mich doch tot", schrie Rudolfine Burger und ließ dem Geschrei ein schrilles Lachen folgen, so dass ich Angst bekam, sie würde ihren Worten Taten folgen lassen. Aber schnell erholte sie sich wieder.
"Bachmann", fuhr sie in unveränderter Lautstärke fort. Wenn sie doch nur nicht so taub wäre, dachte ich, oder wenigstens ihr Hörgerät eingeschaltet hätte, dann müsste sie nicht immerfort schreien. "Bachmann", wiederholte sie und ihre Stimme überschlug sich.
Dann verstummte sie. Ich fragte mich, ob der rächende Geist Ingeborg Bachmanns über sie gekommen war, da flüsterte sie: "Thomas Bernhard, ja , das war einer. Der Einzige, der Wahre." Sie schaute auf die Wand in meinem Rücken. Ich drehte mich um und tatsächlich, dort hing ein Portrait Thomas Bernhards, das ich beim Betreten der Wohnung nicht gesehen hatte. Noch während ich das Bildnis des alten Grantlers betrachtete, hatte sie sich wieder gefangen.
"Und heute", keifte sie, "was ist heute?"
Das fragte ich mich auch, aber ich wollte sie in ihren Gedankengängen nicht unterbrechen.
"Heute feiern sie so einen Wollschläger, einen Ransmayr, reden von dem postmodernen Roman und haben keine Ahnung von der Schöngeistigkeit der Literatur. Da stimmen Sie mir doch zu, oder?"
Ich stimmte.
"Und dann...", sie schnappte nach Luft, während ich ahnte, dass es nun Elfriede Jelinkek an den Kragen gehen würde.
"Und dann..." fing sie noch einmal an. Oje, die arme Klavierspielerin, dachte ich.
"Und dann schmeißen sie dieser Frau aus der Steiermark auch noch einen Nobelpreis vor die Füße. Unfassbar." Theatralisch fuchtelte sie mit den Händen in die Luft. Unfassbar, tatsächlich, das fand ich auch. Unfassbar, dass diese keifernde, tobende, zürndende und nicht zuletzt absolut stocktaube Alte die Verfasserin meines Lieblingsromans sein sollte. Des Romans, der trotz seines Kitsches, trotz seines Schwulstes, trotz seiner Vorhersehbarkeit, trotz all der Klischees, die er bediente, der all dem zum Trotze mein Lieblingsroman geworden war. Der mich träumen ließ, wenn ich aus den dunklen Gassen Londons mich langsam wieder zur Realität durchkämpfte. Der mich Schweben ließ über all den Widrigkeiten eines Halbtagsjobs hinweg. Der mich aber auch in den Wahnsinn trieb, denn nur Wahnsinn konnte mich nach Wien und in das Cafe Hawelka geführt haben, wo ich zufällig mitbekommen hatte, dass Rudolfine Burger, meine verehrte Rudolfine Burger ganz in der Nähe wohnte.
Ich hatte wohl ein wenig zu laut gelacht, vielleicht ein weiteres Anzeichen des beginnenden Wahnsinns. An den Nachbartischen begannen die Leute zu tuscheln und in meine Richtung zu schauen. Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck schaute ich mich um. Und dann sah ich sie. Langes, schwarzes Haar, das sie sich mit einer kurzen Bewegung aus dem Gesicht schüttelte. Frech grinste sie mich über einen Löffel Sachertorte hinweg an. Den sie dann mit aufreizender Lässigkeit in den Mund schob. Verlegen schaute ich nach unten. Und ärgerte mich. Diese verdammte Schüchternheit. In einem Buch wäre so etwas nicht passiert. Dort wäre der Held aufgestanden, hätte die Schöne angesprochen, sie hätten geplaudert, gelacht, wären vielleicht in die Disco oder ins Kino und anschließend zu ihm nach Hause. Oder zu ihr. Ist ja egal. Und dort...
"Möchte der Herr noch einen Kaffee?", zerstörte eine knarzende Stimme meine Tagträume.
Ich schaute auf. Ein älterer Kellner stand vor mir. Noch bevor ich antworten konnte, zeigte er auf das Buch, das aufgeklappt vor mir lag.
"Die Abenteuer des Gardeleutnant Johann Beimpold", sagte er. "Ein wunderschöner Roman. Leider der einzige, den Rudolfine Burger geschrieben hat." Er seufzte.
"Sie kennen die Autorin?", fragte ich.
"Aber natürlich", entgegnete er, "sie kommt jeden Tag auf einen Schlagobers mit Sahne. Seit mehr als sechzig Jahren. Wobei, heute war sie noch gar nicht da", fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
"Wissen Sie denn, wo Frau Burger wohnt?"
Der Kellner schaute mich an, ich setzte mein treuherzigstes Gesicht auf, jenes, das mir schon durch das Studium geholfen hatte, und versprach, nachschauen zu wollen, ob Frau Burger nichts fehle. Schließlich gab er sich einen Ruck und mir die Adresse. Die Wohnung war nur wenige Straßenzüge entfernt. Ich zahlte und schaute nach der Schönen mit der Sachertorte. Weg. Sie war einfach verschwunden. Aber was hatte ich mir auch gedacht? Wahrscheinlich hatte ihr Grinsen einem anderen gegolten. Ich stand auf und ging die paar Meter zu Rudolfine Burgers Wohnung. Ich klingelte und wartete. Schließlich wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet. Ein von Falten und Furchen durchzogenes Gesicht erschien in der Türöffnung und fragte, was ich wolle. Statt einer Antwort streckte ich ihr "Die wunderbaren Abenteuer des Leutnant Johann Beimpold" entgegen. Die alte Frau schaute lange auf das Buch, dann öffnete sie eine Sicherheitskette und bat mich in ihre Wohnung. Sie führte mich in ein Wohnzimmer, das genau so aussah, wie ich mir das Heim der Frau vorgestellt hatte, die einen Leutnant Johann Beimpold auf die Menschheit losgelassen hatte. Unzählige Kissen, Plüsch allüberall, mindestens fünf Stehlampen, alle mit Hauben und Bommeln und Zierart der unmöglichsten Art. Auf jeder freien Fläche, auf jedem Sofa, jedem Sessel, jedem Stuhl waren Puppen drapiert, meist aus Porzellan, einige aber auch aus Stoff. In den beiden Glasschränken rechts und links an der Wand waren Kännchen und Tässchen aufgereiht, in einer solchen Vielzahl, dass man an jedem Tag des Jahres ein anderes benutzen konnte, ohne jemals spülen zu müssen. In unserer WG wäre sie dafür gefeiert worden. Bei genauerem Hinsehen konnte ich jedoch erkennen, dass die Kännchen und Tässchen Sprünge hatten, an einigen Tassen fehlte sogar der Henkel. Die Puppen waren ebenfalls nicht alle intakt. Einige hatten nur noch ein Auge, anderen fehlte ein Ohr, ein Finger oder gar die ganze Hand. Eine Puppe war ihrer Nase verlustig gegangen. Sie saß im Schatten, als ob sie sich ihres Makels schämte. Die Kissen waren fadenscheinig und die Sessel durchgesessen. Es war die alte Wohnung einer alten Frau. Wir setzten uns und sie fragte in einer unglaublichen Lautstärke, was ich von ihr wolle. "Doch nicht etwa ein Autogramm?", kicherte sie und verschluckte sich.
Und da machte ich den Fehler, sie zu fragen, warum sie denn nur dieses eine Buch geschrieben habe. Statt eine Antwort zu geben, lief sie rot an, schnellte aus dem Sofa hoch und startete ihre Hasstirade gegen jedweden Schriftsteller Österreichs.
Ich hatte meine Ohren inzwischen auf Durchzug geschaltet, eine Eigenschaft, die unabdingbar ist, um Vorlesungen der Literaturwissenschaft zu überleben, und deshalb nicht mitbekommen, dass die Wohnungstür geöffnet wurde. Rudolfine Burger hatte natürllich auch nichts gehört, zum einen wegen ihrer Taubheit und zum anderen, weil sie gerade mit Inbrunst und in voller Lautstärke über Oswald Wiener und Werner Schwab herzog. So erschraken wir beide ziemlich heftig, als eine junge Frau das Wohnzimmer berat. Rudolfine Burger griff sich an ihr Herz, sank auf das Sofa zurück und stöhnte theatralisch. Ich schaute von ihr zu der Besucherin und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen.
"Kindchen", flüsterte die Rudolfine Burger, "du sollst mich doch nicht immer so erschrecken."
Kindchen warf mir einen bösen Blick zu und setzte sich dann neben die alte Dame.
"Wie können sie meine Tante nur so aufregen", sagte sie und schaute mich vorwurfsvoll an. Dann zwinkerte sie mir frech zu und schließlich grinste sie wieder. Es war niemand anderes als meine Sachertorten-Schönheit aus dem Hawelka. Ich schnappte nach Luft, dann grinste ich zurück. Was würde der Held aus Rudolfine Burgers einzigem Roman an dieser Stelle sagen?
"Meine Gnädigste", sagte ich und mein Grinsen wurde breiter, "ich kam nicht umhin, ihr Erscheinen zu bemerken, was sage ich, zu bewundern."
Rudolfine Burger hielt den Atem an und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, ihre Nichte blickte ebenfalls erstaunt. Wahrscheinlich dachte sie, ich wäre verrückt geworden. Dann prustete sie los. Ich stieg ein und schließlich lachten wir alle drei.