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Paranoia
Link zur überarbeiteten Fassung
Von Weitem konnte sie die Sirene eines Polizeiwagens hören. Sie war sich sicher, dass sie hinter ihr her waren. Doch sie hatte nichts getan. Nein. Doch – sie lebte. Das war Verbrechen genug. Das hatte sie gelernt. Sie schaute aus dem Fenster. Es war nichts zu sehen. Wie denn auch, die Wagen waren zu weit entfernt.
Nun schien es, als wären es zwei Wagen. ‚Es werden immer mehr’, dachte sie. ‚Sie wollen mich. Sie brauchen mich als Sündenbock. Für den Mord letzter Woche. Er geschah doch in unserer Straße.’
Doch keiner hatte etwas gesehen. Keiner wollte etwas gesehen haben. Der Mörder könnte sich ja an einem rächen. Das wollte keiner. Das Leben war ihnen zu wertvoll. Das verstand sie nicht. Sie war nicht da. Sie konnte nichts gesehen haben. Sie war im Urlaub. Sie hatte ihre Schwester besucht. Befand sich zur Tatzeit auf dem Heimweg. Sie wusste das. Sie hatte es auch der Polizei gesagt. Aber glaubten sie ihr?
Sie schaute aus dem Fenster. Ins Nichts. In die Dunkelheit. In den Regen, der auf die Straße prasselte. Sie würde warten. Warten bis sie hier waren. Dann würden sie sie mitnehmen. In eine Zelle sperren. Sie stundenlang verhören. Ihr Vorwürfe machen, wie sie das nur tun konnte. Etwas tun konnte, was sie nicht getan hat.
Die Sirenen wurden lauter. Gleich werden sie hier sein, dachte sie. Gleich, nicht mehr lange und ich bin erlöst. Muss nicht mehr mit der Qual leben, dass sie mich verfolgen.
Die Wagen waren auf ihre Straße eingebogen. Sie konnte sie sehen. Sie überlegte sich, was sie der Polizei sagen könnte. Sie wusste es nichts. Vielleicht ‚Guten Abend. Danke, dass Sie mich erlösen?’ Oder doch lieber ‚Sie haben lange gebraucht, um mich zu finden?’ Vielleicht sollte sie lieber schweigen.
Doch als sie weiter vor sich hin dachte, fuhren die Wagen vorbei. Sie wollten nicht zu ihr. Sie würden sie nie mehr finden. Sie wäre bald von ihren Qualen erlöst.
Sie schaute sich nochmals ihre kleine Wohnung an. Vergewisserte sich, dass der Brief noch an der richtigen Stelle lag. Dort, wo man ihn finden könnte.
Sie nahm ihre Tasche und die Autoschlüssel. Bald wäre sie erlöst von ihren Qualen. Nicht mehr lange, dachte sie. Bald hast du es geschafft.
Die Sirenen verschwanden. Sie ging aus ihrer Wohnung, bestieg das Auto und fuhr zum Wasser…