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Pastellmalerei
Ihn so zu sehen, tat mir beinahe physisch weh. Ich erinnerte mich daran, wie er früher war. Wie oft wir zusammen im Garten gewesen sind und dem Hund nachjagten, weil der es offensichtlich lustig gefunden hatte, uns zu ärgern, indem er beim Gassi gehen einfach immer und immer wieder ausbüchste. Mein Großvater war stets ein guter Läufer gewesen. Oft standen wir vor seiner kleinen Ego-Wand mit all den Bildern und Medaillen, vor allem aus seiner Schulzeit.
Dieser stolze Mann lag nun wie ein Häufchen Elend in seinem Bett, das wir ins Wohnzimmer im Erdgeschoss gestellt hatten, weil er sich geweigert hatte, im oberen Stock zu schlafen. Dort hatten wir nämlich keinen Fernseher.
„Ich brauche doch ein bisschen Abwechslung!“, hatte er gesagt, als wir ihn vom Krankenhaus in unser Haus holten. Mein Mann war zuerst nicht begeistert, aber ich wollte Großvater die kühle und distanzierte Atmosphäre im Krankenhaus nicht länger zumuten.
Großvater und ich hatten schon immer einen guten Draht zu einander. Ich war wohl ein ziemlich freches Mädchen, immer musste ich meinen Willen durchsetzen. Und von Erwachsenen ließ ich mir schon gar nichts sagen. Vor allem nicht von meinem Stiefvater. Außerdem, ich hätte sowieso machen können, was ich gewollt hätte, es wäre ja doch nicht gut genug gewesen für ihn. Als ich meinen Eltern gegenüber den Wunsch erwähnte, Malerin zu werden, hatte mein Stiefvater nur gelacht und gesagt, dass ich sowieso kein Talent hätte. Meine Mutter hatte nur die Hände überm Kopf zusammen geschlagen und war dann sofort etwas putzen gegangen.
Nur meinem Großvater zeigte ich meine Bilder. Er war es auch, der mir das Kunststudium ermöglicht hatte. Niemand aus meiner Familie hatte an mich geglaubt, bis auf ihn.
Eines Tages drückte er mir eine bunte Karte in die Hand. Ich schaute ihn fragend an, aber er bedeutete mir nur zu lesen. Es war eine Einladung zu einer Vernissage in einem Gymnasium. Ausgestellt wurden meine Kohlebilder. Bis heute weiß ich nicht, wie er das angestellt hatte.
Die Vernissage wurde ein voller Erfolg und fast alle meiner Bilder wurden verkauft. Es war auch jemand von einer recht bekannten Galerie anwesend, der meine Bilder wohl recht gut fand. Jedenfalls sagte er, dass ich einen wunderbaren Stil hätte und ich sicher bekannt werden würde. Er wollte meine Bilder für die Galerie. Ich hätte ihm nie geglaubt, dass es so kommen würde. Aber ich wurde vor allem unter Sammlern sehr beliebt. Irgend ein Politiker hat sogar so viele Bilder gekauft, dass er in jedem seiner Zimmer mindestens eines aufhängen konnte.
Das alles hatte ich dem Mann zu verdanken, der jetzt vor mir lag, abgemagert bis auf die Knochen, schrecklich blass und mit nie aufhörendem Husten. Er sah furchtbar alt und verbraucht aus, als er mir eine gute Nacht wünschte und mir mit seinen zittrigen Fingern, die nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schienen, übers Haar strich. Am liebsten hätte ich laut losgeheult, so sehr verfluchte ich den Tod, von dem ich wusste, dass er bald kommen würde, um Großvater zu holen. Aber ich riss mich zusammen und wünschte auch ihm eine gute Nacht, ehe ich nach oben ging, um mich bettfertig zu machen.
Als ich mir die Zähne putzte, erinnerte ich mich daran, wie sehr Großvater immer meine Bilder gemocht hatte. Ich malte am liebsten mit Kohle, also schwarz-weiß. Zu meinem 25. Geburtstag hatte er mir Pastellkreiden geschenkt, weil er immer sagte, die Welt sei schon schwarz und grau genug. Richtig gefreut habe ich mich über sein Geschenk nie. Ich tat es Großvater zuliebe und malte ein Portrait seiner Frau, meiner Großmutter. Im Gegensatz zu ihm, gefiel mir das Bild überhaupt nicht. Ich war eben eine Schwarz-Weiß-Malerin.
Meine Großmutter starb ein Monat darauf an einem Schlaganfall. Keiner hatte damit gerechnet. Am Tag der Beerdigung trat mein Großvater zu mir und bat mich um das Bild. Ich gab es ihm, wie hätte ich ihm diesen Wunsch abschlagen können? Er rahmte es ein und stellte es auf seinen Nachttisch. Wenn er verreiste, nahm er es mit und auch als man ihn ins Krankenhaus brachte, weigerte er sich, es zu Hause zu lassen. „Niemals lasse ich meine Frau zurück!“, sagte er immer.
Die Kreiden rührte ich nie wieder an, obwohl mich Großvater oft darum gebeten hatte. Ich konnte sie einfach nicht berühren, ich hasste sie.
Ich spülte meinen Mund aus und ging schlafen.
Am nächsten Morgen stand ich spät auf, sehr ungewöhnlich für mich, denn ich malte am liebsten, wenn alle noch schliefen. Ich brauchte die Ruhe und ich fand immer, dass am Morgen die Welt noch anders roch, dass sie irgendwie noch anders war.
Ich ging hinunter und setzte Kaffee auf, damit er fertig war, wenn ich meinen Mann wecken ging. Ohne seinen Kaffee war er schrecklich morgenmuffelig, ganz im Gegensatz zu mir, ich hatte schon frühmorgens immer gute Laune.
Während sich die Kanne langsam füllte, ging ich ins Wohnzimmer, um nach Großvater zu sehen. „Guten Morgen, Großvater! Hast du gut geschlafen?“, fragte ich ins Zimmer. Ich bekam keine Antwort. Sofort rannte ich zu seinem Bett.
In den Händen hielt er das Pastellkreidebild von seiner Frau. Er hatte es auf seine Brust gelegt, unter der nun sein Herz aufgehört hatte, zu schlagen. Doch er lächelte und ich sah, dass er selbst im Tod seine Liebe zu seiner Frau, mir und der Malerei aufrecht erhalten hatte.