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Patrick
Es ist wie ein Trance-Zustand, vor diesem Gebäude zu sitzen, die lodernden Flammen zu genießen und zu wissen, wessen Werk es ist. Diese panischen Menschen, die diesen Hass verspüren, haben doch keine Ahnung, warum alles so ist, warum der Mensch so etwas tut und warum wir damit nicht aufhören können. Es ist befriedigend, etwas für die Sache getan zu haben, befriedigender als der schönste Sex der Welt sein kann. Es ist dieses Gefühl der absoluten Freiheit, niemandem untergeben zu sein, für seinen Frieden selbst sorgen zu können und zu wissen, wie viele Menschen schon für die Sache gestorben sind.
In gewisser Hinsicht bin ich kindisch, aber ich liebe es einfach, die Wärme der Flammen zu spüren. Zwei Minuten bleibe ich noch, vielleicht auch eine, vielleicht auch drei – spätestens, wenn die Sirenen heulen, bin ich weg. Und das Spiel beginnt wieder von vorn.
Patrick war schon immer eine Führungsfigur. Viele der Jugendlichen in Cromac schauten zu ihm auf. Und er genoss seine Stellung, die er weder aufgrund besonders mutiger Taten, noch aufgrund flammender Reden bekam. Der einzige Grund seiner Stellung war das, wovon sie in Cromac alle zu wenig hatten: Das Geld. Im ärmsten Stadtteil von Belfast, nahe der Innenstadt, sammelte er einige etwa gleichaltrige Jugendliche um sich, die gerne seinen Geschichten lauschten – handelten sie doch von ihrem Irland.
Doch es war reines Schicksal, dass Patrick und seine Mutter vor wenigen Jahren von Craigavon nahe Lough Neagh nach Cromac zogen, um ein neues Leben zu beginnen. Deidre, Patricks Mutter, wollte nach dem Tod ihres Mannes nichts mehr besitzen, was sie an ihn erinnerte. Zu schmerzlich war der plötzliche Tod des IRA-Akivisten. Also verkaufte sie das ganze Land, das sie um Lough Neagh besaßen, legte das verdiente Geld an und bezog eine alte Arbeiterwohnung in Cromac. Sie gab nur das aus, was sie brauchte und so hatte sie auch Patrick erzogen. Wenn Patrick aber nur teilweise das beherzigen könnte, was Deidre ihm versucht hatte beizubringen, dann hätte keiner gemerkt, wie reich die beiden wirklich waren. Aber mit neuen Schuhen, einer neuen Jacke und einem eigenen Auto zog er sofort bei seiner Ankunft neue Freunde an. Nun lebten die beiden von dem Geld, das ihr Vater ihnen hinterlassen hatte. Und das, obwohl Patrick ein kluger Mensch war. Er hätte sogar zum Studium auf das berühmte Trinity College nach Dublin gehen können. Doch der 20-jährige zog es lieber vor bei seiner Mutter zu bleiben. Zu schmerzvoll war der Verlust des Vaters für ihn gewesen. Und nun hatte er Angst, dass seine Mutter dasselbe Schicksal ereilen könnte. Der Beschützerinstinkt trieb ihn dazu an, arbeits- und perspektivlos im ärmsten Stadttteil Belfasts bei seiner Mutter zu bleiben.
Zu dieser Jahreszeit haben er und seine Freunde oft auf einer der Bänke am Lagan gesessen, da sie ihnen einen wundervollen Blick über den Fluss boten. So saß er auch auch an diesem Tag mit seinem Freund Cathal dort und sah den Wellen zu, wie sie sich unermüdlich ihren Weg an den Ruderbooten vorbei bahnten. Manche schafften es nicht, sondern zerbrachen an ihrer Aufgabe, unbeschadet bis in den Hafen Belfasts vorzudringen, wo sie sonst mit Sicherheit ein großer Frachter oder ein Luxusliner erwischt hätte. Ein frischer Wind wehte von Nordwesten den beiden Katholiken ins Gesicht, konnte aber nichts an der Stimmung der beiden ändern. Wie in Trance saßen sie regungslos auf dieser Bank, nahmen weder die Automassen wahr, die hinter ihnen die Straße befuhren, noch die Jogger und Spaziergänger, die vor ihnen den Uferweg entlang gingen.
„Meinst du, er hat überlebt, Cathal?“, brach Patrick endlich das lange Schweigen und sah auf.
Doch Cathal war in Gedanken. Der schmerzliche Verlust ihres Freundes nahm ihn schwer mit. Patrick beobachte, wie ihm eine Träne über die Wange glitt. Der Anblick brach ihm das Herz – Fühlte er sich doch als etwas wie einen großen Bruder für seine Freunde.
„Cathal?“, fragte er vorsichtig nach und erst jetzt erwachte Cathal aus seiner Trance.
„Entschuldigung, was hast du gesagt?“
„Glaubst du, er hat überlebt?“
Ronan und Cathal waren die besten Freunde gewesen. Man traf sie im Normalfall immer nur zusammen an. Sie erinnerten ein wenig an Bonnie und Clyde. Niemand wollte sie bei sich haben, aber gern hatte man sie trotzdem.
„Ich würde dir und mir gerne Mut machen und sagen, dass er mit Sicherheit daheim sitzt und sich über uns totlachen würde, wenn er erfahren würde, was wir gerade denken.“
„Du glaubst also, er ist tot?“
„Du hast die Nachrichten gehört.“, erläuterte Cathal. „Keiner ist da lebend raus gekommen.“
Schweigen folgte. Patricks Blick fiel wieder auf den Lagan und seine Wellen, wie sie sich voller Sinnlosigkeit weiter vorantrieben – unwissend, welches Schicksal sie später erwarten sollte.
Fassungslosigkeit zierte Deidres Gesicht, als sie die Bilder im Fernsehen verfolgte. Gedankenverloren nahm sie die Bilder auf dem Schirm wahr, beobachtete, wie das Amateurvideo über das Leid der Menschen fuhr, verwackelt das brennende Krankenhaus zeigte, bis es vom Nachrichtensprecher unterbrochen wurde, der immer wieder dieselben Phrasen losließ.
„Gibt es schon etwas Neues, Mum?“ Patrick ließ seine Mutter aufschrecken.
„Nein, immer noch dieselben Kommentare.“ Die Fassungslosigkeit der Mutter spiegelte sich in ihrer Stimme wider. Es war kein richtiger Klang, der aus ihrem Mund kroch, es war ein Krächzen, als wüssten die Stimmbänder nicht, welchen Ton sie anschlagen sollten.
„Wo warst du eigentlich so lange?“, fragte sie. „Es ist wieder gefährlich draußen.“ Doch schon als er das Zimmer betrat, gab seine Miene Antwort.
„Ronan wollte gestern Abend zur Zeit der Explosionen seine Schwester im Krankenhaus besuchen.“, begann er seine Erklärung. „Du weißt schon, sie hatte diesen...“
„Dann ist er tot?“ unterbrach Deidre ihren Sohn.
„Cathal und ich gehen davon aus. Und seine Schwester ist es wohl auch.“
Langsam stand sie auf und nahm ihn in den Arm.
„Setz dich zu mir und lass uns fernsehen. Vielleicht wissen sie bald etwas Neues.“ Genau das war es immer gewesen, was Patrick an seiner Mutter mochte. Egal, in welcher Situation sie sich befinden mochten, immer wieder konnte Deidre dafür sorgen, dass er sich ein klein wenig besser fühlte. Erst sie ließ ihn sich wieder als Mensch fühlen. Und nun saßen sie auf dem Sofa und sahen mit leeren Blick auf den flimmernden Bildschirm.
„Es gibt Neuigkeiten über die Attentäter“, waren die ersten Worte, die die beiden vom Nachrichtensprecher bewusst wahr nahmen. „Wie wir von Polizeisprecher Stewart erfahren haben, sollen zwei Verdächtige in Gewahrsam genommen worden sein, die kurze Zeit nach dem Anschlag in der Nähe des Tatorts unverletzt aufgegriffen wurden.“
Der Sprecher der Polizei erschien auf dem Bildschirm und sprach in die vor ihm aufgebauten Mikrofone, während gleichzeitig ein Blitzlichtgewitter ausbrach.
„Es ist uns gelungen, zwei Jugendliche, die zusammen in der Nähe des Tatorts kurz nach dem Attentat verdächtig um die Häuser schlichen, festzunehmen. Der eine ist 22, der andere 21 Jahre alt und beide ebenfalls geständig. Wie sie überzeugt behaupten, gehören sie der „Wahren IRA“ an, eine uns bisher unbekannte Splittergruppe der illegalen Organisation.“
„Was?“ Mit weit aufgerissenen Mündern starrten die beiden Zuschauer auf den Bildschirm. Diese Tatsache war für die beiden ein Schlag ins Gesicht. Patrick fühlte sich von einem Moment auf den anderen ganz schwach.
„Das.. waren... Katholiken?“, stotterte er. „Was sind das für Katholiken, die ein Krankenhaus in die Luft sprengen?“
Eine Antwort wusste Deidre darauf auch nicht. Sie bekreuzigt sich nur und fügte eine leises „Gütiger Herr, steh uns bei!“ hinzu.
Patrick versuchte sofort seine Gedanken zu ordnen. Diese neue Splittergruppe der IRA hatte von nun an einen neuen Terrorismus in Irland erfunden. Es ging für sie nun nicht mehr nur um die Erregung der Aufmerksamkeit, um den Engländern klar zu machen, was in Irland überhaupt läuft. Nein, mit diesem Attentat hatte eine ganz neue Zeitrechnung begonnen. Es würde in einen Guerillakrieg ausarten und Belfast zum Hauptziel vieler Anschläge werden lassen. Hass würde unter der Bevölkerung wieder zur Normalität werden. Katholische Städte und Viertel wie Bogside oder Cromac würde die Aufmerksamkeit der Welt wieder auf sich lenken. Die IRA war wieder aktiv. Und schlimmer als je zuvor.
Patrick wehrte sich gegen die Gedanken, seinen Vater mit den Attentätern zu vergleichen, doch es half nichts. Dennoch war er sich sicher, dass sein Vater nie in der Lage gewesen wäre, Krankenhäuser in die Luft zu sprengen.
„Mum“, begann er. „ich vermisse Dad!“
„Ich auch“, antwortete sie kaum hörbar. „Ich auch!“
Patrick konnte die Löcher, die er nachts schlaflos in seinem Bett liegend in die Luft starrte, beinahe greifen. Zu unvorbereitet hatte ihn das Attentat getroffen. Und plötzlich sah er sich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Viele seiner Vorfahen Vorfahren starben im Kugelhagel zwischen Protestanten und Katholiken. Und alle waren sie auf der Seite der IRA. Und nun traf es einen seiner Freunde. Ronan, ein lebenslustiger Junge, den nichts aus der Ruhe bringen konnte, außer, dass man plötzlich diese Lebensfreude nie wieder sehen könnte. Die Lebensfreude von Ronan, dem Jungen mit den Sommersprossen, den roten Haaren, den blauen Augen. Ein Jugendlicher Belfasts, der eigentlich alle irischen Eigenschaften auf sich vereinte: Gastfreundschaft, Genussfreude, Lebensfreude, Jähzornigkeit. Es gab keinen Menschen in Irland, so meinte Patrick immer, der „irischer“ als Ronan war. Und immer wieder bewies er es.
Ein Steinchen war es, das Patrick aus seinen Gedanken riss. Irgendjemand hatte es an sein Fenster geworfen. Hastig setzte er sich auf. Eine Träne tropfte ihm auf die Pyjamahose, was er jedoch nicht weiter beachtete. Sein müder Blick fiel auf seinen Wecker, der halb zwei anzeigte. Wer um alles in der Welt wollte ihn so spät noch besuchen? Langsam stand er auf, öffnete das Fenster und sah auf die Straße. Der Anblick, der sich ihm dort bot, ließ sein Gesicht schlagartig erhellen.
„Ronan!“, rief er erfreut. „Du lebst?“
Doch Ronan ließ sich nicht viel Zeit zu antworten. Hektisch sah er sich um.
„Schnell, mach die Tür auf und lass mich rein. Ich muss mit dir reden.“
Patrick sprang wie ein Kind am Weihnachtsabend zur Tür. Nachdem er sie geöffnet hatte, starrte ihn direkt ein großes, breites Gesicht an, das von einem bis zum anderen Ohr grinste. Mit einer kurzen Handbewegung bat er den Gast in das Haus.
„Treten Sie ein, der Herr“, frotzelte er. „Aber sei leise dabei. Meine Mutter schläft. Sie würde sich nicht freuen, wenn wir sie wecken.“ Ronan nahm das Angebot dankend an und betrat in ausschweifendem Schritt das Haus. Patrick nahm sich einen Moment und musterte die Sommersprossen, als würde er sie einzeln zählen wollen. Ein Stein schien ihm vom Herzen zu fallen.
„Mein Gott, was bin ich froh, dich zu sehen.“
„Hey, Er ist auch mein Gott.“ Ronan zeigte immer noch sein Paradegrinsen. „Und was glaubst du erst, wie ich mich freue, dich zu sehen.“
Wortlos saßen sich nun die beiden Freunde in Patricks Zimmer gegenüber und schienen einen Wettbewerb über das breiteste Grinsen abzuhalten. Ganz vergessen waren die Gedanken, die Patrick noch vor fünf Minuten alleine in diesem Zimmer hatte. Das Gesicht, das ihn angrinste, die blauen Augen, die wieder diese Lebensfreude versprühten, die roten Haare, die für die Jähzornigkeit standen – Mit einem Schlag waren sie wieder Gegenwart. Wäre da bloß nicht Ronans Schwester gewesen. Patricks Blick verdunkelte sich mit einem Mal..
„Was ist los?“ fragte Ronan. „Hab ich irgendwo einen Pickel?“
Dieser Scherz wollte jedoch nicht so recht zünden.
„Ich musste gerade an deine Schwester denken.“
„Keine Angst, Patrick, ihr geht es gut. Sie liegt im Royal Victoria. Ich konnte sie noch rechtzeitig raus schaffen.“
Die Freude über das Überleben der Schwester seines Freundes währte für Patrick nicht lang.
„Was heißt das? Du konntest sie noch rechtzeitig raus schaffen?“
Verwirrung breitete sich in Patrick aus. Sollte etwa sein Freund etwas mit der Sache zu tun haben. Er wollte es nicht glauben, obwohl er wusste, wie jähzornig Ronan sein konnte.Verwirrung wich Angst, die Wut wich. Und Patrick fühlte sich mit einem Mal schuldig. Er hatte keine Bombe gelegt, nein, aber er wusste, wer es war. Seine Augen verengten und verdunkelten sich. Nun war der Ronan, den er kannte, tatsächlich gestorben und er hatte einen neuen Ronan kennen gelernt. Die Jähzornigkeit war vollständig aus ihm heraus gekommen.
„Was willst du hier?“, fragte er tonlos.
„Ich brauch Geld!“
Patrick konnte es nicht fassen. In diesem Moment noch die Trümmer eines Krankenhauses geräumt, das sein Gegenüber gesprengt hatte, und er beschafft sich schon Geld für den nächsten Angriff.
„Du hast sie wohl nicht alle.“ Übelkeit stieg in ihm auf. „Warum bittest du gerade mich darum?“
„Es war keine Bitte...“ Patrick wollte nicht glauben, dass Ronan bei solch einer Forderung auch noch ein so kurioses Grinsen zeigen konnte. Er fragte sich selbst, ob es Sarkasmus war.
„Und was hindert mich daran, die Polizei zu rufen?“ Patrick stand schon auf, doch eine abwertende Handbewegung Ronans ließ ihn stoppen.
„Dann könnte mir einfallen, dass du etwas damit zu tun hast.“
Patrick bemerkte, welch eigenartiges Gefühl die Mischung aus Wut und Verwirrung sein kann.
„Ich versteh dich nicht...“ Er ließ sich wieder zurück in seinen Stuhl fallen.
„Es gibt genügend Fotos von uns beiden. Der Polizei ist es eigentlich egal, ob wir zusammen wirklich Billard gespielt oder ein Attentat geplant haben. Für die zählt nur das Bild! Ich komme morgen noch mal um dieselbe Zeit, dann hast du 5000 Pfund Sterling für mich bereit. Andernfalls...“
Ronan führte diesen Satz nicht zu Ende, sondern verschwand im dunklen Flur. Nur wenige Sekunden später fiel die Tür ins Schloss. Patrick saß noch eine Weile in seinem Stuhl und sinnierte über seinen Freund. Zusammen waren sie vor erst kurzer Zeit durch Irland gereist. In nur fünf Tagen waren sie quer über die grüne Insel gereist. Ob Cork, Killkenny oder Galway – überall trafen sie neue Freunde und gutes Bier. Eigentlich hatte er immer das Gefühl gehabt, Ronan genau zu kennen. Doch diese Charakterwandlung warf viele Fragen auf, vor allem, weshalb Patrick nicht einmal merken konnte, dass Ronan solche Aktivitäten pflegte. Patrick verabscheute diesen Menschen, um den er noch wenige Minuten zuvor getrauert hatte. Zu gern würde er die Polizei rufen, aber es war nicht die Angst, dass ihn selbst eine Gefängnisstrafe erwarten würde, sondern eher, dass er in diesem Fall seine Mutter im Stich lassen müsste. Er hatte Angst, sie würde dasselbe Schicksal wie sein Vater ereilen. Seine Mutter hatte ihr Leben lang damit vergeudet, auf Patrick aufzupassen. Nun war er an der Reihe.
Patrick lernte Ronan, schon kurz nachdem er und seine Mutter in Cromac eingetroffen waren kennen. Er schlenderte damals durch die Straßen und traute an einer Ecke seinen Augen kaum. Er sah, wie ein Polizist auf einen etwa zehn Jahre alten Jungen immer und immer wieder einschlug. Wut baute sich in ihm auf und gerade, als er dagegen vorgehen wollte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
„Lass es!“, hörte er eine Stimme sagen. „Du bist der Nächste. Aber mit dir gehen sie nicht so glimpflich um.“
Als Patrick sich umdrehte, sah er in dieses breite, typisch irische Gesicht Ronans.
„Aber...“, widersprach er halbherzig, aber Ronan ließ ihn nicht ausreden.
„Lass uns lieber fortgehen und so tun, als hätten wir nichts gesehen.“
Patrick wollte eingreifen, tat es dann aber zu seinem Glück nicht, denn wie er kurze Zeit darauf erfuhr, hatte sich Ronans Bruder mal in solch eine Sache eingeschaltet. Wenige Tage später, wurde er zu Tode geprügelt, aufgefunden. Einen Tag lang soll er in seinem eigenen Blut gelegen und gegen den Tod rebelliert haben. Natürlich war die Verbindung nie bewiesen worden, aber die einzig logische Erklärung.
Der Junge überlebte im Krankenhaus, doch wie Patrick später erfuhr, erhielt er die Schläge nur aufgrund eines Apfels auf dem Markt.
Wenige Minuten später als am Vortag klopfte Ronan mit einem Steinchen an die Scheibe von Patricks Zimmer. Doch dieses Mal ging er nicht zum Fenster, sondern griff unter sein Kopfkissen, holte das von Ronan verlangte Geld und stieg die Treppe zur Tür hinab, vor der Ronan schon ungeduldig wartete.
„Hast du das Geld?“, fragte dieser.
Wortlos gab ihm Patrick den Beutel, in dem er das Geld aufbewahrte. Ohne aufzuschauen wollte er die Tür schließen, doch der Fuss Ronans hinderte ihn daran.
Patrick starrte ihn voller Wut an.
„Was denn noch?“ Er versuchte soviel Abscheu, wie es nur möglich war, in seine Frage zu legen.
„Hast du schon einmal überlegt, bei uns einzusteigen?“ Patrick sah das sarkastische Grinsen eines Irren, der gerade den Stempel unter sein Todesurteil gemacht hatte. Er riss die Tür auf, schnappte sich Ronan am Kragen und drückte ihn mit einer Drehung an die Hauswand.
„Du bist krank, Ronan!“ Die Überzeugung, die Ronan in Patricks Augen sah, ließ selbst ihn erzittern. Patrick drückte mit seinen beiden Daumen auf die Gurgel Ronans.
„Bitte, lass das Patrick!“, röchelte der.
„Sag mir einen Grund, warum ich das sollte.“ Langsam löste er seinen Griff um den Hals, um die Antwort verstehen zu können.
„Willst du nicht wissen, warum?“ Das wollte Patrick tatsächlich.
Er ließ ab von Ronan, der mit seltsamen Kopfbewegungen den Hals wieder einrenken wollte.
„Nun sag schon, Ronan, warum?“
„Es ist die Rache, Patrick!“ Doch er verstand nicht. „Liest du keine Geschichtsbücher? Über 800 Jahre ist es nun schon her, dass die Engländer 1169 in unser Land kamen: 1536 der missglückte Reformationsversuch, 1607 die Ulster-Plantation, 1690 die Niederlage am Boyne, weshalb wir jedes Jahr die ekelhaften orangen Fahnen ertragen müssen oder 1800 der Act Of Union. Die Protestanten versuchen schon immer uns in unserer eigenen Heimat zu unterdrücken. Das lass ich nicht zu!“
„Jetzt willst du dein Leben lang Krankenhäuser in die Luft sprengen? Unschuldige Menschen töten, die gar nichts dafür können, was ihre Vorfahren vor 800 Jahren gemacht haben? Was ist mit dem Tod dieser Menschen, Ronan? Bedeutet das Leben dieser unschuldigen Menschen dir rein gar nichts?“
„Sie sind nicht unschuldig, sie waren Protestanten. Und die wenigen Katholiken sind den Heldentod gestorben. Warte noch ein wenig und sie sind unsterblich. Sie leben in unseren Erzählungen fort, als die Menschen, die geholfen haben, ein Irland zu formen.“
Patrick wollte nicht verstehen, was er hörte.
„Du spinnst doch. Wer Unabhängigkeit will, sollte in die Republik. 1921 wurde entschieden, dass Nordirland nach England gehört. Politisch, nach einem Aufstand, den es in der Geschichte nie mehr gegeben hat. Und dann glaubt ihr, ihr könntet die Engländer hier vertreiben, indem ihr Unschuldige tötet? Mein Gott, es gibt Protestanten, die sind genauso verrückt wie ihr. Du beginnst einen Krieg, Ronan und du merkst es nicht!“
„Den Krieg haben nicht wir begonnen, Patrick. Die Engländer sind in unsere Heimat gekommen.“
„Du sprichst von einem anderen Krieg, Ronan. Der ist nach dem Good-Friday-Agreement beendet worden.“
„Nein, er ist erst dann beendet, wenn die Engländer aus unserer Heimat verschwinden.“
Ronan stand auf und ließ Patrick ohne ein weiteres Wort vor dem Haus stehen.
Er dachte an den Jungen – Sean hieß er. Er dachte auch an Ronans Bruder, der sterben musste. Und er dachte an seinen alten Geschichtslehrer, der in der Schule immer wieder den protestantischen Loyalisten heraushängen lassen musste und es seine Klasse immer wieder spüren ließ – bestand sie doch zum Großteil aus Schülern aus katholischen Familien. Die protestantischen Mitschüler waren ihm natürlich die Liebsten. Doch nach der Schule ließen Patrick und seine Mitstreiter an den protestantischen Mitschülern das aus, was der Geschichtslehrer an ihnen ausgelassen hat. Wenn es der aber erfuhr, wurden sie umso schärfer bestraft. Aber das war alles Vergangenheit und Patrick hatte damit abgeschlossen. Das war keine Entschuldigung und schon lange keine Rechtfertigung für das, was Ronan tat.
Er ging in sein Zimmer, um schlafen zu gehen. Als er dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, sah er seinen Vater, wie er immer wieder nach Patrick rief, der sich jedoch nicht von der Stelle bewegen konnte. „Patrick, komm her!“ Doch Patrick konnte nicht. Er lief auf der Stelle „Soll ich dir unseren Witz erzählen?“ Patrick gab nicht auf, kam seinem Vater jedoch nich näher. Hinter ihm tauchte Ronan auf, richtete seine Pistole auf seinen Vater und drückte ab. Patrick wollte seinen Vater noch warnen, doch er konnte nicht sprechen. Sein Vater fiel tot um.
Am nächsten Tag begleitete Patrick seine Mutter zum Einkauf in die Stadt. Er war verwirrt aufgrund seines Traumes, denn schließlich kämpften Ronan und sein Vater auf derselben Seite, warum sollte einer den anderen umbringen wollen? Nun gut, dass sein Vater sich später durch Betrug auf die Gegenseite stellte, vernachlässigte er, denn schließlich drehten sich seine Gedanken seit dem Anschlag auf das Krankenhaus nur um die IRA-Aktivitäten seines Vaters.
„Was geht dir durch den Kopf, Patrick?“, unterbrach Deidre ihn bei seinen Gedankenspielen.
„Ach nichts, Mum“, seufzte ihr Sohn. „Ich erklär es dir zu Hause.“
Doch sie ließ nicht locker.
„Irgendeine Laus muss dir heute über die Leber gelaufen sein!“
„Patrick?“ Eine weibliche Stimme im Rücken der beiden unterbrach das Gespräch. Patrick kam sie vertraut vor und aus diesem Grund drehte er sich sofort um.
„Fiona? Was machst du denn hier?“, fragte Patrick, seine Überraschung nicht verbergend.
„Ich studier an der Queen´s Jura.“
Es entstand eine kuriose Szenerie. Obwohl sich die beiden seit Jahren nicht mehr gesehen und sich natürllich auch einiges zu erzählen hatten, standen sie sich nur sprachlos gegenüber und starrten einander an. Und daneben stand Patricks Mutter Deidre, die fragend auf das hübsche Mädchen blickte.
„Ach so, entschuldigt! Mum, kennst du Fiona noch? Wir waren zusammen auf der Schule!“
Erst jetzt vermochte Deidre das bekannte Gesicht einer Erinnerung an ein kleines Mädchen zuzuordnen.
„Du bist die kleine Fiona? Als ich dich das letzte Mal sah, warst du so groß.“ Sie überlegte einen Moment, bevor sie fort fuhr. „Wisst ihr was? Ich geh schon einmal einkaufen und du, Patrick, lädst Fiona zu einem Kaffee ein. Ihr habt euch bestimmt einiges zu erzählen.“
„Aber Mum…“
„Kein Aber, so macht das ein Gentleman. Ich finde mich auch alleine zurecht.“
Fiona genoss die Situation und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Na gut, Mum! Wir gehen hier in den Pub gegenüber! Komm einfach nach, wenn du fertig bist.“
„Viel Spaß!“, fügte Deidre hinzu, deren Gesicht immer noch ein Grinsen zierte.
Obwohl Deidre sie verlassen hatte, war die Szenerie noch nicht ganz aufgelöst. Immer noch standen sich die Schulfreunde von einst schweigend gegenüber.
„Gehen wir?“, begannn er. „Erzähl mal, wie es dir geht?“
„Ganz gut und selbst?“
„Naja, du hast ja bestimmt von dem Attentat gehört.“
„Oh ja. Ich kann einfach nicht glauben, dass Menschen zu so etwas..:“
Ein lauter Knall unterbrach das Mädchen. Für einen Moment lang war es mucksmäuschenstill auf der Straße. Die Passanten hielten inne und versuchten die Herkunft des Knalls zu lokalisieren.
„Patrick, was war das?“, brach Fiona völlig verängstigt die Stille. Als seien diese Worte ein Signal für die Passanten gewesen, brach plötzlich Panik auf der Straße aus. Keiner wusste, welchen Weg man einschlagen musste, dennoch war sich jeder sicher, das seine Richtung die richtige wäre. Und so entstand ein heilloses Durcheinander von Menschen, die wie Ameisen in einem zerstörten Haufen nur noch um ihr Leben rannten. Nur Patrick und Fiona standen weiterhin ruhig da und beobachteteten die Szene.
„Eine Explosion!“, fiel es Patrick wie Schuppen von den Augen. „Aus der Richtung des Supermarkts!“
Und schon rannte er in diese Richtung, entgegen die Staubwolken, die sich nun auch über dem alten Standort ausbreiteten – hoffend, dass sich die schlimmsten Befürchtungen als unwahr herauskristallisieren würden. Je näher sie dem Supermarkt kamen, desto mehr Staub umnebelte sie und es bedurfte der gesamten Wahrnehmung, um sich einen Weg an den Schatten vorbei zu suchen. Eine düstere Stille hatte sich verbreitet, die nur durch einzelnes Wehklagen, Stöhnen und Schluchzen unterbrochen wurde. Einer dieser Laute musste doch von Deidre stammen. Plötzlich stieß Fiona einen Schrei aus.
„Was hast du, Fiona?“, fragte Patrick besorgt und drehte sich zu ihr.
„Ich bin gegen etwas Weiches gestoßen und gestolpert.“
Unwillkürlich richtete Patrick seinen Blick nach unten und sah einen Körper. Die durch den Staub verschmutze und die Hitze versengte Kleidung kam ihm bekannt vor.
„Oh Nein! Mum!“
Patrick beugte sich über den leblosen Körper seiner Mutter, Tränen schossen ihm in die Augen, Fiona stand wortlos hinter Patrick. Tröstend legte sie ihre Hand auf seine Schulter.
„Ronan, ich verfluche dich!“
„Die Polizei geht mittlerweile davon aus, dass das Attentat im Supermarkt von Unionisten als Konter-Attentat auf das Ereignis im City Hospital ausgeführt wurde. Es wurde bis jetzt etwa hundert Opfer gezählt, dabei ist das Feuer noch gar nicht vollständig gelöscht. Es wird mit mindestens zweihundert weiteren Opfern gerechnet.“
„Hundert Opfer – und meine Mum ist eine davon.“
Patrick war mittlerweile wieder daheim. Im Schneidersitz saß er vor dem Fernseher, ein Kissen auf seinem Schoss und seine Augen nahmen das auf, was der Fernseher von sich gab. Mit den Gedanken war er an einem anderen Ort. Er wollte es nicht glauben, was mittags geschehen war. Heimlich verfluchte er seinen Vater und Ronan, wie sie beide einen Krieg führen wollten, der nicht nur Unschuldige tötete, sondern wohl auch nie ein Ende haben sollte. Er biss in das Kissen und Tränen flossen ihm wieder über beide Wangen.
„Wo habt ihr denn den Tee, Patrick?“, unterbrach Fiona Patricks Gedankenspiele. „Ich finde ihn nicht.“
„Moment“, Patrick stand auf. „Ich zeig es dir.“ Seine Stimme krächzte immer noch. Er spürte ein Verlangen aufzustehen, doch in Wahrheit blieb er sitzen und schloss die Augen.
„Nein, bleib du sitzen, erklär es mir einfach.“
„Oben im zweiten Schrank von rechts.“
Es war kurios, dass in diesem Moment der Trauer, Patrick nicht unbedingt Wut auf die wahren Täter oder die Vorgängertäter hatte. Patrick konzentrierte immer mehr seine gesamte Wut auf seinen Vater. Er musste daran denken, dass er und sein Vater immer zum Angeln auf den Neagh raus gefahren sind. Sein Vater erzählte ihm dabei immer denselben Anglerwitz, über den Patrick auch jedes Mal lachte. Doch heute lachte er nicht. Und dann kam dieser Tag, an dem sich sein Vater ihm offenbarte - nach dem heutigen Tag wohl der schrecklichste Tag in seinem Leben. „Junge“, hatte er gesagt. „Manchmal muss man Dinge tun, die andere so leicht nicht verstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen uns das nehmen, was uns gehört. Es ist unser Besitz.“ Patrick verspürte noch nie so einen Hass auf diese Worte wie heute. Warum musste er das tun?
Doch wie aus dem Nichts drehte sich sein Gefühlskarussell und ihm fehlte auf einen Schlag sein Vater. „Wo bist du?“, dachte er sich. Er musste an seinen Traum denken und wie er krampfhaft versuchte, seinen Vater zu erreichen. Und nie hatte er es so verlangt, jemanden zu umarmen, wie zu diesem Augenblick.
Fiona unterbrach ihn nochmals, indem sie sich mit zwei Tassen neben ihn setzte.
„Danke“, sagte Patrick mit leiser Stimme, während er immer noch auf den Fernseher starrte. Sein nichts sagender Gesichtsausdruck beunruhigte das Mädchen. Sie rückte näher an Patrick.
„Kein Problem, mach ich gerne!“
„Nein, im Ernst. Ich find das toll, dass du bei mir bleibst.“ Ein gequältes Lächeln, das aber nicht von langer Dauer war, zauberte sich auf Patricks Gesicht.
„Und ich mein das ernst, dass ich das gerne mache.“
Sein Blick haftete auf Fiona. Sie jedoch unternahm keinen Versuch, sich vom Fernsehgerät abzuwenden. Erst als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, bekam sie das Bedürfnis, auch ihn anzuschauen. Doch, als sie dann endlich ihren Blick auf ihn richtete, starrte er schon längst wieder teilnahmslos au den Bildschirm. In der einen Hand das Kissen, das er nicht loslassen wollte, in der anderen Hand die Fernbedienung, mit der er plötzlich begann durch die Kanäle zu schalten.
Vorsichtig lehnte Fiona ihren Kopf an seine Schulter.
„Es ist okay!“, hauchte sie und verfluchte sich selbst im gleichen Augenblick. Gar nichts war okay. In Belfast tobte Krieg und einer ihrer besten Freunde aus der Schulzeit hatte seine Mutter verloren. Und das, nachdem sein Vater schon an diesem endlosen Krieg zu Grunde gegangen und später gestorben war.
Fiona hatte das ganze Elend, das in Patricks Familie in Craigavon herrschte, miterlebt. Sein Vater war die letzten Monate vor seinem Tod gar nicht mehr zu Hause gewesen, er musste sich vor IRA, Polizei und britischem Militär verstecken. Wie eine Erleichterung war es über Patrick und Deidre hereingebrochen, als seine Leiche gefunden wurde. Dennoch bemerkte sie damals bei Patrick eine schlagartige Änderung, die sie auch nachvollziehen konnte. Er hatte für einige Zeit sein Lachen verloren. Mit ihren Versuchen, witzig zu sein, konnte sie ihn nur langsam wieder zum Lachen bewegen. Und dann zogen Deidre und Patrick nach Cromac. Fiona wusste, dass sie irgendwie versuchen sollte, etwas zu sagen, um die Bedeutung ihrer letzten Worte zu nehmen.
„Es ist verrückt!“ Doch Patrick schien die letzten Worte Fionas, bewusst oder unbewusst, überhört zu haben. „Ich werde wohl nun meinen Freund verraten müssen.“
Er blickte in Fionas fragendes Gesicht.
„Keine Angst, ich hab nichts damit zu tun.“
Doch Fionas Verwirrung war durch diese lose Auskunft nicht gebrochen. Im Gegenteil sie wurde stärker.
„Patrick“, begann sie vorsichtig. „Ich versteh nicht...“
„Ich habe keine Bombe gelegt. Doch, die, die das taten, waren mal meine Freunde.“ In seiner Pause war es totenstill im Raum. „Und sie erpressten mich, nichts an die Polizei zu verraten. Jetzt, wo Mutter tot ist, habe ich eh nichts mehr, was mich hier draußen halten könnte. Ich sitze die Jahre im Gefängnis ab.“
Fiona schaute betroffen zu Boden.
„Du hast wahrscheinlich Recht.“, meinte sie mehr zu sich selbst, als zu ihrem Gesprächspartner.
„Aber es waren meine Freunde. Und irgendwie haben sie ja Recht.“ Fiona schaute erschrocken auf.
„Das Recht, ein Krankenhaus zu sprengen?“
„Nein, das natürlich nicht. Es ist nur die Wut, die sich über Jahre festgesetzt hat. Weißt du, wenn du von kleinauf auf der Straße sitzen musst, wenn sich die Reichen einen Dreck um dich scheren, wenn du dir anhören musst, dass du nichts taugst und wenn du mit ansehen musst, wie Loyalisten Kinder erschlagen, dann baut sich eben eine Wut auf, die sich schwer kontrollieren lässt.“
Fiona sah ihn erstaunt an.
„Es geht um unschuldige Menschenleben. Wer bist du, dass du darüber entscheiden kannst, wer wofür verantwortlich ist.“
„Und was ist mit unserem Leben, Fiona? Wer entscheidet darüber, dass unser Leben weniger wert ist, als das der Loyalisten?“
„Sie dürfen das auch nicht. Aber, wenn du sie mit den gleichen Waffen schlägst, bist du keinen Deut besser.“
„Auge um Auge, Zahn um Zahn!“
Fiona holte tief Luft, bevor sie antwortete:
„Auch Gott irrt manchmal. Zum Beispiel irrte er auch darin, dass er deine Mutter zu früh zu sich holte. Denk daran, was deine sogenannten Freunde in die Luft sprengten: Ein Krankenhaus!“
Patrick schaute auf.
„Du hast Recht. Ich werde morgen zur Polizei gehen. Ich weiß nicht, was gerade mit mir los war.“
Fiona nahm ihn in den Arm.
„Es ist eine schwierige Situation für dich. Ich kann dich verstehen. Du schwankst zwischen Hass und zwischen den Parteien. Doch nicht immer hat eine der beiden Parteien Recht. Und in Irland gibt es eben nicht nur schwarz und weiß. Bloß, weil der eine meint, für eine gute Sache zu kämpfen, macht er es längst noch nicht richtig.“
Patrick vernahm nur noch leise den Fernseher. Er schien in eine Art Trance-Zustand zu fallen und schloss die Augen. Er sah seinen Vater, wie er ihm gegenüberstand und ihn wie in seinem Traum rief.
„Hörst du ihn auch?“, flüsterte er.
Doch Fiona antwortete nicht. Sie selbst war in ihre eigenen Gedanken verwickelt.
Es dauerte nicht lange, bis die Türglocke sie aus ihrem Zustand befreite. Als Patrick die Tür öffnete, blickte ihm das betretene Gesicht Ronans entgegen. Überraschung und Wut breitete sich gleichzeitig in ihm aus. Bevor Ronan merkte, was vor sich ging, lag er schon auf der Straße – von Patrick ins Gesicht getroffen.
„Hör auf, das bringt doch nichts!“, meldete sich Fiona zu Wort.
Ronan lag auf der Straße, röchelte und brauchte einen Moment, bis er seine Gedanken wieder geordnet hatte. Er fasste sich an das Auge, merkte aber sofort, dass es bald von einem dicken Bluterguss verziert werden sollte. Reflexartig zog er sie zurück.
„Hör auf sie, wer das auch immer ist!“
Fiona half Ronan auf die Füße und bat ihn sogar ins Haus, was Patrick jedoch nicht verstand.
„Was machst du denn?“
Doch Fiona schien nicht auf Patrick hören zu wollen. Einzig seine Wut war es, die ihn lähmte, mehr unternehmen zu können.
Fiona und Ronan saßen am Küchentisch, während Patrick mit wütendem Blick hin und her ging. Ronans blaues Auge wurde immer dunkler und schwoll an. Mit einem Eisbeutel versuchte Fiona den aufkommenden Bluterguss zu behandeln.
„Fiona, warum tust du das?“, schrie Patrick und wollte auf seinen Peiniger losgehen, doch ein ruhiger Blick und die ruhige Hand Fionas an seiner Brust hielten ihn ab. Nur Fiona war es, die den Blick für das Wesentliche und die Kontrolle über die Situation behielt. Sie deutete Patrick zur Tür hinaus, damit Ronan ihr Gespräch nicht hören konnte.
„Hier kannst du versuchen, ihn zu überzeugen, dass er das Falsche tut.“
Patrick war längst noch nicht überzeugt.
„Fiona, er hat meine Mutter…“
„Ich weiß, Patrick.“
Wütend schaute er in die braunen Augen Fionas. Wie konnte sie angesichts der Tatsache, dass er alles verloren hatte, nur so ruhig bleiben. Sein wütender Blick schien sich ein Waffe herbei zu sehnen. Doch an seine solche konnte er im Moment nicht kommen. Wenn sein Vater noch leben würde, wäre es ein Leichtes gewesen… Er verwarf den Gedanken von selbst wieder und zog sich seinen Mantel an, schlüpfte in seine Schuhe, um wütend aus dem Haus zu verschwinden. Wortlos blieb Fiona stehen.
„Patrick, ich bin nicht Schuld daran“, rief Ronan ihm hinterher, doch Patrick war schon verschwunden. Fiona blieb einen Moment stehen, bevor sie sich wieder um das Auge Ronan kümmern wollte.
„Lässt du ihn gehen?“, fragte Ronan verdutzt.
„Aus welchem Grund sollte ich ihn aufhalten?“
„Er könnte eine Dummheit begehen.“
Doch Fiona behielt ihre ruhige Art bei und kümmerte sich weiter um das Auge Ronans.
„Welche Dummheit?“
„Nun ja, weißt du, ich kenne Patrick. Er macht viel Mist, wenn er schlecht drauf ist.“ Er hielt kurz inne. „Mein Gott, wir waren tatsächlich mal klasse Freunde.“
„Vielleicht hättest du seine Mutter nicht umbringen sollen.“
Sie drückte absichtlich kurz ein wenig fester auf das blaue Auge Ronans.
„Autsch!“ Er merkte, wie es ihm schlecht wurde, doch die Aussage Fionas überhörte er. „Ich werde nie vergessen, wie wir vor einem halben Jahr zusammen für ein paar Tage ausgerissen sind, um Irland, unser Irland, zu erkunden. Es war toll, als wir dort waren, um die Freundlichkeit der Menschen kennen zu lernen. Fünf Tage haben wir nur durch gesoffen.“ Wieder hielt er inne. Er lächelte kurz, doch Fiona entging auch nicht, dass sich in seinem gesunden Auge eine Träne gebildet hatte. „Weißt du, wenn du einen waschechten Iren richtig kennen lernen willst, dann sauf eine Nacht mit ihm durch. Am nächsten Morgen seid ihr die besten Freunde. Und Patrick und ich sind schon als gute Freunde los gezogen. Kannst du dir vorstellen, wie wir zurückkamen? Wir waren wie Brüder.“
Wieder behandelte Fiona Ronans Auge ein wenig fester.
„Autsch! Aber das kennt wahrscheinlich jeder Ire – du dann wohl auch.“
Nun war es Fiona, die kurz inne hielt. Sie überlegte sich kurz, ob sie es sagen sollte.
„Ich bin nur eine Halb-Irin!“ Sie tat es.
Ronan schaute sie an.
„Was?“
„Meine Großeltern waren Engländer und sind hier eingewandert. Damals war mein Vater noch ein Kind. Den Namen habe ich von meiner Mutter, die eine Irin ist.“
Ronan sagte nichts mehr. Ruhig blieb er sitzen und starrte mit entsetztem Blick auf Fiona. Sie wusste, dass sie gerade eine Menge Salz in Ronans Wunden geschüttet hatte. Sie spürte auch seinen Hass, wusste aber, dass er sie nicht töten würde. Angesicht zu Angesicht einen Menschen zu töten, ist nicht die Art eines IRA-Aktivisten. Ronan sprang plötzlich auf und verließ wortlos das Haus. Fiona folgte ihm wenige Sekunden darauf.
Patrick saß alleine an der Theke des Pubs, als Ronan hereinstürmte. Er setzte sich neben ihn, doch Patrick schien das gar nicht wahr zu nehmen. Fünf Whiskey-Gläser standen vor ihm aufgereiht und er fixierte mit glasigem Blick einen Punkt am Getränkeschrank.
„Weißt du, wer deine Freundin wirklich ist?“
Langsam drehte sich Patrick zu Ronan und schaute ihn mit einem durchdringenden Blick an.
„Fuck Off, Ronan. Du hast jetzt schon zu viel gesagt!“
„Ich bin nicht schuld am Tod deiner Mutter. Glaub es mir endlich.“
Ihn traf ein harter Schlag auf den Hinterkopf.
„Halt endlich die Schnauze!“
Erst jetzt betrat Fiona die Kneipe und betrachtete die Szenerie aus größerer Entfernung. Obwohl außer ihnen niemand in der Kneipe war, bemerkten die zwei jungen Männer Fiona zunächst nicht.
„Die waren das!“, begann Ronan wieder. „Hast du nicht die Nachrichten gesehen. Diese Protestantenschweine waren das! Und deine Freundin ist eine von denen!“
Ein müdes Lächeln war nun in Patricks Gesicht zu sehen.
„Wer hat die erste Bombe gelegt?“
Ronan besann sich für einen Moment.
„Nicht diejenigen, die deine Eltern getötet haben.“
Eine angespannte Ruhe breitete sich aus. Patrick wollte nichts sagen, Ronan formulierte noch seinen Text und im Hintergrund begann das bekannte irische Volkslied „Bloody Wedding“. Seltsam, dachte Patrick. Welche Ironie doch im Titel dieses Liedes liegt. Will nicht die eine Partei eine blutige, erzwungene Hochzeit?
„Patrick“, begann Ronan nochmals. „Wir brauchen dich!“
Er schaute mit roten Augen auf.
„Falsch, ihr braucht mein Geld! Aber es ist mir egal, wenn ich selbst in den Bau gehe. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich werde nicht den Fehler wiederholen, den meine Mutter bei meinem Vater gemacht hatte.“
„Sie sind beide tot, Patrick. Von diesen Engländern umgebracht.“ Er überließ einen Moment Patrick seinen eigenen Gedanken. „Wir sind Iren und eines kann uns keiner nehmen: unseren Stolz. Sie haben unsere Heimat bekommen, aber jetzt, durch ihre andauernden Unterdrückungen, versuchen sie, uns sogar auch noch unseren Stolz zu nehmen. Denk an Sean, wie sie seinen Stolz gebrochen haben, denk an den Stolz deiner Mutter, deines Vaters und denk auch an deine Großeltern. Fuck, Patrick, denk an meinen Bruder, dem mehr als nur sein Stolz genommen wurde, als er sechzehn Jahre alt war. Das lass ich nicht zu, Patrick! Weißt du, manchmal muss man Dinge tun, die andere so leicht nicht verstehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen uns das nehmen, was uns gehört. Es ist unser Besitz.“
Patrick schaute kurz auf, als er diese Worte hörte. Sollte Ronan seinen Vater gekannt haben? Er verwarf den Gedanken wieder.
„Auch aus dem Gefängnis werde ich wieder kommen, um unseren Feldzug weiter zu führen. Und wenn nicht ich, dann andere. Der Krieg wird weitergehen!“
Patrick war stärker als sein Vater, der nach diesen Worten wohl eingebrochen war und sich dem Terrorismus ergeben hatte. Patrick hatte beschlossen, diesen Weg nicht zu gehen und er wollte diese Standhaftigkeit beibehalten. Er wusste, dass er stärker als sein Vater war. Und er hatte es nach dessen Tod auch seiner Mutter versprochen.
Doch in diesem Augenblick dachte er an sein Geschichtslehrer und sein Hobby: Katholischen Schülern das Leben schwer machen. Und er dachte an Sean, wie er damals im Krankenhaus lag, mit gebrochener Nase und blauen Augen. Er dachte an seine Mutter und Hass baute sich auf. Patricks Gedanken folgten dem Pfad weiter, an dessen Ende sein Vater stand. Wie er wieder seinen Namen und mit dem Finger auf seinen Sohn zeigte.
„Wir können es schaffen“, fuhr Ronan fort. „Wir müssen nur fest daran glauben, dass wir es schaffen können. Irgendwann wird Irland wieder eins sein, dann werden die Engländer vertrieben worden sein und wir werden unser Leben führen können, ohne von England unterdrückt zu werden. Halte dir das vor Augen: ein Irland.“ Ein Moment der Stille gab sich Ronan, als wollte er das irische Volkslied zur Untermalung seiner Argumente nutzen. „Stell dir vor, wie wir ohne Passkontrolle von Belfast nach Dublin und zurück fahren können.“
Sie grinsten beide bei dem Gedanken an ihre gemeinsame Tour durch Irland. Patrick aber blieb weiter still, was Ronan bestärkte.
„Denk dran, was die mit deinen Eltern angestellt haben. Da kann niemand von uns was dafür. Daran sind nur die Unionisten und Loyalisten und das ganze Pack Schuld.“
Das Licht spiegelte sich in Patricks Augen – ein Zeichen dafür, dass er gegen die Tränen kämpfte. Er blickte sich Hilfe suchend um und erkannte Fiona in einem Winkel der Bar. Sie las aus seinem Blick den Hilferuf, doch es lag nun an ihm. Ronan bemerkte nun auch Fiona.
„Hast du ihr auch von deinen Großeltern erzählt, die im Bürgerkrieg gefallen sind? Ihre Großeltern haben deine getötet. Vordergründig wird sie mit dir getrauert haben, hintergründig lacht sie doch über dich. Glaub es mir, wir haben alle einen Grund, sie und alle anderen Engländer zu hassen. Denk dran, wir sind Iren.“
Patrick zeigte nicht die von Ronan erwartete Reaktion, sondern blieb weiter ruhig sitzen.
„Naja, gehen wir in den Bau. Lassen wir uns und die Bevölkerung weiter unterdrücken von Menschen, die wir nicht selbst gewählt haben. Patrick“, noch mal hielt er inne, um seine Worte so zu formulieren, dass sie die benötigte Bedeutung haben werden. „Es ist mir egal, ob ich den Bau gehe. Ich werde weiterkämpfen, meinen Stolz werden sie mir nicht nehmen. Ich bin und bleib Ire – so wie es mein Vater und auch dein Vater waren.“
Wieder schaute Patrick auf. Das Licht spiegelte sich in seinen Augen, als er Fiona fragend ansah. Sie spürte seine Stärke. Sie wusste, dass er durchhalten konnte. Er war stärker als sein Vater. Doch Patrick dachte gerade an den Witz seines Vaters, an die Angelausflüge, er sah das Gesicht seiner Mutter. Er dachte an seinen ersten Rausch mit Fiona, seine Trinkgelage mit Ronan, versuchte seine Gedanken zu verdrängen, fand dabei aber einen blutenden Sean in der Gasse.
„Werd du nur zum Verräter, wenn du dann meinst, du hättest dann besonders große Chancen.“
Ronan stand auf, ließ Patrick alleine mit Fiona an der Bar und verließ die Kneipe.
„Lass ihn reden, Patrick! Wir gehen morgen zur Polizei...“
„Du kannst das nicht tun“, unterbrach Patrick sie wieder. Er stand auf, spürte den Schmerz der Schläge und sah in die toten Augen Deidres, wie sie ihn anstarrten und das Blut aus dem Kopf schon zu gerinnen begann. Dann sah er die schnelle Beerdigung seines Vaters aus einem Gebüsch heraus – unehrenhaft und unmoralisch.
„Was sagst du da? Warum nicht?“, unterbrach ihn eine verwirrte Fiona.
„Ich bin gleich zurück, Fiona. Warte auf mich!“
Fiona verstand das nicht.
„Was hast du vor, Patrick?“
Er hauchte ihr ein Küsschen auf die Wange und verließ schnellen Schrittes die Kneipe. Fiona blieb einen Moment stehen und dachte kurz darüber nach. Plötzlich verließ auch sie panikartig die Kneipe. Doch als sie aus der Tür trat, war Patrick schon außer Sichtweite.
Es ist wie ein Trance-Zustand, vor diesem Gebäude zu sitzen, die lodernden Flammen zu genießen und zu wissen, wessen Werk es ist. Diese panischen Menschen, die diesen Hass verspüren, haben doch keine Ahnung, warum alles so ist, warum der Mensch so etwas tut und warum wir damit nicht aufhören können. Es ist befriedigend, etwas für die Sache getan zu haben, befriedigender als der schönste Sex der Welt sein kann. Es ist dieses Gefühl der absoluten Freiheit, niemandem untergeben zu sein, für seinen Frieden selbst sorgen zu können und zu wissen, wie viele Menschen schon für die Sache gestorben sind.
In gewisser Hinsicht bin ich kindisch, aber ich liebe es einfach, die Wärme der Flammen zu spüren. Zwei Minuten bleibe ich noch, vielleicht auch eine, vielleicht auch drei – spätestens, wenn die Sirenen heulen, bin ich weg. Und das Spiel beginnt wieder von vorn.